Brief aus Amerika: Quo vadis, USA?
Es gab selten eine Wahl, bei der so viel auf dem Spiel stand wie die kommende Präsidentschaftswahl in den USA. Rüdiger Bachmann fasst die aktuellen Umfragen zusammen und schildert die tiefe politisch-kulturelle Polarisierung des Landes. Sie wird auch nach dem Wahltag nicht verschwinden. Ein Grundproblem liegt in der Dysfunktionalität des Wahlsystems und einer Verfassungsordnung, die im 18. Jahrhundert ein kühner Fortschritt war, aber für eine moderne Demokratie nicht mehr passt.
Es ist genau eine Woche vor der wahrscheinlich wichtigsten Wahl meines bisherigen Lebens, und ich schreibe meinen vorerst letzten Brief aus Amerika. Obwohl ich nun beinahe zwanzig Jahre in den USA und seit einem Jahr auch Bürger dieses merkwürdigen Landes bin, plagt mich das Gefühl, dass ich Amerika nicht mehr verstehe. Einem Experten ist sein Gegenstand verloren gegangen. Doch davon später mehr.
Zunächst einmal: wo steht der Wahlkampf im Moment? Über 65 Millionen Amerikaner haben schon ihre Stimme abgegeben, das sind über 5 Millionen mehr als 2016 insgesamt vor dem eigentlichen Wahltag gewählt hatten. Diese Zahl dürfte noch deutlich ansteigen. In den nationalen Wahlumfragen liegt der Kandidat der Demokraten, Joe Biden, mit rund 7 bis 8 Prozentpunkten vorne, das ist schon deutlich mehr als Hilary Clinton 2016 zum selben Zeitpunkt (es wird in der Erzählung über 2016 oft ignoriert, dass Hilary Clinton kurz vor der Wahl massiv an Zustimmung verlor). Das Rennen ist auch deutlich stabiler als 2016, denn die Großereignisse dieses Wahlkampfes – die beiden Debatten und die Covid-19 Erkrankung des Präsidenten – verursachten nur geringe und sehr kurzfristige Ausschläge in den Umfragen. Es ist nicht abzusehen, dass ein wahlentscheidendes Ereignis in den verbleibenden 7 Tagen noch eintreten wird. Die Umfrageexperten sagen uns zudem, dass es anders als 2016 keine Warnhinweise in den Umfragen auf der Staatsebene oder der Wahlkreisebene für Joe Biden gibt. Besonders letztere, also sehr fein gegliederte Umfragen in den einzelnen Wahlkreisen der Kongressabgeordneten, sprechen nach Ansicht der Experten sehr für einen USA-weiten Sieg Joe Bidens.
Ein weiteres Moment für Biden ist, leider, die wieder anschwellende Coronadynamik mit höchsten Fallzahlen, ansteigenden Hospitalisierungsraten und Todeszahlen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist in den Umfragen das Management der Coronakrise nicht nur eines der wichtigsten Themen für die Amerikaner, insbesondere für die traditionell republikanisch wählenden Senioren, sondern auch eines der Themen, bei denen Donald Trump schlecht abschneidet. Zweitens haben einfach schon viel mehr Menschen für Joe Biden gewählt, und für Trump wäre es verheerend, wenn nur ein paar Hunderttausend seiner potentiellen Wähler wegen der Coronaentwicklung einfach zu Hause blieben.
Allerdings ist auch klar, dass der Präsident nicht aufgrund des landesweiten Ergebnisses gewählt wird, sondern durch die Stimmenmehrheit im sogenannten Electoral College, in dem jeder Bundesstaat der USA in etwa nach seiner Bevölkerungsgröße gewichtet Stimmen zugeteilt bekommt. Es ist also völlig gleichgültig, wie hoch Joe Biden in New York oder Kalifornien gewinnt, sein Stimmenanteil im Electoral College wird dadurch nicht größer. Das hat den Effekt, dass nur wenige Bundesstaaten letztlich wahlentscheidend sein werden: Wisconsin, Michigan (der Staat, in dem ich wohne) und Pennsylvania im Mittleren Westen; sowie Florida, North Carolina und Arizona im Süden. Außenseiterchancen für überraschende Wahlergebnisse dürften auch noch Georgia, Iowa und Ohio bieten, sowie, allerdings noch mal etwas unwahrscheinlicher: Texas. Wenn Joe Biden Wisconsin, Michigan und Pennsylvania zurückgewinnt – und das sagen die Umfragen im Moment – dann ist die Wahl zu seinen Gunsten gelaufen, und er kann es sich lesiten, alle anderen genannten Staaten zu verlieren. Pennsylvania dürfte dabei am wackligsten sein, allerdings auch der Staat, bei dem wegen der schlechten Wahlinfrastruktur das Ergebnis erst lange nach dem Wahlabend feststehen könnte.
Ebenso wäre das Rennen für Biden wohl bei einem Sieg in Florida gelaufen, das aber auch deshalb spannend bleibt, weil zwar die gerne in Florida residierenden Senioren Trump in Scharen davon laufen, dafür aber die zum Teil erzkonservativen aus Kuba stammenden Latinos dieses Mal in viel größerer Zahl als 2016 Trump unterstützen dürften. So merkwürdig es für europäische Ohren klingt, fürchten sie unter einer Präsidentschaft der Demokraten einen Ruck in Richtung Sozialismus, vor dem sie aus Kuba geflohen sind. Insgesamt liegt Biden in diesen eng umkämpften Staaten in den Umfragen etwas, aber eben nur leicht (nicht ganz 1 Prozent Punkt) besser als Hilary Clinton. Die Demoskopen sagen uns zwar, dass man dieses Mal aus 2016 gelernt habe und deutlich mehr und bessere Umfragen in diesen Battleground States durchführe und insbesondere die Schulbildung der Wählerschaft besser berücksichtige – Trump wird von den meinsten Wählern mit Hochschulabschluss abgelehnt, von denen ohne oft geradezu verehrt -, aber nichts garantiert, dass man 2020 die Wählerschaft wirklich besser abgebildet hat als 2016 (was im übrigen auch bedeuten kann, dass der Vorsprung Bidens gerade unterschätzt wird).
Man muss also konstatieren: das Rennen bleibt offen mit einem leichten Vorteil Biden. Wie hoch der genau ist, kann keiner sagen. Die Wettmärkte sehen Trumps Chancen bei etwa einem Drittel, der Wahlstatistiker Nate Silver bei etwas über 10 Prozent, und der Economist noch etwas darunter bei etwa 5 Prozent. Um mich dennoch bei etwas festzulegen: ich gehe fest davon aus, dass mein Heimatstaat Michigan wieder demokratisch werden wird. Und auch noch auf ein zweites lege ich mich fest: sollte Trump wiedergewinnen, dann wird die Demoskopie als Wissenschaft einpacken müssen.
Warum dann trotz des Vorteils Biden meine elegische Stimmung, schrieb ich doch noch im Juli voller Hoffnung über meine neue Heimat? Erstens bleibt ein ungutes Gefühl: die Experten sagen zwar, dass die Umfragen in 2020 ein ganz anderes Bild als die in 2016 zeichnen; und dennoch bleibt, dass die Demoskopen 2016 massive Fehler gemacht haben. Wer kann schon sagen, dass man dieses Mal nicht einfach nur die Fehler von 2016 korrigiert hat, 2020 aber ganz neue Fehler macht? Vielleicht gibt es den versteckten Trumpwähler, der bei Umfragen einfach „denen da oben“ nicht die Wahrheit sagt doch? Trump wurde vielfach aus irrationalen und rein emotionalen Gründen gewählt, warum soll sich das nicht wiederholen, und sei es auch nur deshalb, um die „Kommunisten und Linken“ von der politischen Macht fernzuhalten, nachdem sie schon alle kulturelle Macht haben. Wie ich im letzten Brief geschrieben habe, denken selbst gebildete Konservative in den USA so. Insofern erlebe ich auch das beklemmende Gefühl des älter werdenden Sozialwissenschaftlers, dass Sozialwissenschaft als Unterfangen, die Struktur und Ordnung in sozialen Phänomenen zu erkennen, vielleicht gar unmöglich ist.
Zweitens ist auch eine Chance von zehn Prozent für die mögliche Wiederwahl eines Präsidenten mit protofaschistoiden Tendenzen, der die Institutionen in den USA in einer zweiten Amtszeit wohl endgültig schleifen, die internationale Ordnung weiter gefährden und den weltweiten Kampf gegen den Klimawandel massiv erschweren würde, ziemlich beunruhigend. Würden Sie in ein Flugzeug steigen, das eine 10 Prozent-Wahrscheinlichkeit hätte abzustürzen?
Drittens ist unklar, ob der Trumpismus und die damit verbundene extreme Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft abnehmen wird, selbst wenn Joe Biden und die Demokraten haushoch gewinnen (es sieht sehr danach aus, dass dies zumindest für das Repräsentantenhaus der Fall sein wird). Trumps Wähler und deren Hass auf die gebildeten, liberalen Küstenbewohner sind ja am 4. November nicht einfach weg. Ich gebe zu, dass ich das ganze Ausmaß dieser Polarisierung lange nicht gesehen habe. Es ist ebenso erstaunlich wie erschreckend, wie sehr Trump die Welt spaltet, und zwar in ganz wörtlichem Sinne: Trumpanhänger leben tatsächlich in einer ganz anderen Welt. Für sie sind etwa seine Twittereskapaden bestenfalls Stilfragen, die Ernennung einer erzkonservativen Verfassungsrichterin so kurz vor der Wahl und vor allem der parteipolitische Triumphalismus bei ihrer Ernennung ein völlig normaler politischer Vorgang. Das beschädigt schon jetzt die Integrität der neuen Richterin, obwohl sie zweifellos juristisch hochqualifiziert ist. Politik als Krieg.
Wie kann es sein, frage ich mich, dass Trump überhaupt eine 10 Prozent Chance hat? Das ist es, was ich an meinem Amerika nicht mehr verstehe; einem Land, in dem ich 2001 vorbehaltslos mit großzügiger finanzieller Unterstützung von einer der besten Universitäten der Welt zum Doktorratsstudium aufgenommen wurde; einem Land, in dem ich mit Kollegen aus allen Erdteilen und mit allen Hautfarben gelernt und geforscht habe; einem Land, in dem ich mit einer Frau asiatischer Herkunft, die hier schon vom äußeren Habitus her viel selbstverständlicher Professorin sein kann als in Deutschland, eine wunderbare Familie gründen durfte, während uns in Deutschland oft immer noch die von Gerhard Polt in seinem so großartigen Mai Ling Sketch aufgespieste Einstellung entgegenschlägt.
Gleichzeitig muss man eine zu große Macht des linken Flügels der Demokraten fürchten, der mit seiner Religionsfeindlichkeit, seiner habituellen Arroganz, seinem mehr oder weniger offenen Antisemitismus und seiner Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien spiegelbildliche illiberale, ja autoritäre Tendenzen aufweist wie der jetzige Präsident selbst. Es ist also unklar, ob Joe Biden seinen Kurs der Mitte und der nationalen Versöhnung wird durchsetzen können.
Viertens werden jetzt fundamentale Fehlentwicklungen in der Staatskonstruktion der USA überdeutlich. Das beginnt mit dem Wahlrecht und der Wahlinfrastruktur. Die von der Verfassung vorgegebene Fiktion, dass der Präsident letztlich nur als ein Bundesoberhaupt von und durch souveräne Einzelstaaten gewählt wird (etwa vergleichbar mit der Wahl eines EU Präsidenten oder Kommissionsvorsitzenden), so dass jeder Staat sein Wahlrecht und seine Wahlinfrastruktur individuell gestalten darf, passt meines Erachtens nicht zu der Idee einer „more perfect Union“, wie sie in der Präambel der amerikanischen Verfassung angestrebt wird, weil sie faktisch zur Benachteiligung großer Teil der Bevölkerung führt. Etliche Staaten legen es darauf an, ganz gezielt bestimmte Wählergruppen von den Urnen fernzuhalten. Sie stellen deshalb eine völlig veraltete Wahlinfrastruktur bereit. Es ist ja nicht so, dass ein Hochtechnologieland wie die USA nicht besser wählen könnte. Hier geht es vielmehr um politische Entscheidungen. Das Wahlrecht, das nicht in der Bundesverfassung, sondern in den einzelnen Staaten kodifiziert ist, und die veraltete Wahltechnologie lassen massiven Missbrauch zu, so dass Wahlkreisgrenzen bis ins Absurde gezogen werden, um die Mehrheit der gerade in einem Staat regierenden Partei in alle Ewigkeit festzuzurren, Stimmen durch obskure ad-hoc Regelungen durch die Legislativen oder Exekutiven der Staaten einfach nicht gezählt werden und Entscheidungen über den Wahlausgang am Ende bei den Gerichten landen.
Ein weiterer Aspekt ist die unter Republikanern weitverbreitete Ansicht, die USA seien keine Demokratie, sondern eine Republik. Eine Republik kann aber auch eine Oligarchie sein, wie man im Geschichtsunterricht in bezug auf die Römische Republik gelernt hat. Damals waren es die Landbesitzer, die die Macht in der Republik hatten, in den USA sollen es nach Ansicht vieler Republikaner die Weißen und Wohlhabenden sein. Mit diesem Republik-Diktum wird zum Beispiel die Institution des Electoral College, die historisch aus wahlpraktischen Gründen ihre Berechtigung hatte, bei der damit ebenfalls angedachten Verhinderung eines Madmans im Weißen Haus aber im Falle Donald Trumps völlig versagt hat, gerechtfertigt. Dabei wird vergessen, dass vor noch gar nicht langer Zeit es vor allem prominente Republikaner waren, die im Namen der Demokratie das Electoral College zugunsten eines nationalen Mehrheitswahlrechtes bei der Wahl des Präsidenten abschaffen wollten. Mit diesem Diktum kann aber auch die oben beschriebenen Defizite im Wahlrecht und der Wahlinfrastruktur rechtfertigen. Wenn man keine richtige Demokratie ist, dann muss man das mit dem Wählen eben auch nicht so genau nehmen.
Natürlich gehört zu einem modernen Staatswesen westlicher Provenienz nicht nur Demokratie – eine Demokratie im Sinne reiner Mehrheitsentscheidungen wäre eine dysfunktionale, tyrannische Staatsform. Die Herrschaft der Mehrheit muss durch Checks & Balances, garantierte Grundrechte und die Herrschaft des Rechts eingehegt werden. Insofern kann man dem grundsätzlichen Impetus mancher Republikaner beipflichten. Sie irren aber in zweierlei Hinsicht: erstens kann eine Republik, die nicht immer wieder versucht, die politische Partizipation aller de jure und de facto zu gewährleisten, auch eine Tyrannei sein, eine Tyrannei der Minderheit. Und zweitens gibt es für das Problem der Bewahrung individueller Freiheitsrechte gegenüber einer tyrannischen Majorität modernere und zielgenauere Mittel als ein Electoral College und ein marodes Wahlsystem.
Das deutsche Grundgesetz könnte hier ein Vorbild sein. Deutschland schafft es ja auch, individuelle Freiheitsrechte unumstößlich zu garantieren, allen voran die Anerkennung der Menschenwürde. In den USA ist die Ausweitung demokratischer Rechte und Verfahren über die Verfassung zwar nicht ohne historische Vorbilder – etwa bei der Ausweitung des Wahlrechtes auf Frauen und Afroamerikaner. Eine Verfassungsänderung steht in den USA allerdings vor sehr hohen Hürden, die faktisch bei der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Polarisierung nicht mehr zu nehmen sind. Insofern leiden die USA auch unter dem Fluch des Alters ihrer Verfassung, die ich zwar trotz allem verehre, die aber, das muss man nüchtern anerkennen, für die Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts gemacht wurde.
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