Brief aus Amerika: Iden­ti­täts­po­litik – eine bürger­liche Reinterpretation

Demons­tranten stürzten in Minnesota eine Statue von Chris­to­pher Columbus. Foto: Ben Hovland/​shutterstock

Sprech­ver­bote darf es nicht geben, für niemanden. Aber manchmal entspricht es schlicht den bürger­li­chen Werten, auch einmal zu schweigen, um andere Stimmen hörbarer zu machen. 

Sie kocht mal wieder hoch: die Debatte um linken Post­mo­der­nismus und linke Iden­ti­täts­po­litik, die angeblich totalitär daher­komme und mittels cancel culture und der bedin­gungs­losen Forderung nach ideo­lo­gi­scher Konfor­mität die freie Debatte unter­drücke und damit der Demo­kratie schade. Die Debatte um den Letter on Justice and Open Debate im renom­mierten US Harper’s Magazine, der von Mitte-Links Intel­lek­tu­ellen verfasst wurde und sich um die offene gesell­schaft­liche Debatte sorgt, sowie um die beiden – zumindest dem Anschein nach – frei­wil­ligen Rück­tritte des Kolum­nisten Andrew Sullivan beim New York Magazine und der Jour­na­listin Bari Weiss bei der New York Times, zwei klas­si­schen links­li­be­ralen Publi­ka­tionen, sind die promi­nen­testen Beispiele für dieses Hoch­ko­chen in den USA. Hinzu kommen immer wieder Berichte über Entlas­sungen oder mindes­tens unfrei­wil­lige Rück­tritte von Profes­soren wegen kontro­verser Äuße­rungen, wie etwa dem zuge­ge­be­ner­maßen stramm rechts­kon­ser­va­tiven Krimi­no­lo­gie­pro­fessor Mike Adams von der Univer­sity of North Carolina, der sich öffent­lich über women studies mokiert hatte und nach seiner Entlas­sung wohl Selbst­mord verübte.

Portrait von Rüdiger Bachmann

Rüdiger Bachmann ist Professor am Depart­ment of Economics an der Univer­sität Notre Dame, USA

Ich arbeite ja in einer akade­mi­schen Insti­tu­tion, wo mir, dem nicht mehr ganz so jungen weißen Mann, im Prinzip die tota­li­täre, post­mo­derne Linke das Leben schwer machen müsste. Dennoch geht es mir an der Univer­sität ganz gut. Viel­leicht liegt es ja daran, dass ich in einem Main­stream Economics Depart­ment arbeite, die tradi­tio­nell weniger anfällig für die neuesten linken akade­mi­schen Moden sind und wo man als seltene Spezies an den Univer­si­täten auch noch Konser­va­tive findet. Viel­leicht liegt es auch daran, dass man an einer katho­li­schen Univer­sität wie der Univer­sity of Notre Dame bestimmte linke Über­trei­bungen einfach nicht ganz so extrem mitmachen kann. Aber eigent­lich glaube ich das nicht. Die Studies Depart­ments sind auch in Notre Dame ziemlich postmodern.

Insgesamt nehme ich zwei sehr verschie­dene Kritikstränge an post­mo­derner linker Iden­ti­täts­po­litik wahr (es gibt im Übrigen auch rechte Iden­ti­täts­po­litik, etwa wenn gefordert wird, doch endlich auch die Stimme des arbei­tenden, soge­nannten kleinen, de facto dann aber doch oft weißen Mannes zu hören). Erstens die Kritik aus liberal-bürger­li­chen Kreisen, dass hier die Errun­gen­schaften der Aufklä­rung mit den Füßen getreten würden, indem bestimmte Diskri­mi­nie­rungs­er­fah­rungen nun Priorität genießen sollten, die gegen die recht­liche Gleich­heit aller Menschen gestellt würden. Hinzu kommt ein Beklagen der Illi­be­ra­lität von cancel culture und angeb­li­chen Sprech­ver­boten für die soge­nannten Unter­drü­cker. Zweitens die Kritik der modernen Linken, der es vor allem um mate­ri­elle Probleme statt Aner­ken­nungs­pro­blemen geht und die auf recht­liche Gleich­heit gepaart mit mate­ri­eller Gleich­heit abhebt (hier geht die moderne Linke über die Liberal-Bürger­li­chen hinaus). Insbe­son­dere beklagt diese moderne Linke, dass die post­mo­dernen Forde­rungen letztlich ein Luxus­pro­jekt seien und die Forde­rungen nach mate­ri­eller Gleich­heit über­blen­deten. So hörte man das zum Beispiel jüngstens wieder formu­liert im neuen Zeit Feuil­leton Podcast „Die soge­nannte Gegenwart“ in den Folgen mit Lars Weisbrod und Ijoma Mangold.

Gerade aus bürger­lich-liberaler Sicht halte ich jedoch beide Kritikstränge für teilweise berech­tigt, aber letztlich für nicht zwingend. Selbst­ver­ständ­lich ist jeglichen Forde­rungen eine Absage zu erteilen, welche die prin­zi­pi­elle – vor allem recht­liche und würde­mä­ßige – Gleich­heit aller Menschen und deren Recht, an möglichst herr­schafts­freier gesell­schaft­li­cher Kommu­ni­ka­tion teil­zu­nehmen, in Frage stellen. Das bedeutet, dass es letztlich keine Sprech­ver­bote für weiße Männer geben kann und dass auch Menschen mit nicht­weißer Hautfarbe Rassisten sein können. Letzteres zu bestreiten ist schlimmer Neusprech. Ich verstehe aber nicht, wie man bestreiten kann, dass es auch heute noch bestimmte Gruppen gibt, denen die Verwirk­li­chung dieser Gleich­heits- und Würde­ver­spre­chen noch nicht voll­um­fäng­lich zuteil­wurde. Ange­sichts der Krummheit des Menschen hielte ich eine solche Position für geradezu unauf­ge­klärt. Aufge­klärt wäre es vielmehr, immer wieder nach solchen Defiziten zu fragen und zu suchen. Daraus folgt aber nun, dass dieje­nigen, die von solchen Defiziten betroffen sind, auch eine Stimme brauchen, um auf die Defizite aufmerksam machen zu können. Und das wiederum bedeutet, dass es ganz bürger­li­chen Werten entspricht, auch einmal zu schweigen, um andere Stimmen hörbarer zu machen.

Hinzu kommt Folgendes: Es ist zutiefst unbür­ger­lich, nicht zu spüren, wann Schweigen ange­messen ist, und zwar aus innerer Haltung, nicht wegen äußerem Zwang. In diesem Sinne sehe ich das „Weiße Männer sollten jetzt mal still sein“ nicht per se als anti­auf­klä­re­ri­sches Sprech­verbot, sondern zumindest in manchen Situa­tionen als bürger­li­ches Anstands­gebot. Es gehört sich zum Beispiel einfach nicht, als Freund eines Toten bei dessen Beer­di­gung gegen deren Willen vor den Ange­hö­rigen zu sprechen, auch wenn man ihn hundertmal besser kannte. Genauso ist es gegen die guten Sitten, sich beschwich­ti­gend und verharm­lo­send gegenüber rassis­ti­scher Poli­zei­ge­walt zu äußern in einer Situation, in der die besonders virulent erscheint; und sei es auch nur mit einer völlig aufrich­tigen Schil­de­rung, dass man ja selbst keine Probleme mit der Polizei habe. Schließ­lich: Ist die totale Indi­vi­dua­li­sie­rung der Aner­ken­nungs­an­sprüche – denn längst ist die post­mo­derne Ideologie und die Woke­ness­kultur ja davon wegge­kommen, sich auf bestimmte Gruppen, wie etwa Homo­se­xu­elle oder Trans­se­xu­elle zu konzen­trieren – nicht am Ende eine radikale Voll­endung der bürger­li­chen Aufklä­rung, die ja damit anfing, das Indi­vi­duum in den Vorder­grund zu stellen? In diesem Sinne wäre die radikale Post­mo­derne, nachdem sie alle modern-linken Obses­sionen mit grup­pen­be­zo­genen Iden­ti­täten hinter sich gelassen hat, in einer großen dialek­ti­schen Bewegung wieder beim radikalen Indi­vi­dua­lismus der Aufklä­rung ange­kommen und sie hätte damit deren inhärente Dialektik erneut unter Beweis gestellt.

Wahr­schein­lich ist es am Ende dieses konse­quente im Hegel­schen Sinne Aufheben bürger­li­cher Ideale, die die modernen Linken dann auch – viel­leicht sogar zurecht – skeptisch gegenüber der post­mo­dernen Linken werden lässt. Als Bürger­li­cher kann ich jeden­falls nicht den Mate­ria­lismus teilen, der die moderne Linke prägt. Es ist einfach unplau­sibel, dass nur mate­ri­elles oder ökono­mi­sches Kapital Nutzen und Aner­ken­nung stiftet, nicht aber kultu­relles und soziales Kapital. Das Arbei­ter­kind fühlt sich ja nicht nur deshalb an der Univer­sität unwohl, weil es ärmer an ökono­mi­schem Kapital ist (das viel­leicht auch, aber immerhin gibt es ja BAföG), sondern doch wohl haupt­säch­lich, weil es oft ärmer an sozialem und kultu­rellem Kapital ist. Diese Armut hat dann oft Auswir­kungen auf die spätere Akku­mu­la­tion von ökono­mi­schem Kapital, aber die Ursache ist nicht­ma­te­riell. Freilich ist schon klar, dass die oben gefor­derten bürger­li­chen guten Sitten selbst zum kultu­rellen Kapital gehören und damit wiederum Gleich­heits­bar­rieren aufbauen können; dies bestätigt am Ende aber doch nur, dass kultu­relles und soziales Kapital aner­ken­nungs­re­le­vant und ihre ungleiche Vertei­lung damit proble­ma­tisch sein kann.

Zusam­men­ge­fasst: der moderne Linke sieht nur mate­ri­elle Ungleich­heit und will diese ausglei­chen, der post­mo­derne Linke sieht (jeden­falls in der inter­sek­tio­nalen Form) nicht nur mate­ri­elle, sondern auch soziale und kultu­relle Ungleich­heit und will möglichst auch diese ausglei­chen. Ich finde letzteres als Bürger­li­cher am Ende plau­si­bler. Es ist schon so, dass dies vor allem durch den Staat, und das sei eine Warnung an die post­mo­derne Linke und ist wohl eine Erklärung für die Skepsis der modernen Linken, viel­leicht nicht so einfach möglich ist: der Staat als Hüter des Rechts kann keine recht­liche Ungleich­heit, auch nicht als Kompen­sa­tion für ökono­mi­sche, soziale und kultu­relle Ungleich­heit, zulassen. Auch hat die moderne Linke Recht, wenn sie sagt, dass ökono­mi­sche Umver­tei­lung einfacher ist: wir wissen, wie man das mit dem Steuer- und Trans­fer­system und einem guten öffent­li­chen Bildungs­system im Prinzip macht. Aber gerade letzteres kann doch auch dafür sorgen, dass auch soziale und kultu­relle Ungleich­heit abgebaut und eben die guten bürger­li­chen Sitten vermit­telt werden, die wirklich jedem die von der Aufklä­rung zugesagte Aner­ken­nung für seine Story zuteil­werden lassen. Die bürger­li­chen gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tionen wie Kirchen und Vereine könnten das Übrige tun.

Letztlich gebietet ein bürger­li­cher Habitus in den konkreten Einzel­fragen aber auch ein maßvolles Abwägen aller Inter­essen und Aner­ken­nungs­an­sprüche. Über die Diskus­sion um eine Poli­zei­re­form in den USA habe ich mich bereits im letzten Brief aus Amerika geäußert. Hier haben die „Wokes“ einen Punkt, wenn auch das wörtliche defund the police abzu­lehnen ist. Wie sieht es bei den Statuen aus, deren Abriss jetzt überall in den USA gefordert wird? Auch hier gilt es zu diffe­ren­zieren: ich finde, die Statuen subal­terner Südstaa­ten­ge­ne­räle, die heute ohnehin niemand mehr kennt, und die in der Ära der Recon­s­truc­tion im Süden ohnehin nur aus rassis­ti­schen Motiven aufge­stellt wurden, können weg. Hier gibt es einfach kein plausibel ausrei­chendes erin­ne­rungs­po­li­ti­sches öffent­li­ches Interesse. Es ist aber auch klar: die Statuen von George Washington und Thomas Jefferson werden nicht abge­rissen. Erklärt und in einen histo­ri­schen Kontext einge­bunden, der zeigt, dass auch diese Männer krumm waren, ja; Abriss nein.

Was ist mit anti­ras­sis­ti­schen Demos in Zeiten der Pandemie? Hier gilt wiederum das Prinzip der recht­li­chen Gleich­heit: egal wie „woke“ das Anliegen ist, dessent­wegen demons­triert wird: alle haben sich an die gleichen Hygenie- und Abstands­re­geln zu halten; und zur Not muss auch eine Anti­ras­sis­mus­de­mons­tra­tion verboten bzw. aufgelöst werden, wenn dies nicht garan­tiert werden kann.

Zum Schluss noch ein Wort zu meinem akade­mi­schen Fach, der Ökonomik, die auch in unre­gel­mä­ßigen Abständen ihre toxic culture Debatten hat. Frauen und Nicht­weiße sind in der Ökonomik tradi­tio­nell unter­re­prä­sen­tiert, noch stärker als in anderen akade­mi­schen Diszi­plinen, und dies wird von vielen auf den toxischen Umgang vor allem der mächtigen, zumeist männ­li­chen und weißen Profes­so­ren­man­da­rinen gegenüber Jüngeren, Nicht­weißen und Frauen zurück­ge­führt. Auch in Deutsch­land gibt es diese Diskus­sion. Auch hier habe ich sehr viel Sympathie für die Diversity-Position: die Ökonomik als Fach wird schlechter, wenn sie nicht die ganze Diver­sität des sozialen und ökono­mi­schen Gesche­hens in den Blick nimmt. Dass sie es doch tut, ist bei diversem Personal zumindest wahr­schein­li­cher. Hinzu kommt, dass aufgrund von Vorbild­ef­fekten mangelnde Profes­so­ren­di­ver­sität dazu führen kann, dass nicht jedes geeignete und inter­es­sierte Talent für die Ökonomik gewonnen werden kann, und somit der marginale weiße männliche Professor vermut­lich deutlich schlechter ist als das nicht­weiße, nicht­männ­liche Talent, das abge­schreckt wurde. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch inef­fi­zient. Wo es proble­ma­tisch wird: mehr Diver­sität sollte nicht dazu führen, dass weißes männ­li­ches Talent heute überhaupt keine Chance mehr hat. Die jungen Nach­wuchs­wis­sen­schaftler sollten nicht für die Sünden ihrer Vorgänger bezahlen. Das ist jedoch ein Über­gangs­pro­blem, das der Staat mit mehr Geld lösen könnte.

Textende

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