Raketenvertrag INF: Nicht kündigen, sondern seine Einhaltung durchsetzen
Die Debatte um die angekündigte Aufkündigung des INF-Vertrags zum Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen ist schon wieder abgeebbt. Sie bleibt aber eine zentrale Frage für die europäische Sicherheit. So verkehrt die Kündigung des Vertrags wäre: Die US-Administration hat gute Gründe, nicht länger zu tolerieren, wie der Kreml den Vertrag unterläuft, schreibt unser Autor. Jetzt sei es höchste Zeit für eine europäische Initiative zur Klärung des Disputs und zur Fortschreibung der atomaren Rüstungskontrolle.
Als die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten 1987 den Vertrag über Intermediate Range Nuclear Forces (INF) unterschrieben, setzten sie einer der letzten großen Debatten des Kalten Krieges ein Ende: der Frage, ob Atomwaffen mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) die Stabilität in Europa unterminieren. Für Ronald Reagan und seine europäischen NATO-Verbündeten bestand die Sorge, dass die sowjetischen Mittelstreckenraketen (vor allem die RSD-10 Pionier, im Westen bekannt als SS-20) im Konfliktfall dazu eingesetzt würden, um mit gezielten Drohungen einzelne europäische Staaten aus der Allianz zu treiben. Mit der „Pionier“ konnte die Sowjetunion jedes europäische Land vernichten, gleichzeitig bedrohten die Raketen aber nicht das US Festland. Damit war die Unteilbarkeit der Sicherheit innerhalb des Bündnisses in Frage gestellt. Diese Sorge, die vor allem durch die deutschen Kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl in Washington vorgetragen wurde, sah Reagan als ernst und begründet an – obwohl die strategische Kohäsion der NATO damals weit höher und die subversiven Einflussmöglichkeiten der Sowjetunion auf die europäischen Wahlöffentlichkeiten weit geringer waren als heute.
Die Sowjetunion ihrerseits war besorgt, die Stationierung amerikanischer „Pershing 2“-Raketen in Europa würde die NATO in die Lage versetzen, einen entwaffnenden Erstschlag gegen die Sowjetunion mit geringer Vorwarnzeit zu führen. Die „Pershing 2“ hatte einen gelenkten Wiedereintrittskörper, der der Rakete eine bis dahin unerreichte Präzision gab. Die vergleichsweise flache Flugbahn reduzierte die Vorwarnzeit. Allerdings übertrieben der russische Militärnachrichtendienst GRU wie auch der KGB ihre Bedrohungsanalysen in geradezu grotesken Zügen. Der „Pershing 2“ wurden fast übernatürliche Fähigkeiten unterstellt, der NATO wurden Pläne für einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion zugeschrieben.
Dass man nach dem Kalten Krieg in Moskau feststellen musste, sich in der Kriegslüsternheit der NATO getäuscht zu haben, hat zu einer Neubewertung der Lage geführt. Bereits in den 1990er Jahren waren weite Kreise des russischen Militärs der Ansicht, dass der INF-Vertrag zum einseitigen Nachteil Russlands sei. Diese Haltung hat sich seit der Machtergreifung Putins verfestigt. Aus der Sicht seiner Kameraden waren die Verträge, die den Kalten Krieg beendeten – der INF-Vertrag, der KSE-Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa und die Charta von Paris – für den Zerfall der Sowjetunion mitverantwortlich. Seit 2007 drohte Putin mehrmals, den INF-Vertrag zu kündigen. Aus dem KSE-Vertrag hat sich Russland bereits zurückgezogen, gegen die Charta von Paris wie auch den INF-Vertrag wird massiv verstoßen.
Der Kreml hätte seine Vorwürfe überprüfen können – hätte er sie denn ernst genommen
Bereits die Obama-Administration beschuldigte Russland, den INF-Vertrag zu verletzen. Das erste verdächtige Objekt war die seit 2011 getestete zweistufige ballistische Rakete RS-26 Rubesh. Wie die RSD-10 seinerzeit eine zweistufige Variante einer ursprünglich dreistufigen Interkontinentalrakete war (durch das Weglassen der dritten Stufe halbierte sich die Reichweite), ist die Rubesh eine zweistufige Variante aus der Topol/Yars-Familie. Ihre Reichweite ist offiziell nicht bekannt, dürfte aber nur knapp über der 5500-Kilometer-Grenze liegen.
Darüberhinaus ist das russische Iskander-System sowohl zur Aufnahme von ballistischen Raketen als auch zur Aufnahme von Startrohren für Marschflugkörper der Kalibr-Familie geeignet. Die 2017 offiziell eingeführten Systeme mit der Bezeichnung 9M728 sollen nach offiziellen Angaben nur Flugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometer aufnehmen. Äußerlich vollkommen identisch ist allerdings jene als 9M729 bezeichnete Version, aus der sich Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometer verschießen lassen, dessen Erprobung seit 2014 läuft. Seitens der USA – sowohl von Seiten der Obama- als auch der Trump-Administration – wurde hierzu auf Aufklärung gedrängt. Russland müsse in dieser Frage Transparenz schaffen und alle Systeme vom Typ 9M729 gemäß dem INF-Vertrag nachvollziehbar vernichten. Der Verifikationsmechanismus des INF lief 2001 aus, seine Wiederherstellung wurde aber von vielen Rüstungskontrollexperten als Ausweg aus der Krise gesehen.
Moskau blieb jedoch hart, stritt alle Anschuldigungen stets ab, lehnte jede Form der Verifikation oder Offenlegung der eigenen Kapazitäten ab und konterte seinerseits mit konstruierten Anschuldigungen Richtung Washington. Der Kreml warf den USA seinerseits die Verletzung des INF-Vertrages vor. Zum einen verfüge Washington über bewaffnete Drohnen mit Reichweiten über 500 Kilometer. Bewaffnete Drohnen stellen aber ferngelenkte Kampfflugzeuge dar, fallen also nicht unter den INF‑, sondern unter den KSE-Vertrag, so sie in Europa stationiert sind. Außerdem wirft Russland den USA vor, von stationären Raketenabwehrbasen in Polen und Rumänien auch Marschflugköper verschießen zu können. Allerdings kann man durch Inspektionen in der stationären Anlage leicht feststellen, welcher Typ von Startkanister mit welchem Flugkörper geladen ist. Entsprechende Inspektionsrechte wurden der Russischen Föderation seit 2009 mehrmals angeboten und von Moskau immer als unzureichend abgelehnt. Aus militärischer Sicht ist eine Stationierung solcher Waffen auch wenig sinnvoll: die Startrampen sind stationär, der Ort bekannt, und die USA verfügen seit 2011 nicht mehr über nuklear bestückte Tomahawk-Marschflugkörper. Moskau hätte seine eigenen Vorwürfe – hätte es sie denn ernst genommen – relativ einfach überprüfen und aus der Welt schaffen können.
China bedroht Taiwan und Japan aus der Tiefe des Hinterlands
Moskau sah sich hier auch nicht unter Zugzwang: es hatte Mittelstreckensysteme, der Westen nicht. Wenn es also seinen Vorteil aufgeben sollte, dann nur für weitreichendere Zugeständnisse als einen Rüstungskontrollvertrag, den man schon seit den 1990ern ablehnte. Russland begann den INF bereits vor Jahren zu unterlaufen, indem es die besagten Kalibr-NK-Marschflugkörper, die aus dem System 9M729 verschossen werden, auf kleinen U‑Booten und Korvetten zu stationieren begann. Diese können aus unmittelbaren Küstengewässern der Ostsee, des Kaspischen oder Schwarzen Meeres, zum Teil auch aus dem weitläufigen Netz von Binnenwasserstraßen ganz Westeuropa bis Paris mit Atomwaffen bedrohen. Nach einer Kündigung des INF-Vertrages kann man die weite Landmasse Russlands ungeniert zur Stationierung solcher Waffen nutzen. Landgestütze Systeme wären im Kriegsfall viel schwieriger auszumachen als luft- und seegestützte Systeme. Russland kann also aus einer sehr starken Position jedes europäische Land nuklear erpressen, ohne gleichzeitig die USA zu bedrohen. Ob in einem solchen Fall die USA bereit wären, mit dem Einsatz strategischer Atomwaffen zu drohen und damit ihre eigene Existenz für einen europäischen Verbündeten in die Waagschale zu werfen, ist in Zeiten von „America First“ stärker anzuzweifeln als zu Zeiten Carters oder Reagans.
Aus diesem Grund versuchte Washington, den Druck auf Russland zu erhöhen. Man beschloss unter Einhaltung des INF-Vertrages, neue see- und luftgestützte Systeme zu entwickeln, beschloss aber, diese bei anhaltender Weigerung Moskaus, über mögliche INF-Verletzungen Klarheit zu schaffen, auch für den landgestützten Einsatz zu adaptieren. Dieser von moderaten Kräften in der Trump-Administration – vor allem dem damaligen nationalen Sicherheitsberater Herbert Raymond McMaster – vorgezeichnete Weg würde am INF-Vertrag festhalten – vor allem da neue US-Systeme nicht vor 2030 serienreif sein würden und daher eine Vertragskündigung durch die USA wenig Vorteile brächte.
Nun scheinen Präsident Trump und sein neuer nationaler Sicherheitsberater John Bolton davon überzeugt zu sein, dass eine einseitige Kündigung des INF-Vertrags es den USA erleichtern werde, chinesischen Mittelstreckenwaffen etwas entgegenzusetzen. Doch bei genauerer Betrachtung ist diese Begründung eher fadenscheinig. Zwar verfügt die Volksrepublik China in der Tat über ein beträchtliches Arsenal landgestützter Mittelstreckenwaffen – sowohl Marschflugkörper als auch ballistische Raketen. Chinas große Landmasse erlaubt es, diese Systeme verdeckt im gut geschützten Hinterland aufzustellen und aus der geographischen Tiefe heraus Taiwan oder Japan zu bedrohen. Die USA hingegen verfügen nicht über diese Tiefe. Es gibt keine Abkommen, die ihnen eine Stationierung solcher Waffen in Südkorea oder Japan erlauben würden – unter gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen ist dies auch nicht denkbar. Der kleine amerikanische Inselstützpunkt in Guam wiederum ist ein prädestiniertes Ziel für einen chinesischen Erstschlag. Um diesem zuvorzukommen, müsste man amerikanische Mittelstreckenwaffen auf Schiffen oder Flugzeugen über den Pazifik verteilen, um chinesischer Ortung zu entgehen und die eigene Position zu verschleiern. See- und luftgestützten Systemen steht der INF-Vertrag aber nicht im Wege, man bräuchte ihn also auch nicht kündigen.
Der Kreml kann den Ausstieg der USA propagandistisch ausschlachten
Die Eile, die Trump und Bolton bei der Aufkündigung des INF an den Tag legen, ist aus militärstrategischer Sicht kaum nachvollziehbar. Sie ist wohl eher mit dem generellen Unwillen der Trump-Administration gegen die Bindung durch multilaterale Abkommen zu erklären. Denn in jedem Fall wird die Entwicklung amerikanischer Mittelstreckenwaffen noch eine Dekade in Anspruch nehmen. Und diese Dekade könnte man auch nutzen, um Druck auf Moskau und Peking aufzubauen, sich Rüstungskontrollmechanismen zu unterwerfen.
Mit einer einseitigen Kündigung wäre also in erster Linie dem Kreml geholfen, der schon lange auf ein Scheitern des INF-Vertrages hinarbeitet. Auf diese Weise würden Putin die diplomatischen Kosten eines INF-Ausstiegs erspart bleiben. Der Kreml kann dieses Vorgehen dankbar propagandistisch ausschlachten, in dem man den Finger auf Washington zeigt und die eigene Vertragsverletzung verschleiert. Putin-Vesteher aller Lager verfallen bereits jetzt in die Anschuldigungen gegen Washington ein: die USA kündigen ohne Vorab-Konsultation einen Vertrag, den Europäer als zentral für ihr Sicherheitsverständnis betrachten. Eine einseitige Kündigung des INF durch die Trump-Administration würde es den Europäern noch schwerer machen, auf die russische Raketenbedrohung zu antworten. Nach 28 Jahren durchgehender Abrüstung ist das öffentliche Verständnis für Fragen nuklearer Abschreckung kaum noch gegeben. Wenn sich die Diskussion um die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme in Europa erneut stellen sollte, stünde uns eine noch kontroversere Debatte mit noch größeren öffentlichen Widerständen bevor als Anfang der achtziger Jahre.
Doch bei aller Empörung über das stümperhafte und strategisch kurzsichtige Vorgehen der Regierung Trump müssen die Europäer nun vor allem zeigen, dass sie gewillt sind, für die Aufrechterhaltung des INF auch den nötigen Druck auf Moskau aufzubauen. Moderate Republikaner wie der US-Verteidigungsminister James Mattis haben ihre europäischen Kollegen öfters ermahnt, dass der INF-Vertrag für Europa schlussendlich wichtiger sei als für die USA. Trotzdem blieb es am amerikanischen Kongress hängen, Druck auf Moskau aufzubauen. So wollte der Kongress etwa der Verlängerung von New-Start nur dann zustimmen, wenn Russland bezüglich des INF Transparenz schafft. Die Nachlässigkeit in Europa, die Zeichen der Zeit zu deuten und dem Kongress zur Seite zu springen, rächt sich nun doppelt: Trumps Aufkündigung des INF-Vertrages macht es Russland leichter, Europa militärisch unter Druck zu setzen. Gleichzeitig macht es die Aufkündigung moderaten Kräften beiderseits des Atlantiks schwerer, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen.
Nach der offiziellen Notifikation der Kündigung des INF-Vertrages würde dieser noch sechs Monate in Kraft bleiben. Das ist eine äußerst kurze Zeit, um die angeschlagene nukleare Flanke Europas durch einen Nachfolgevertrag zu reparieren. Von alleine wird aber der Kreml seine vorteilhafte Position der faktischen Vertragsverletzung nicht aufgeben. Dafür ist die Verlockung zu groß, einen Keil in die NATO zu treiben. Es reicht allerdings nicht, den INF nur pro forma aufrechtzuerhalten. Denn ein Vertrag, der nicht eingehalten wird, ist nichts wert – wie groß seine historische Bedeutung auch gewesen sein mag.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.