Brief aus Amerika: Quo vadis, USA?

US-Präsident Donald Trump und Präsi­dent­schafts­kan­didat Joe Biden am 29. September 2020 in Cleveland, Ohio. Foto: Christos S/​Shutterstock

Es gab selten eine Wahl, bei der so viel auf dem Spiel stand wie die kommende Präsi­dent­schaftswahl in den USA. Rüdiger Bachmann fasst die aktuellen Umfragen zusammen und schildert die tiefe politisch-kultu­relle Polari­sierung des Landes. Sie wird auch nach dem Wahltag nicht verschwinden. Ein Grund­problem liegt in der Dysfunk­tio­na­lität des Wahlsystems und einer Verfas­sungs­ordnung, die im 18. Jahrhundert ein kühner Fortschritt war, aber für eine moderne Demokratie nicht mehr passt.

Es ist genau eine Woche vor der wahrscheinlich wichtigsten Wahl meines bishe­rigen Lebens, und ich schreibe meinen vorerst letzten Brief aus Amerika. Obwohl ich nun beinahe zwanzig Jahre in den USA und seit einem Jahr auch Bürger dieses merkwür­digen Landes bin, plagt mich das Gefühl, dass ich Amerika nicht mehr verstehe. Einem Experten ist sein Gegen­stand verloren gegangen. Doch davon später mehr.

Portrait von Rüdiger Bachmann

Rüdiger Bachmann ist Professor am Department of Economics an der Univer­sität Notre Dame, USA

Zunächst einmal: wo steht der Wahlkampf im Moment? Über 65 Millionen Ameri­kaner haben schon ihre Stimme abgegeben, das sind über 5 Millionen mehr als 2016 insgesamt vor dem eigent­lichen Wahltag gewählt hatten. Diese Zahl dürfte noch deutlich ansteigen. In den natio­nalen Wahlum­fragen liegt der Kandidat der Demokraten, Joe Biden, mit rund 7 bis 8 Prozent­punkten vorne, das ist schon deutlich mehr als Hilary Clinton 2016 zum selben Zeitpunkt (es wird in der Erzählung über 2016 oft ignoriert, dass Hilary Clinton kurz vor der Wahl massiv an Zustimmung verlor). Das Rennen ist auch deutlich stabiler als 2016, denn die Großereig­nisse dieses Wahlkampfes – die beiden Debatten und die Covid-19 Erkrankung des Präsi­denten – verur­sachten nur geringe und sehr kurzfristige Ausschläge in den Umfragen. Es ist nicht abzusehen, dass ein wahlent­schei­dendes Ereignis in den verblei­benden 7 Tagen noch eintreten wird. Die Umfra­ge­ex­perten sagen uns zudem, dass es anders als 2016 keine Warnhin­weise in den Umfragen auf der Staats­ebene oder der Wahlkreis­ebene für Joe Biden gibt. Besonders letztere, also sehr fein geglie­derte Umfragen in den einzelnen Wahlkreisen der Kongress­ab­ge­ord­neten, sprechen nach Ansicht der Experten sehr für einen USA-weiten Sieg Joe Bidens.

Ein weiteres Moment für Biden ist, leider, die wieder anschwel­lende Corona­dy­namik mit höchsten Fallzahlen, anstei­genden Hospi­ta­li­sie­rungs­raten und Todes­zahlen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist in den Umfragen das Management der Corona­krise nicht nur eines der wichtigsten Themen für die Ameri­kaner, insbe­sondere für die tradi­tionell republi­ka­nisch wählenden Senioren, sondern auch eines der Themen, bei denen Donald Trump schlecht abschneidet. Zweitens haben einfach schon viel mehr Menschen für Joe Biden gewählt, und für Trump wäre es verheerend, wenn nur ein paar Hundert­tausend seiner poten­ti­ellen Wähler wegen der Corona­ent­wicklung einfach zu Hause blieben.

Aller­dings ist auch klar, dass der Präsident nicht aufgrund des landes­weiten Ergeb­nisses gewählt wird, sondern durch die Stimmen­mehrheit im sogenannten Electoral College, in dem jeder Bundes­staat der USA in etwa nach seiner Bevöl­ke­rungs­größe gewichtet Stimmen zugeteilt bekommt. Es ist also völlig gleich­gültig, wie hoch Joe Biden in New York oder Kalifornien gewinnt, sein Stimmen­anteil im Electoral College wird dadurch nicht größer. Das hat den Effekt, dass nur wenige Bundes­staaten letztlich wahlent­scheidend sein werden: Wisconsin, Michigan (der Staat, in dem ich wohne) und Pennsyl­vania im Mittleren Westen; sowie Florida, North Carolina und Arizona im Süden. Außen­sei­ter­chancen für überra­schende Wahler­geb­nisse dürften auch noch Georgia, Iowa und Ohio bieten, sowie, aller­dings noch mal etwas unwahr­schein­licher: Texas. Wenn Joe Biden Wisconsin, Michigan und Pennsyl­vania zurück­ge­winnt – und das sagen die Umfragen im Moment – dann ist die Wahl zu seinen Gunsten gelaufen, und er kann es sich lesiten, alle anderen genannten Staaten zu verlieren. Pennsyl­vania dürfte dabei am wackligsten sein, aller­dings auch der Staat, bei dem wegen der schlechten Wahlin­fra­struktur das Ergebnis erst lange nach dem Wahlabend feststehen könnte.

Ebenso wäre das Rennen für Biden wohl bei einem Sieg in Florida gelaufen, das aber auch deshalb spannend bleibt, weil zwar die gerne in Florida residie­renden Senioren Trump in Scharen davon laufen, dafür aber die zum Teil erzkon­ser­va­tiven aus Kuba stammenden Latinos dieses Mal in viel größerer Zahl als 2016 Trump unter­stützen dürften. So merkwürdig es für europäische Ohren klingt, fürchten sie unter einer Präsi­dent­schaft der Demokraten einen Ruck in Richtung Sozia­lismus, vor dem sie aus Kuba geflohen sind. Insgesamt liegt Biden in diesen eng umkämpften Staaten in den Umfragen etwas, aber eben nur leicht (nicht ganz 1 Prozent Punkt) besser als Hilary Clinton. Die Demoskopen sagen uns zwar, dass man dieses Mal aus 2016 gelernt habe und deutlich mehr und bessere Umfragen in diesen Battle­ground States durch­führe und insbe­sondere die Schul­bildung der Wähler­schaft besser berück­sichtige – Trump wird von den meinsten Wählern mit Hochschul­ab­schluss abgelehnt, von denen ohne oft geradezu verehrt -, aber nichts garan­tiert, dass man 2020 die Wähler­schaft wirklich besser abgebildet hat als 2016 (was im übrigen auch bedeuten kann, dass der Vorsprung Bidens gerade unter­schätzt wird).

Man muss also konsta­tieren: das Rennen bleibt offen mit einem leichten Vorteil Biden. Wie hoch der genau ist, kann keiner sagen. Die Wettmärkte sehen Trumps Chancen bei etwa einem Drittel, der Wahlsta­tis­tiker Nate Silver bei etwas über 10 Prozent, und der Economist noch etwas darunter bei  etwa 5 Prozent. Um mich dennoch bei etwas festzu­legen: ich gehe fest davon aus, dass mein Heimat­staat Michigan wieder demokra­tisch werden wird. Und auch noch auf ein zweites lege ich mich fest: sollte Trump wieder­ge­winnen, dann wird die Demoskopie als Wissen­schaft einpacken müssen.

Warum dann trotz des Vorteils Biden meine elegische Stimmung, schrieb ich doch noch im Juli voller Hoffnung über meine neue Heimat? Erstens bleibt ein ungutes Gefühl: die Experten sagen zwar, dass die Umfragen in 2020 ein ganz anderes Bild als die in 2016 zeichnen; und dennoch bleibt, dass die Demoskopen 2016 massive Fehler gemacht haben. Wer kann schon sagen, dass man dieses Mal nicht einfach nur die Fehler von 2016 korri­giert hat, 2020 aber ganz neue Fehler macht? Vielleicht gibt es den versteckten Trump­wähler, der bei Umfragen einfach „denen da oben“ nicht die Wahrheit sagt doch? Trump wurde vielfach aus irratio­nalen und rein emotio­nalen Gründen gewählt, warum soll sich das nicht wieder­holen, und sei es auch nur deshalb, um die „Kommu­nisten und Linken“ von der politi­schen Macht fernzu­halten, nachdem sie schon alle kultu­relle Macht haben. Wie ich im letzten Brief geschrieben habe, denken selbst gebildete Konser­vative in den USA so. Insofern erlebe ich auch das beklem­mende Gefühl des älter werdenden Sozial­wis­sen­schaftlers, dass Sozial­wis­sen­schaft als Unter­fangen, die Struktur und Ordnung in sozialen Phäno­menen zu erkennen, vielleicht gar unmöglich ist.

Zweitens ist auch eine Chance von zehn Prozent für die mögliche Wiederwahl eines Präsi­denten mit proto­fa­schis­toiden Tendenzen, der die Insti­tu­tionen in den USA in einer zweiten Amtszeit wohl endgültig schleifen, die inter­na­tionale Ordnung weiter gefährden und den weltweiten Kampf gegen den Klima­wandel massiv erschweren würde, ziemlich beunru­higend. Würden Sie in ein Flugzeug steigen, das eine 10 Prozent-Wahrschein­lichkeit hätte abzustürzen?

Drittens ist unklar, ob der Trumpismus und die damit verbundene extreme Polari­sierung der ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft abnehmen wird, selbst wenn Joe Biden und die Demokraten haushoch gewinnen (es sieht sehr danach aus, dass dies zumindest für das Reprä­sen­tan­tenhaus der Fall sein wird). Trumps Wähler und deren Hass auf die gebil­deten, liberalen Küsten­be­wohner sind ja am 4. November nicht einfach weg. Ich gebe zu, dass ich das ganze Ausmaß dieser Polari­sierung lange nicht gesehen habe. Es ist ebenso erstaunlich wie erschre­ckend, wie sehr Trump die Welt spaltet, und zwar in ganz wörtlichem Sinne: Trump­an­hänger leben tatsächlich in einer ganz anderen Welt. Für sie sind etwa seine Twitte­res­ka­paden besten­falls Stilfragen, die Ernennung einer erzkon­ser­va­tiven Verfas­sungs­rich­terin so kurz vor der Wahl und vor allem der partei­po­li­tische Trium­pha­lismus bei ihrer Ernennung ein völlig normaler politi­scher Vorgang. Das beschädigt schon jetzt die Integrität der neuen Richterin, obwohl sie zweifellos juris­tisch hochqua­li­fi­ziert ist. Politik als Krieg.

Wie kann es sein, frage ich mich, dass Trump überhaupt eine 10 Prozent Chance hat? Das ist es, was ich an meinem Amerika nicht mehr verstehe; einem Land, in dem ich 2001 vorbe­haltslos mit großzü­giger finan­zi­eller Unter­stützung von einer der besten Univer­si­täten der Welt zum Doktor­rats­studium aufge­nommen wurde; einem Land, in dem ich mit Kollegen aus allen Erdteilen und mit allen Hautfarben gelernt und geforscht habe; einem Land, in dem ich mit einer Frau asiati­scher Herkunft, die hier schon vom äußeren Habitus her viel selbst­ver­ständ­licher Profes­sorin sein kann als in Deutschland, eine wunderbare Familie gründen durfte, während uns in Deutschland oft immer noch die von Gerhard Polt in seinem so großar­tigen Mai Ling Sketch aufge­spieste Einstellung entgegenschlägt.

Gleich­zeitig muss man eine zu große Macht des linken Flügels der Demokraten fürchten, der mit seiner Religi­ons­feind­lichkeit, seiner habitu­ellen Arroganz, seinem mehr oder weniger offenen Antise­mi­tismus und seiner Missachtung rechts­staat­licher Prinzipien spiegel­bild­liche illiberale, ja autoritäre Tendenzen aufweist wie der jetzige Präsident selbst. Es ist also unklar, ob Joe Biden seinen Kurs der Mitte und der natio­nalen Versöhnung wird durch­setzen können.

Viertens werden jetzt funda­mentale Fehlent­wick­lungen in der Staats­kon­struktion der USA überdeutlich. Das beginnt mit dem Wahlrecht und der Wahlin­fra­struktur. Die von der Verfassung vorge­gebene Fiktion, dass der Präsident letztlich nur als ein Bundes­ober­haupt von und durch souveräne Einzel­staaten gewählt wird (etwa vergleichbar mit der Wahl eines EU Präsi­denten oder Kommis­si­ons­vor­sit­zenden), so dass jeder Staat sein Wahlrecht und seine Wahlin­fra­struktur indivi­duell gestalten darf, passt meines Erachtens nicht zu der Idee einer „more perfect Union“, wie sie in der Präambel der ameri­ka­ni­schen Verfassung angestrebt wird, weil sie faktisch zur Benach­tei­ligung großer Teil der Bevöl­kerung führt. Etliche Staaten legen es darauf an, ganz gezielt bestimmte Wähler­gruppen von den Urnen fernzu­halten. Sie stellen deshalb eine völlig veraltete Wahlin­fra­struktur bereit. Es ist ja nicht so, dass ein Hochtech­no­lo­gieland wie die USA nicht besser wählen könnte. Hier geht es vielmehr um politische Entschei­dungen. Das Wahlrecht, das nicht in der Bundes­ver­fassung, sondern in den einzelnen Staaten kodifi­ziert ist, und die veraltete Wahltech­no­logie lassen massiven Missbrauch zu, so dass Wahlkreis­grenzen bis ins Absurde gezogen werden, um die Mehrheit der gerade in einem Staat regie­renden Partei in alle Ewigkeit festzu­zurren, Stimmen durch obskure ad-hoc Regelungen durch die Legis­la­tiven oder Exeku­tiven der Staaten einfach nicht gezählt werden und Entschei­dungen über den Wahlausgang am Ende  bei den Gerichten landen.

Ein weiterer Aspekt ist die unter Republi­kanern weitver­breitete Ansicht, die USA seien keine Demokratie, sondern eine Republik. Eine Republik kann aber auch eine Oligarchie sein, wie man im Geschichts­un­ter­richt in bezug auf die Römische Republik gelernt hat. Damals waren es die Landbe­sitzer, die die Macht in der Republik hatten, in den USA sollen es nach Ansicht vieler Republi­kaner die Weißen und Wohlha­benden sein. Mit diesem Republik-Diktum wird zum Beispiel die Insti­tution des Electoral College, die histo­risch aus wahlprak­ti­schen Gründen ihre Berech­tigung hatte, bei der damit ebenfalls angedachten Verhin­derung eines Madmans im Weißen Haus aber im Falle Donald Trumps völlig versagt hat, gerecht­fertigt. Dabei wird vergessen, dass vor noch gar nicht langer Zeit es vor allem promi­nente Republi­kaner waren, die im Namen der Demokratie das Electoral College zugunsten eines natio­nalen Mehrheits­wahl­rechtes bei der Wahl des Präsi­denten abschaffen wollten. Mit diesem Diktum kann aber auch die oben beschrie­benen Defizite im Wahlrecht und der Wahlin­fra­struktur recht­fer­tigen. Wenn man keine richtige Demokratie ist, dann muss man das mit dem Wählen eben auch nicht so genau nehmen.

Natürlich gehört zu einem modernen Staats­wesen westlicher Prove­nienz nicht nur Demokratie – eine Demokratie im Sinne reiner Mehrheits­ent­schei­dungen wäre eine dysfunk­tionale, tyran­nische Staatsform. Die Herrschaft der Mehrheit muss durch Checks & Balances, garan­tierte Grund­rechte und die Herrschaft des Rechts eingehegt werden. Insofern kann man dem grund­sätz­lichen Impetus mancher Republi­kaner beipflichten. Sie irren aber in zweierlei Hinsicht: erstens kann eine Republik, die nicht immer wieder versucht, die politische Parti­zi­pation aller de jure und de facto zu gewähr­leisten, auch eine Tyrannei sein, eine Tyrannei der Minderheit. Und zweitens gibt es für das Problem der Bewahrung indivi­du­eller Freiheits­rechte gegenüber einer tyran­ni­schen Majorität modernere und zielge­nauere Mittel als ein Electoral College und ein marodes Wahlsystem.

Das deutsche Grund­gesetz könnte hier ein Vorbild sein. Deutschland schafft es ja auch, indivi­duelle Freiheits­rechte unumstößlich zu garan­tieren, allen voran die Anerkennung der Menschen­würde. In den USA ist die Ausweitung demokra­ti­scher Rechte und Verfahren über die Verfassung zwar nicht ohne histo­rische Vorbilder – etwa bei der Ausweitung des Wahlrechtes auf Frauen und Afroame­ri­kaner. Eine Verfas­sungs­än­derung steht in den USA aller­dings vor sehr hohen Hürden, die faktisch bei der gegen­wär­tigen gesell­schaft­lichen und politi­schen Polari­sierung nicht mehr zu nehmen sind. Insofern leiden die USA auch unter dem Fluch des Alters ihrer Verfassung, die ich zwar trotz allem verehre, die aber, das muss man nüchtern anerkennen, für die Gesell­schaft des späten 18. Jahrhun­derts gemacht wurde.

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