Riskante Reflexe der EU
Führende EU-Politiker, einschließlich der Präsidentin der EU-Kommission, haben sich angesichts des Krieges in der Ukraine für eine sofortige Einleitung des Verfahrens zur Aufnahme des Landes in die EU ausgesprochen. Ein äußerst riskanter Vorschlag.
Der Volksmund weiß, wie wichtig es ist, „in der Hitze des Gefechts einen kühlen Kopf zu bewahren“. Ein erschreckendes Gegenbeispiel bieten derzeit EU-Politiker bis hoch zur Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, mit ihrer Idee einer „kurzfristigen EU-Aufnahme“ der Ukraine. Der Vorschlag ist nicht nur unklug, er ist in mehrfacher Hinsicht dumm, unverantwortlich und gefährlich.
Dumm, weil es überhaupt kein Verfahren für eine „kurzfristige“ Aufnahme gibt. Der Mechanismus, der einer Mitgliedschaft in der EU vorausgeht, ist ebenso präzise und unwiderruflich festgelegt, wie die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, bevor über eine Mitgliedschaftsoption abschließend entschieden werden kann – mit einem Veto-Recht jedes einzelnen der 27 Mitgliedsstaaten.
Aus den diversen, einzuhaltenden Fristen für die einzelnen Schritte, deren Prüfung, Ergebnisbekanntgabe und Möglichkeit zur Einspruchserhebung ergibt sich ein Zeitraum von 18 Monaten als Mindestdauer für das Gesamtverfahren. Wie zynisch ist es, anderthalb Jahre als „kurzfristig“ zu bezeichnen gegenüber einem Land, das sich buchstäblich mit Leib und Seele gegen einen übermächtigen Feind und den Verlust seiner Souveränität und Freiheit stemmt, und das schon zwei Wochen nach dem Einmarsch von Putins Truppen am Rand des Zusammenbruchs steht?
Fehlende europäische Sicherheitsarchitektur
Unverantwortlich, weil nicht nur den Menschen in der Ukraine, sondern generell der Eindruck vermittelt wird, dass es ein greifbares Mittel gebe, um die Ukraine vor der drohenden, erstickenden Umklammerung durch Russland zu schützen, indem die EU das Land mal eben im Schnellverfahren zum Mitglied erkläre und in ihre Arme schließe.
Unverantwortlich auch deshalb, weil (sogar seitens der höchsten Repräsentantin der EU!) suggeriert wird, eine EU-Mitgliedschaft könne unter bestimmten Umständen politisch verschenkt werden und damit das ersetzen, was die EU über Jahre versäumt hat und nun ein wesentlicher Grund ist für das Ausmaß der Kriegskatastrophe in der Ukraine: sich um eine europäische Sicherheitsarchitektur zu kümmern.
Gefährlich, weil der leichtfertige Vorschlag, wie man sieht, weitere, mit der EU assoziierte osteuropäische Staaten wie Georgien und Moldau zum Trittbrettfahren ermutigt hat und ihrerseits Anträge auf eine sofortige Aufnahme von Mitgliedsverhandlungen stellen ließ, ohne dass die Regierungen dieser Länder – deren Bevölkerung mehrheitlich einen pro-europäischen Kurs befürwortet – die dafür zwingend vorausgesetzten Fortschritte vorweisen könnten.
Kaltschnäuziger Trittbrettfahrer: Georgien
Im Fall Georgiens ist die erfolgte Abgabe eines Antrags zur sofortigen Aufnahme von Mitgliedsverhandlungen von zusätzlicher Delikatesse. Oder, weniger diplomatisch ausgedrückt: von einem geradezu unverfrorenen Maß an Provokation, bedenkt man die Kaltschnäuzigkeit, mit der dasselbe Personal der amtierenden georgischen Regierung im vergangenen Jahr Vereinbarungen mit der EU über Nacht gebrochen und die daraufhin angedrohte Sperrung weiterer EU-Subventionen mit Aussagen quittierte wie: „Georgien braucht das Geld der EU nicht!“, und „Georgien verbittet sich die dauernde Einmischung der EU.“
Ein ausgestreckter Mittelfinger wäre wohl die bildliche Übersetzung auch für das Verhalten der georgischen Machthaber in der Zeit davor gewesen: Milliarden Euro an EU-Geldern sind nicht erst in den Jahren seit seiner Aufnahme in die „Östliche Partnerschaft“, 2009, und seiner Assoziierung, 2014, in das Land am Südkaukasus geflossen. Wer indes grundlegende, überprüfbare und nachhaltige Verbesserungen sucht, der sucht weitestgehend vergebens. Die Armut hat nie dagewesene Dimensionen erreicht, der Reichtum einiger weniger und deren Rücksichtslosigkeit in Bezug auf liberale Strukturen, wirtschaftliche Teilhabe, soziale Gerechtigkeit, politischen Anstand auch. Von Umwelt‑, Natur- und Klimaschutz zu schweigen.
Die in den Jahren nach 2004 ziemlich erfolgreich bekämpfte und weitgehend besiegte Korruption in Georgien verbreitet sich wieder rasant. Das Justizsystem ist trotz vielfacher Mahnungen immer noch nicht reformiert, Staatsanwälte und Richter, mit zählbaren Ausnahmen, parteipolitisch besetzt oder käuflich – oder beides. Die EU muss sich vorwerfen lassen, dass sie all dem nichts Entscheidendes entgegengesetzt hat.
Optionen bedenken, statt Illusionen wecken
Sollte die Vernunft, die sich bezüglich des Vorschlags einer „Sofortaufnahme“ der Ukraine in die EU bislang auf den Präsidenten des Rates der EU, Charles Michel, zu beschränken scheint (er nannte den Vorschlag „legitim, aber eher symbolisch“), auch bei denen einkehren, die sich derzeit an ihrer aberwitzigen Idee berauschen, wäre man gut beraten, selbige unverzüglich leise beiseite zu legen. Eine ernsthafte Befassung mit den inzwischen vorliegenden Anträgen müsste, wenn es mit rechten Dingen zugeht, bei jedem der drei Länder zu einem ablehnenden Bescheid führen. Peinlich genug, dass der Vorfall beispielhaft zeigt, wie planlos die EU derzeit dasteht und agiert, wenn es um die Frage des perspektivischen Umgangs mit den diversen assoziierten Ländern geht.
Statt unerfüllbare Hoffnungen zu wecken, täte man in Straßburg und Brüssel gut daran, sich endlich Gedanken darüberzumachen, welche realistischen Optionen es für eine Ukraine von morgen geben kann; welche Möglichkeiten die EU zur Vermittlung eines raschen Friedensschlusses hat und wo die Grenzen ihres Einflusses liegen. Nicht zuletzt: welche Arten an Vorsorge jetzt getroffen werden müssen, um die EU als handlungsfähiges Konstrukt zu erhalten, falls der (gar nicht so unwahrscheinliche) „worst case“ eintreten sollte, die russische Wirtschaft zusammenbricht, Putin den Gashahn gen Westen zudreht, stattdessen den Gasfluss nach Osten lenkt und strategisch noch stärker auf eine Konsolidierung seiner Beziehungen mit China und eine Stabilisierung bzw. Ausweitung des russischen Einflusses im Nahen und Mittleren Osten, sowie wirtschaftlich interessanten Regionen in Afrika setzen sollte. Wohlgemerkt: Die USA wären von einem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft sicherheitspolitisch eher marginal betroffen. Europa hingegen massiv.
Erst wenn all diese Erwägungen bedacht und in Gestalt von mittel- bis langfristigen Strategien nebst konkreten Handlungsoptionen ausformuliert sind, kann die Rede davon sein, dass die EU-Politik „aufgewacht“ sei und „geopolitisch zu denken begonnen“ habe.
Bis dato handeln die Spitzen der EU wie gewohnt: Sie verwechseln „Reflex“ mit „Reflexion“, und sie versuchen „Reagieren“ als „Agieren“ zu verkaufen. Das Risiko der Folgen daraus ist größer als je zuvor. Denn was am 24. Februar 2022 frühmorgens begonnen hat, ist keine Krise mehr. Es ist Krieg.
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