Der Liberalismus ist tot, es lebe der Liberalismus
Der Liberalismus ist eine historische Erfolgsgeschichte. Aber er scheint keine Antworten auf Abstiegsängste und wachsende Ungleichheit zu finden. Ralf Fücks plädiert für eine liberale Fortschrittserzählung, die mehr ist als die Verteidigung des Status quo.
Der Liberalismus sitzt in der Tinte. Weltweit sind antiliberale Gegenbewegungen auf dem Vormarsch. In immer mehr Ländern kommen autoritäre Populisten an die Macht. In Deutschland gibt es eine tiefsitzende antiliberale Tradition rechts wie links. Wenn Christian Lindner vom politischen Liberalismus spricht, klingt das nach einer kleinen trotzigen Minderheit, wenn die anderen über die FDP sprechen, nach Franz Josef Degenhardt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder.
Dabei verdanken wir dem Liberalismus einen Gutteil der Errungenschaften der modernen Welt – die unveräußerlichen Menschenrechte und das Recht auf individuelle Selbstbestimmung ebenso wie die Fundamente der demokratischen Republik: Regierung durch das Volk und für das Volk, freie Wahlen, Herrschaft des Rechts, Schutz von Minderheiten, Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit und eine dynamische Wirtschaft, die auf Unternehmertum, Wettbewerb und offene Märkte aufgebaut ist.
Die Kombination liberaler politischer Systeme und kapitalistischer Marktwirtschaft hat ein nie gekanntes Maß an Rechtssicherheit, individueller Freiheit und Wohlstand hervorgebracht. Bei Licht betrachtet ist der Liberalismus eine historische Erfolgsgeschichte. Wie konnte er so in Verruf geraten?
Finanzmärkte und Klimapolitik: Der Liberalismus schuldet Antworten
Der Verweis auf den Neoliberalismus ist schnell bei der Hand. Obwohl er ganz andere historische Wurzeln hat, wird er inzwischen mit Marktradikalismus gleichgesetzt. Tatsächlich hat das Mantra aus Deregulierung, Privatisierung und rigider Haushaltspolitik die öffentlichen Institutionen geschwächt.
Die Deregulierung der Finanzmärkte hat zur großen Krise von 2007/2008 beigetragen und die Globalisierung in Misskredit gebracht. Der wachsende Niedriglohnsektor, prekäre Arbeitsverhältnisse, die krasse Ungleichheit der Vermögen und die organisierte Steuervermeidung internationaler Konzerne haben ein Grundrauschen erzeugt, dass es nicht mehr gerecht zugeht. Der Liberalismus scheint blind für die soziale Frage. Er hält es mit den Erfolgreichen, nicht mit den Verlierern. Nicht von ungefähr haftet das Brandmal einer „Partei der Besserverdienenden“ der FDP immer noch an.
Auch auf die Gefährdung der Ökosysteme, von denen die menschliche Zivilisation abhängt – Klima, Böden, Meere -, gibt es bisher wenig überzeugende Antworten von liberaler Seite. Die Warnung vor einem ökologischen Gouvernantenstaat ist berechtigt. Sie verliert aber an Kredit, wenn sie die Dringlichkeit der ökologischen Wende herunterspielt. Wie eine liberale Ökologiepolitik aussieht, die Klimaschutz mit Marktwirtschaft, Innovation und Konsumfreiheit in Einklang bringt, ist nicht ausbuchstabiert.
Es gibt noch tieferliegende Ursachen für die Defensive freiheitlicher Politik. Der klassische Liberalismus vermeidet die Frage, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt jenseits der unsichtbaren Hand des Marktes gesichert werden kann. Begriffe wie Solidarität oder Gemeinschaft stehen unter Kollektivismus-Verdacht. Sie sind ihm ebenso suspekt wie ein allgegenwärtiger fürsorglicher Staat. Umverteilung gilt vielen Liberalen als Teufelszeug, ein Verstoß gegen reine Lehre der Marktwirtschaft.
Die Vordenker des Liberalismus verzichten bewusst auf große Zukunftsentwürfe. Ihr Ziel ist es, die Zukunft offen zu halten – sie entsteht aus dem freien Spiel der Kräfte, aus der Summe individueller Entscheidungen einer Vielzahl von Akteuren. Liberale Politik ist Versuch und Irrtum, Reform statt Revolution, leiser Zweifel statt lauter Gewissheit, Wettbewerb um die beste Lösung statt Verkündung großer Ideen, nach denen die Zukunft eingerichtet werden soll. Das ist klug und human.
Bloßer Pragmatismus greift aber zu kurz. In Zeiten um sich greifender Verunsicherung kommt es entscheidend auf Zukunftskompetenz an: Wem traut man zu, die Herausforderungen von Globalisierung und digitaler Revolution, Klimawandel und weltweiter Migration am besten zu bewältigen?
Wer Sicherheit vernachlässigt, schürt Populismus
Die Populisten von links und von rechts mobilisieren starke Gefühle: Furcht, Hass, Stolz, Nationalismus. Dagegen erscheinen die Verfechter der liberalen Demokratie oft blass. „Verfassungspatriotismus“ ist eine gute Idee, bleibt aber ein abstraktes Konstrukt. Die demokratische Republik ist mehr als die Summe ihrer Institutionen.
Sie beruht auf dem gemeinsamen Handeln ihrer Bürger, auf der Verständigung über gemeinsame Ziele. Das geht nicht ohne eine Vorstellung von der Zukunft, wie sie sein soll. Zukunftsangst ist der mentale Resonanzboden der Autoritären. Es braucht die Zuversicht, dass wir die Zukunft zum Besseren gestalten können, statt sie als bloßes Verhängnis zu sehen, das über uns hinwegrollt.
In einer Zeit stürmischer Veränderungen wächst das Bedürfnis nach Sicherheit und Solidarität, nach Rückversicherung in der Gemeinschaft. Die Nationalisten versprechen soziale und emotionale Sicherheit durch Rückzug in den Nationalstaat und in die Volksgemeinschaft als Bollwerk gegen die Stürme da draußen.
Der Liberalismus wird nur aus der Defensive kommen, wenn wir die konservativen Bedürfnisse nach Sicherheit und Zugehörigkeit aufgreifen und freiheitliche Antworten auf sie finden. Wenn Emmanuel Macron von einem „Europa, das schützt“ spricht, trifft er einen Nerv.
Die ökonomische Globalisierung erfordert einen sozialen und ökologischen Ordnungsrahmen. Globale Migration muss reguliert werden. Die Offenheit für technische Innovation braucht ein Mindestmaß an individueller Befähigung, um mit neuen Technologien Schritt zu halten, und von sozialer Absicherung, um disruptive Veränderungen aufzufangen.
Die Mutter aller Freiheiten ist die Freiheit von Furcht. Wer Angst hat, sozial abzustürzen, ist nicht frei. Zu gelebter Freiheit gehört auch, sich angstfrei im öffentlichen Raum zu bewegen. Wer die öffentliche Sicherheit und Ordnung vernachlässigt, bereitet den Boden für autoritäre Populisten.
Liberalismus muss zwischen Gegensätzen vermitteln
Es reicht nicht aus, die Liebe zur Freiheit und die Verteidigung liberaler Werte zu beschwören. Ein moderner Liberalismus muss scheinbare Gegensätze vermitteln: Freiheit und Sicherheit, Individualität und Solidarität, Vielfalt und Gemeinsamkeit, Kosmopolitismus und Patriotismus, wirtschaftliche Dynamik und ökologische Verantwortung. Er muss sich aus der schlichten Entgegensetzung von Markt und Staat befreien und die Bedeutung öffentlicher Institutionen für die gleiche Freiheit aller würdigen.
Märkte sind an Voraussetzungen gebunden, die sie nicht aus sich selbst heraus erzeugen können: Rechtssicherheit, sozialer Frieden, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, eine funktionierende Wettbewerbsordnung, ein leistungsfähiges Wissenschafts- und Bildungssystem, eine moderne Infrastruktur. Das alles gibt es nicht kostenlos. „Je weniger Staat, desto besser“ ist ebenso irreführend wie sein Gegenteil.
Kurz und gut: Wir brauchen eine zeitgenössische Erneuerung des Liberalismus, die Freiheit und Sicherheit unter einen Hut bringt. Wir müssen das liberale Versprechen auf Chancengerechtigkeit und sozialen Aufstieg einlösen und eine neue Idee von Fortschritt entwickeln, die nicht bloß das Bestehende fortschreibt. Das Vertrauen, dass freiheitliche Demokratien auf Dauer auch wirtschaftlich erfolgreicher, innovativer und gerechter sind, steht auf der Kippe. Wir müssen jetzt liefern.
Der Text erschien am 1. November 2018 unter dem Titel „Es lebe der Liberalismus!“ in der Tageszeitung „Die Welt“.
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