Noch nicht in Schwung: Europa­wahl­kampf in Frankreich

© 1. Copyleft, 2. Foto-AG Gymnasium Melle [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Der franzö­sische Europa­wahl­kampf kommt nur zäh in Gang. Das Land hat mit sich selbst zu tun, da muss Europa hint­an­ste­hen. Der pro-europäische Schwung Macrons hat nachge­lassen, Marine Le Pen muss ihre anti-europäi­schen Affekte zügeln, weil selbst ihre Anhänger die EU nicht verlassen wollen.

Eigentlich war für das Frühjahr 2019 Europa­wahl­kampf vorge­sehen. Die Europawahl ist nach zwei Jahren die erste Gelegenheit, der amtie­renden Regierung die Meinung zu geigen. Und norma­ler­weise nehmen die Franzosen jede der landesweit zeitgleich organi­sierten „Zwischen­wahlen“ – ob auf europäi­scher, regio­naler oder lokaler Ebene – zum Anlass, ihrer Unzufrie­denheit mit der Regierung Ausdruck zu verleihen. 

Portrait von Albrecht Sonntag

Albrecht Sonntag ist Professor für Europa­studien an der ESSCA Ecole de Management in Angers, Frankreich.

Aber was ist schon normal dieser Tage? Frank­reich hat mit sich selbst zu tun, da muss Europa hintan­stehen. Die allsams­täg­lichen, von Rechts- wie Links­extremen unter­wan­derten Protest­märsche der Gelbwesten nehmen kein Ende. Und parallel dazu mobili­siert die „Große nationale Debatte“, seit Januar im Rekord­tempo auf die Beine gestellt, jede Menge politische Energie. Von Neben­schau­plätzen wie der vom Senat ausge­schlach­teten Affäre um die illegalen Umtriebe des ehema­ligen Sicher­heits­be­amten des Elysée, Alexandre Benalla, ganz zu schweigen.

Dass sich die Europa­wahlen noch nicht in den Vorder­grund geschoben haben, liegt auch daran, dass sich Emmanuel Macron und die République en Marche bisher zurück­ge­halten haben. Erst zwei Monate vor dem Wahltermin hat man sich nun darauf festgelegt, wer die Liste überhaupt anführen soll. Die Wahl fiel, ganz anders als im Frühjahr 2017, als aller­orten Neulinge aus der Zivil­ge­sell­schaft angeworben wurden, auf eine Expertin mit Polit-Kompetenz: die Europa­mi­nis­terin Nathalie Loiseau, ehemalige Direk­torin der Ecole Nationale de l’Administration, einer Grande École, an der seit 1947 die Elite der Staats­be­amten ausge­bildet wird.

Marine Le Pen setzt auf einen Nobody

Kurio­ser­weise steht diese Perso­nal­ent­scheidung ganz im Gegensatz zu dem, was sich bei den anderen Parteien tut. Dort wird fast ein bisschen krampfhaft die „Erneuerung“ insze­niert, mit der Macrons Bewegung vor zwei Jahren aus dem Nichts aufkreuzte.

So hat Marine Le Pen, die vor fünf Jahren mit einem Viertel der Stimmen und 24 Sitzen im europäi­schen Parlament als stärkste Kraft aus den Europa­wahlen hervorging, ihre Liste bereits Anfang Januar einem 23-jährigen Nobody namens Jordan Bardella anver­traut. Die Liste der France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon führt die 29-jährige ehemalige Oxfam-Aktivistin Manon Aubry an, und die Sozia­listen haben für die Europawahl gleich ganz mit der neuen Bewegung Place Publique fusio­niert, die der Philosoph und Publizist Raphaël Glucksmann vor Kurzem ins Leben gerufen hat. Ein anderer Philosoph, eher katho­lisch-konser­va­tiver Art, wurde den Republi­kanern von Laurent Wauquiez aufge­drängt: François-Xavier Bellamy, der augen­scheinlich den angestrebten Rechtsruck der Partei­führung verkörpern soll.

Was aus der mehrfach angedachten Liste der Gelbwesten wird, steht noch nicht fest. Bisher sind alle Versuche von den radikalen Stimmen der Bewegung aggressiv zurück­ge­pfiffen worden. Sollte dennoch eine Liste antreten, würde sie die drei bis fünf Prozent, die ihr von den Meinungs­for­schern zugeschrieben werden, eher an den Rändern des politi­schen Spektrums holen. Die Tatsache, dass eine solche Liste das Lager des ungeliebten Präsi­denten eher stärken würde, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Stabile Kräfte­ver­hält­nisse

Die Europawahl ist in Frank­reich insofern von beson­derem Interesse, als sie eine Ausnahme zum strengen Mehrheits­wahl­recht der Fünften Republik darstellt. Sie ist, zusammen mit dem ersten Wahlgang der Präsi­dent­schaftswahl, die einzige Gelegenheit, bei der die Bürger ohne Hinter­ge­danken ihre ideolo­gische Präferenz bekunden und so die wahren Kräfte­ver­hält­nisse innerhalb des Partei­en­spek­trums abbilden.

Diese sind – glaubt man den Umfragen – genau zwei Jahre nach der Wahl Macrons erstaunlich stabil geblieben.

Das vom Präsi­denten verkör­perte, resolut proeu­ro­päische liberale Zentrum der République en Marche stellt ein Viertel der Wähler­schaft dar (das angeschlossene MODEM und die getrennt kandi­die­rende UDI einge­rechnet). Das entspricht ziemlich genau dem Stimmen­anteil Macrons im ersten Wahlgang 2017. Angesichts der heftigen Abneigung, die Macrons Reformen und vor allem seine Person in weiten Kreisen der Bevöl­kerung hervorruft, ist mehr auf absehbare Zeit kaum vorstellbar.

Ein anderes Viertel der Stimmen versammelt sich rechts­außen. Zu den etwa 20 Prozent, mit denen Marine Le Pens Rassem­blement National rechnen darf, muss man die knapp fünf Prozent von Debout la France hinzu­rechnen.

Das Potential der extremen Linken – uneins und aufge­spalten in France Insoumise, Parti Commu­niste sowie ein paar Split­ter­gruppen – liegt derzeit bei maximal 15 Prozent der Wähler­schaft. Diese Tendenz bestätigt die Vermutung, dass ausge­rechnet die Partei Jean-Luc Mélen­chons es nicht geschafft hat, aus den Gelbwesten-Protesten – trotz ideolo­gi­scher Nähe – Kapital zu schlagen.

Für die ehema­ligen Volks­par­teien der konser­va­tiven Gaullisten und der gemäßigten Linken wird der Raum immer enger. Die Stimm­an­teile der Républi­cains werden bei zwölf bis 14 Prozent gehandelt, ein Beleg dafür, wie umstritten der Kurs von Laurent Wauquiez beim tradi­tionell europa­freund­lichen, zentrums­nahen Flügel der Partei ist.

Und die Linke hat es in den vergan­genen Monaten vorge­zogen, sich in Graben­kämpfen noch schwächer zu machen als sie ohnehin schon ist. Der Appell von Raphaël Glucksmann, eine gemeinsame sozial­de­mo­kra­tische Liste aufzu­stellen, wurde vom Grünen-Chef Yannick Jadot (Europe Ecologie/​Les Verts) und vom ehema­ligen sozia­lis­ti­schen Präsi­dent­schafts­kan­di­daten Benoît Hamon (Génération.s) geflis­sentlich überhört. Zusam­men­ge­nommen stellen sie 16 bis 17 Prozent der Wähler­schaft. Die Grünen ziehen sich mit acht Prozent der Wahlab­sichten noch am besten aus der Affäre, schaffen es aber nicht, aus dem immer stärker werdenden Klima­wandel-Bewusstsein Kapital zu schlagen.

Paradoxe in den beiden größten Blocks

Ein Paradox dieser Europawahl liegt in den Botschaften der beiden größten Blocks. Auf der einen Seite ist Marine Le Pen dazu gezwungen, ihren Europahass rheto­risch zu entschärfen, weil ein Großteil ihrer Wähler­schaft einem Ausstieg aus der Währungs­union oder gar der EU abgeneigt ist. Diesen Wider­spruch versucht der Listen­führer Jordan Bardella mit einem schrägen Mix aus Halbwahr­heiten im Stile der briti­schen UKIP zu entkräften.

Im Lager von Emmanuel Macron droht wegen der „Großen natio­nalen Debatte“ ein anderes Paradox. Es wird dem Präsi­denten kaum möglich sein, die aus der Debatte hervor­ge­gan­genen Erwar­tungs­hal­tungen zu ignorieren. Sollte er sich aller­dings entschließen, Teile dieser Erwar­tungen zu erfüllen, hätte das wohl deutliche budgetäre Konsequenzen.

Ein Szenario, das niemand im Elysée offen zu formu­lieren wagt, das aber nicht mehr ausge­schlossen werden kann, besteht darin, dass ausge­rechnet der Präsident, der sich die Wieder­ge­winnung des deutschen Respekts fürs franzö­sische Wirtschaften auf die Fahne geschrieben hat, für den Rest seines Mandats die Maastricht-Stabi­li­täts­kri­terien aussetzt. Das Wehklagen in Berlin wäre nicht zu überhören. Indes: Nachdem seine budge­tären Anstren­gungen der letzten beiden Jahre gerade in Deutschland, sowohl bei der Merkel-Regierung als auch bei der neuen CDU-Chefin, auf taube Ohren gestoßen sind – könnte man es ihm verdenken?

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