Brief aus Amerika: Identitätspolitik – eine bürgerliche Reinterpretation
Sprechverbote darf es nicht geben, für niemanden. Aber manchmal entspricht es schlicht den bürgerlichen Werten, auch einmal zu schweigen, um andere Stimmen hörbarer zu machen.
Sie kocht mal wieder hoch: die Debatte um linken Postmodernismus und linke Identitätspolitik, die angeblich totalitär daherkomme und mittels cancel culture und der bedingungslosen Forderung nach ideologischer Konformität die freie Debatte unterdrücke und damit der Demokratie schade. Die Debatte um den Letter on Justice and Open Debate im renommierten US Harper’s Magazine, der von Mitte-Links Intellektuellen verfasst wurde und sich um die offene gesellschaftliche Debatte sorgt, sowie um die beiden – zumindest dem Anschein nach – freiwilligen Rücktritte des Kolumnisten Andrew Sullivan beim New York Magazine und der Journalistin Bari Weiss bei der New York Times, zwei klassischen linksliberalen Publikationen, sind die prominentesten Beispiele für dieses Hochkochen in den USA. Hinzu kommen immer wieder Berichte über Entlassungen oder mindestens unfreiwillige Rücktritte von Professoren wegen kontroverser Äußerungen, wie etwa dem zugegebenermaßen stramm rechtskonservativen Kriminologieprofessor Mike Adams von der University of North Carolina, der sich öffentlich über women studies mokiert hatte und nach seiner Entlassung wohl Selbstmord verübte.
Ich arbeite ja in einer akademischen Institution, wo mir, dem nicht mehr ganz so jungen weißen Mann, im Prinzip die totalitäre, postmoderne Linke das Leben schwer machen müsste. Dennoch geht es mir an der Universität ganz gut. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich in einem Mainstream Economics Department arbeite, die traditionell weniger anfällig für die neuesten linken akademischen Moden sind und wo man als seltene Spezies an den Universitäten auch noch Konservative findet. Vielleicht liegt es auch daran, dass man an einer katholischen Universität wie der University of Notre Dame bestimmte linke Übertreibungen einfach nicht ganz so extrem mitmachen kann. Aber eigentlich glaube ich das nicht. Die Studies Departments sind auch in Notre Dame ziemlich postmodern.
Insgesamt nehme ich zwei sehr verschiedene Kritikstränge an postmoderner linker Identitätspolitik wahr (es gibt im Übrigen auch rechte Identitätspolitik, etwa wenn gefordert wird, doch endlich auch die Stimme des arbeitenden, sogenannten kleinen, de facto dann aber doch oft weißen Mannes zu hören). Erstens die Kritik aus liberal-bürgerlichen Kreisen, dass hier die Errungenschaften der Aufklärung mit den Füßen getreten würden, indem bestimmte Diskriminierungserfahrungen nun Priorität genießen sollten, die gegen die rechtliche Gleichheit aller Menschen gestellt würden. Hinzu kommt ein Beklagen der Illiberalität von cancel culture und angeblichen Sprechverboten für die sogenannten Unterdrücker. Zweitens die Kritik der modernen Linken, der es vor allem um materielle Probleme statt Anerkennungsproblemen geht und die auf rechtliche Gleichheit gepaart mit materieller Gleichheit abhebt (hier geht die moderne Linke über die Liberal-Bürgerlichen hinaus). Insbesondere beklagt diese moderne Linke, dass die postmodernen Forderungen letztlich ein Luxusprojekt seien und die Forderungen nach materieller Gleichheit überblendeten. So hörte man das zum Beispiel jüngstens wieder formuliert im neuen Zeit Feuilleton Podcast „Die sogenannte Gegenwart“ in den Folgen mit Lars Weisbrod und Ijoma Mangold.
Gerade aus bürgerlich-liberaler Sicht halte ich jedoch beide Kritikstränge für teilweise berechtigt, aber letztlich für nicht zwingend. Selbstverständlich ist jeglichen Forderungen eine Absage zu erteilen, welche die prinzipielle – vor allem rechtliche und würdemäßige – Gleichheit aller Menschen und deren Recht, an möglichst herrschaftsfreier gesellschaftlicher Kommunikation teilzunehmen, in Frage stellen. Das bedeutet, dass es letztlich keine Sprechverbote für weiße Männer geben kann und dass auch Menschen mit nichtweißer Hautfarbe Rassisten sein können. Letzteres zu bestreiten ist schlimmer Neusprech. Ich verstehe aber nicht, wie man bestreiten kann, dass es auch heute noch bestimmte Gruppen gibt, denen die Verwirklichung dieser Gleichheits- und Würdeversprechen noch nicht vollumfänglich zuteilwurde. Angesichts der Krummheit des Menschen hielte ich eine solche Position für geradezu unaufgeklärt. Aufgeklärt wäre es vielmehr, immer wieder nach solchen Defiziten zu fragen und zu suchen. Daraus folgt aber nun, dass diejenigen, die von solchen Defiziten betroffen sind, auch eine Stimme brauchen, um auf die Defizite aufmerksam machen zu können. Und das wiederum bedeutet, dass es ganz bürgerlichen Werten entspricht, auch einmal zu schweigen, um andere Stimmen hörbarer zu machen.
Hinzu kommt Folgendes: Es ist zutiefst unbürgerlich, nicht zu spüren, wann Schweigen angemessen ist, und zwar aus innerer Haltung, nicht wegen äußerem Zwang. In diesem Sinne sehe ich das „Weiße Männer sollten jetzt mal still sein“ nicht per se als antiaufklärerisches Sprechverbot, sondern zumindest in manchen Situationen als bürgerliches Anstandsgebot. Es gehört sich zum Beispiel einfach nicht, als Freund eines Toten bei dessen Beerdigung gegen deren Willen vor den Angehörigen zu sprechen, auch wenn man ihn hundertmal besser kannte. Genauso ist es gegen die guten Sitten, sich beschwichtigend und verharmlosend gegenüber rassistischer Polizeigewalt zu äußern in einer Situation, in der die besonders virulent erscheint; und sei es auch nur mit einer völlig aufrichtigen Schilderung, dass man ja selbst keine Probleme mit der Polizei habe. Schließlich: Ist die totale Individualisierung der Anerkennungsansprüche – denn längst ist die postmoderne Ideologie und die Wokenesskultur ja davon weggekommen, sich auf bestimmte Gruppen, wie etwa Homosexuelle oder Transsexuelle zu konzentrieren – nicht am Ende eine radikale Vollendung der bürgerlichen Aufklärung, die ja damit anfing, das Individuum in den Vordergrund zu stellen? In diesem Sinne wäre die radikale Postmoderne, nachdem sie alle modern-linken Obsessionen mit gruppenbezogenen Identitäten hinter sich gelassen hat, in einer großen dialektischen Bewegung wieder beim radikalen Individualismus der Aufklärung angekommen und sie hätte damit deren inhärente Dialektik erneut unter Beweis gestellt.
Wahrscheinlich ist es am Ende dieses konsequente im Hegelschen Sinne Aufheben bürgerlicher Ideale, die die modernen Linken dann auch – vielleicht sogar zurecht – skeptisch gegenüber der postmodernen Linken werden lässt. Als Bürgerlicher kann ich jedenfalls nicht den Materialismus teilen, der die moderne Linke prägt. Es ist einfach unplausibel, dass nur materielles oder ökonomisches Kapital Nutzen und Anerkennung stiftet, nicht aber kulturelles und soziales Kapital. Das Arbeiterkind fühlt sich ja nicht nur deshalb an der Universität unwohl, weil es ärmer an ökonomischem Kapital ist (das vielleicht auch, aber immerhin gibt es ja BAföG), sondern doch wohl hauptsächlich, weil es oft ärmer an sozialem und kulturellem Kapital ist. Diese Armut hat dann oft Auswirkungen auf die spätere Akkumulation von ökonomischem Kapital, aber die Ursache ist nichtmateriell. Freilich ist schon klar, dass die oben geforderten bürgerlichen guten Sitten selbst zum kulturellen Kapital gehören und damit wiederum Gleichheitsbarrieren aufbauen können; dies bestätigt am Ende aber doch nur, dass kulturelles und soziales Kapital anerkennungsrelevant und ihre ungleiche Verteilung damit problematisch sein kann.
Zusammengefasst: der moderne Linke sieht nur materielle Ungleichheit und will diese ausgleichen, der postmoderne Linke sieht (jedenfalls in der intersektionalen Form) nicht nur materielle, sondern auch soziale und kulturelle Ungleichheit und will möglichst auch diese ausgleichen. Ich finde letzteres als Bürgerlicher am Ende plausibler. Es ist schon so, dass dies vor allem durch den Staat, und das sei eine Warnung an die postmoderne Linke und ist wohl eine Erklärung für die Skepsis der modernen Linken, vielleicht nicht so einfach möglich ist: der Staat als Hüter des Rechts kann keine rechtliche Ungleichheit, auch nicht als Kompensation für ökonomische, soziale und kulturelle Ungleichheit, zulassen. Auch hat die moderne Linke Recht, wenn sie sagt, dass ökonomische Umverteilung einfacher ist: wir wissen, wie man das mit dem Steuer- und Transfersystem und einem guten öffentlichen Bildungssystem im Prinzip macht. Aber gerade letzteres kann doch auch dafür sorgen, dass auch soziale und kulturelle Ungleichheit abgebaut und eben die guten bürgerlichen Sitten vermittelt werden, die wirklich jedem die von der Aufklärung zugesagte Anerkennung für seine Story zuteilwerden lassen. Die bürgerlichen gesellschaftlichen Institutionen wie Kirchen und Vereine könnten das Übrige tun.
Letztlich gebietet ein bürgerlicher Habitus in den konkreten Einzelfragen aber auch ein maßvolles Abwägen aller Interessen und Anerkennungsansprüche. Über die Diskussion um eine Polizeireform in den USA habe ich mich bereits im letzten Brief aus Amerika geäußert. Hier haben die „Wokes“ einen Punkt, wenn auch das wörtliche defund the police abzulehnen ist. Wie sieht es bei den Statuen aus, deren Abriss jetzt überall in den USA gefordert wird? Auch hier gilt es zu differenzieren: ich finde, die Statuen subalterner Südstaatengeneräle, die heute ohnehin niemand mehr kennt, und die in der Ära der Reconstruction im Süden ohnehin nur aus rassistischen Motiven aufgestellt wurden, können weg. Hier gibt es einfach kein plausibel ausreichendes erinnerungspolitisches öffentliches Interesse. Es ist aber auch klar: die Statuen von George Washington und Thomas Jefferson werden nicht abgerissen. Erklärt und in einen historischen Kontext eingebunden, der zeigt, dass auch diese Männer krumm waren, ja; Abriss nein.
Was ist mit antirassistischen Demos in Zeiten der Pandemie? Hier gilt wiederum das Prinzip der rechtlichen Gleichheit: egal wie „woke“ das Anliegen ist, dessentwegen demonstriert wird: alle haben sich an die gleichen Hygenie- und Abstandsregeln zu halten; und zur Not muss auch eine Antirassismusdemonstration verboten bzw. aufgelöst werden, wenn dies nicht garantiert werden kann.
Zum Schluss noch ein Wort zu meinem akademischen Fach, der Ökonomik, die auch in unregelmäßigen Abständen ihre toxic culture Debatten hat. Frauen und Nichtweiße sind in der Ökonomik traditionell unterrepräsentiert, noch stärker als in anderen akademischen Disziplinen, und dies wird von vielen auf den toxischen Umgang vor allem der mächtigen, zumeist männlichen und weißen Professorenmandarinen gegenüber Jüngeren, Nichtweißen und Frauen zurückgeführt. Auch in Deutschland gibt es diese Diskussion. Auch hier habe ich sehr viel Sympathie für die Diversity-Position: die Ökonomik als Fach wird schlechter, wenn sie nicht die ganze Diversität des sozialen und ökonomischen Geschehens in den Blick nimmt. Dass sie es doch tut, ist bei diversem Personal zumindest wahrscheinlicher. Hinzu kommt, dass aufgrund von Vorbildeffekten mangelnde Professorendiversität dazu führen kann, dass nicht jedes geeignete und interessierte Talent für die Ökonomik gewonnen werden kann, und somit der marginale weiße männliche Professor vermutlich deutlich schlechter ist als das nichtweiße, nichtmännliche Talent, das abgeschreckt wurde. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch ineffizient. Wo es problematisch wird: mehr Diversität sollte nicht dazu führen, dass weißes männliches Talent heute überhaupt keine Chance mehr hat. Die jungen Nachwuchswissenschaftler sollten nicht für die Sünden ihrer Vorgänger bezahlen. Das ist jedoch ein Übergangsproblem, das der Staat mit mehr Geld lösen könnte.
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