Besatzungsterror: Das vergessene Massaker von Korjukiwka
Es war die größte „Strafaktion“ gegen die nicht-jüdische Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, nicht nur auf dem Territorium der Sowjetunion, sondern in ganz Europa – mit fast 7000 ermordeten Zivilisten, durchgeführt von der SS, ungarischen Armeeangehörigen und einheimischer „Hilfspolizei“. Und dieses Kriegsverbrechen ist bis heute nicht einmal vollständig erforscht.
In der Nacht zum 27. Februar 1943 griffen sowjetische Partisanen eine deutsch-ungarische Garnison am Bahnhof von Korjukiwka an. Der Kommandeur der Partisanen Theodosius Stupak hatte ein starkes persönliches Motiv für den Kampf. In der Kaserne waren seine zwei Söhne im Alter von 12 und 13 Jahren inhaftiert, seine Frau wurde dort am Vortag erschossen.
Korjukiwka ist eine Siedlung im Nordosten der Ukraine, im Gebiet Tschernihiw. Manche Einwohner unterstützen die Partisanen freiwillig, obwohl „allgemein bekannt war, dass die Deutschen für jeden getöteten deutschen Soldaten bis zu 100 Menschen hinrichten würden“, so der ukrainische Historiker Serhiy Butko, Mitglied des Ukrainischen Instituts für nationale Erinnerung im Oblast Tschernihiw.
Die Partisanen greifen von der Apotheke aus der Kaserne an und töten nach eigenen Angaben 78 Soldaten und nehmen einige gefangen. Alle 97 Gefängnisinsassen können sie befreien, darunter die Söhne des Kommandeurs Stupak. Er selbst stirbt bei der Aktion. Die Partisanen zerstören, wie sie in einem Bericht nach Moskau melden, unter anderem eine Telefonstation, eine mechanische Werkstatt, ein Kraftstofflager mit Benzin, 18 Eisenbahnwaggons und das Gebäude der Staatsbank, nachdem sie dort einen Safe gesprengt und 320.000 sowjetische Rubel entwendet haben.
Als Rache für den Angriff der Partisanen planen die SS und die ungarischen Feldjäger eine „Strafaktion“ gegen die Einwohner von Korjukiwka. Den Befehl dazu erteilt, soweit man weiß, der Stabschef der Kommandantur der Wehrmacht im benachbarten Kreis Konotop, Oberstleutnant Bruno Franz Bayer (in manchen Quellen auch Baier oder Beyer geschrieben, in anderen nur als Bruno Franz). Das SS-Sonderkommando 4A leitete laut Dokumenten die „Strafaktion“. Die SS-Männer hatten schon zahlreiche Kriegsverbrechen und Massenmorde begangen, unter anderem das Massaker an den jüdischen Menschen aus Kyjiw in Babyn Jar mit mehr als 33.000 Opfern und in Poltawa mit mehreren tausend Opfern. Im März 1943 erschossen sie in Sumy 250 ungarische Juden, die zu einer Arbeitskompanie der ungarischen Armee gehörten.
Am Morgen des 1. März 1943 umstellen die SS und die ungarischen Einheiten, wahrscheinlich unterstützt von einheimischer sowjetischer „Hilfspolizei“, die Siedlung Korjukiwka. Die Todeskommandos durchsuchen die Gebäude der Stadt, zünden Häuser an, treiben die Menschen in große Gebäude wie das Theater oder ein Restaurant und erschießen sie dort oder werfen sie lebendig ins Feuer. Im Restaurant wurden etwa 500 Menschen getötet, nur fünf überleben. Insgesamt werden am 1. und 2.März sage und schreibe 6700 Menschen ermordet. 1290 Häuser werden niedergebrannt, nur zehn Backsteingebäude bleiben erhalten. Zeugen sagten aus, dass Rauch und Feuer von den Bränden noch mehr als 20 Kilometer entfernt in anderen Siedlungen zu sehen waren. Am 9. März kehrten die Mordkommandos zurück, um die überlebenden Einwohner zu töten. Bloß 1893 Opfer können später identifiziert werden, darunter 704 Kinder und Jugendliche und 1097 Frauen. Die meisten sind ukrainischer Nationalität, 1715.
Korjukiwka: Schlimmer als Lidice und Oradur
Es ist die größte „Strafaktion“ gegen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg, nicht nur auf dem Territorium der Sowjetunion, sondern in ganz Europa. Während die Massaker der SS in dem tschechischen Dorf Lidice mit 173 Ermordeten und im französischen Oradour mit 642 Opfern international bekannt geworden sind und in etlichen Büchern und Filmen dargestellt wurden, ist das furchtbare Verbrechen in Korjukiwka mit so viel mehr Opfern selbst vielen Ukrainern bis heute unbekannt. Über das Blutbad von Lidice veröffentlichte Heinrich Mann schon im darauffolgenden Jahr einen gleichnamigen Roman. Über die Tragödie von Korjukiwka sind bis heute offenbar nur einige Broschüren und ein einziges Buch mit einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen, die historisch-wissenschaftliche Studie „Jeder hat seine eigene Wahrheit. Wahrheit Eins: Korjukiwka: Ein lebenslanger Schmerz“ von Wassili Ustimenko. Ustimenko finanzierte sie mit seiner Rente, wie er in seiner Rede im Jahre 2013 während der Buchpräsentation erzählte. Er hatte keinen Sponsor gefunden. In seiner Studie versucht er die Frage zu beantworten, warum die Tragödie stattgefunden hat und ob es möglich gewesen wäre, sie zu verhindern.
Zumindest hätten die sowjetischen Partisanen die Mordorgien der Deutschen und der Ungarn wohl sehr stark behindern können. Denn es waren nur 300 bis 500 Täter, die dieses Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung durchführten, während die Partisanen über 5.500 Kämpfer in den umliegenden Dörfern und Wäldern verfügten.
„Es gab keinen Befehl vom Hauptquartier. Also saßen wir einfach da und sahen zu“, resümierte ein sowjetischer Partisan nach dem Krieg. Der oberste Kommandeur der Partisanen, Oleksiy Fedorov, zweifacher Held der Sowjetunion, war während des Massakers von Korjukiwka nicht anwesend, sondern holte sich neue Direktiven aus Moskau ab. In seinen Memoiren bezieht er sich kurz auf die Ereignisse: „Die Genossen informierten uns über die wichtigsten militärischen Operationen, die in unserer Abwesenheit durchgeführt wurden. Am interessantesten und erfolgreichsten war der Überfall auf die Korjukiwka-Garnison. Unsere Jungs haben diese kleine Stadt nicht vergessen.“
Über die furchtbare Ermordung von fast 7.000 Dorfbewohnern verlor Fedorow kein einziges Wort. Als ob sie gar nicht existiert hätten!
Die grausamen Verbrechen der Nazis passten durchaus ins Konzept der sowjetischen Propaganda, so makaber das heute klingt. Die Befehle des sowjetischen Militärhauptquartiers an Partisanenbewegungen in der Ukraine handelten ausschließlich von der Sabotage und Zerstörung feindlicher Streitkräfte. Es gibt jedoch nach Einschätzung ukrainischer Historiker keine offiziellen Dokumente, die die sowjetischen Partisanen anweisen, die Zivilbevölkerung zu schützen.
Serhiy Butko macht dazu folgende Bemerkung:
„Keine von den Nazis angestifteten Strafoperationen gegen die lokale Bevölkerung wurden von den sowjetischen Partisanen unterbrochen, da dies der bolschewistischen Sache perfekt diente, die Deutschen so viele Gräueltaten wie möglich begehen zu lassen. Die bolschewistische Politik bestand darin, der Zivilbevölkerung zu beweisen, dass die vom NS-Régime begangenen Gräueltaten mit dem Holodomor von 1932–1933 und den stalinistischen Hinrichtungen und Repressionen der 1930er Jahre unvergleichlich waren. Ja, die barbarischen Aktionen der Nazis waren unbeschreiblich schrecklich, aber nicht besser oder schlechter als die vom bolschewistischen Régime begangenen.“ (Euromaidan Press)
Spätes Gedenken an das Massaker
Erst im Jahr 1977 wurde in Korjukiwka ein Granitdenkmal mit dem offiziellen Namen „Zu Ehren des heldenhaften Widerstands der Bevölkerung gegen deutsche faschistische Invasoren“ errichtet. Die Schöpferin des Denkmals ist die berühmte ukrainische Bildhauerin Inna Kolomijez.
In den sowjetischen Kanon der Heldengeschichten und der verabscheuungswürdigen Verbrechen schaffte es das Massaker aber nicht. Serhiy Butko nennt als Grund: „Natürlich fragt man sich, wo die Partisanen geblieben sind, als die Bevölkerung von Korjukiwka massakriert wurde.“ Mindestens in diesem grusligen Fall waren sie eben nicht die „Rächer des Volkes“ gewesen.
Erst als sich die Tragödie am 2. März 2013 zum 70. Mal jährte, wurden vom ukrainischen Staat besondere Maßnahmen zum Gedenken an die Opfer dieses Kriegsverbrechens beschlossen, per Dekret unter dem Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Zum Jubiläum 2018 wurde in vielen Fernsehprogramm mit dauerhaft zugeschalteten Gedenkkerzen an die schrecklichen Ereignisse erinnert.
Aber noch nie hat ein hochrangiger ukrainischer Politiker die Gedenkfeiern in Korjukiwka besucht. So muss man sich auch nicht wundern, dass offenbar erst ein deutscher Politiker es besser gemacht hat. Im März 2005 würdigte der deutsche Botschafter Dietmar Stüdemann die Erinnerung an die toten Einwohner von Korjukiwka mit einem Besuch vor Ort. Der Botschafter sagte vor Hunderten von Teilnehmern an der Trauerkundgebung:
„Wir Deutschen wissen genau, was die Nazis in Ihrem Land getan haben. Nach dem Tod von Korjukiwka starb auch Nazi-Deutschland. Jahre vergingen. Sowohl Deutschland als auch Korjukiwka lebten wieder auf. Die Ukraine ist unabhängig geworden. Die Völker beider Länder geben sich über den Gräbern der Toten die Hand, obwohl unsere Schuld groß ist. Aber die menschliche Freundschaft kann viel, sehr viel bewirken, und dies gibt Hoffnung, dass der Krieg nicht wieder stattfinden wird, der Faschismus nicht wiederbelebt wird.“ (Euromaidan Press, Christine Chraibi)
Die Menschen von Korjukiwka haben lange versucht, eine Partnerstadt in Deutschland zu finden, berichtete im Mai 2015 der taz-Reporter Bernhard Clasen, der offenbar bisher als einziger deutscher Journalist den Ort des Verbrechens besucht und darüber berichtet hat. Gelungen war den Ukrainern das nicht. Ob sie es weiterhin versucht haben oder versuchen wollen kann nur eine Reise zum Ort des Massakers klären. Neben Bernhard Clasen hat auch Jens Piske vor zwei Jahren über das Verbrechen auf seinem Blog berichtet.
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