28 Jahre nach dem Mauerfall: Wir Ostkinder

Quelle: Raphael Thiémard/Flickr.com

Nach dem Mauerfall streifte er mit seinen Kumpels durch Ostberlin. Damals verstand Christoph Becker vom Zentrum Liberale Moderne, was Freiheit ist. Heute fragt er sich, was seitdem schief gelaufen ist. Ostdeut­sche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Der Westen habe sie betrogen. Doch nicht der Westen ist das Problem; es ist der Osten. Hier paart sich Eliten­skepsis mit Auto­ri­täts­hö­rig­keit, indi­vi­du­elle Lebens­ent­würfe treffen auf Unver­ständnis, Spott und Feind­se­lig­keit. Wie konnte die auto­ri­täre Enge der DDR eine Gesell­schaft derart verwüsten?

Als die Mauer fiel, war ich 13. Der Zusam­men­bruch der DDR fiel deshalb mit meinem Erwach­sen­werden zusammen. Die aufwüh­lenden Zeiten mit ihren uner­war­teten gesell­schaft­li­chen Frei­heiten poten­zierten sich quasi durch die aufge­regte Nervo­sität der Pubertät. In jugend­li­cher Kraft­meierei meinten wir, nichts könne uns stoppen. Das Leben war aufregend und versprach unbe­grenzte Möglich­keiten. Die Nach­wen­de­jahre erlebten wir als phan­tas­ti­schen Spiel­platz. Der DDR-Staat war in sich zusam­men­ge­fallen. Niemand schien ihn zu vermissen. Die neue Obrigkeit etablierte sich nur allmäh­lich. Es gab Freiräume ohne Ende. Wir machten einfach, was wir wollten, ohne dass jemand etwas dagegen sagte. Viele Leute in meiner Ostber­liner Insel zwischen Prenz­lauer Berg und Mitte nutzten diese Freiräume, um Neues auszu­pro­bieren. Der Mythos vom kreativen Berlin entstand.

Was ist in der DDR-Gesell­schaft schief gelaufen, dass auch 28 Jahre nach Ende der Teilung die Entfrem­dung von der west­li­chen Demo­kratie so stark ist? 

Dass gleich­zeitig in den Rand­be­zirken der Stadt Skinheads und Hooligans die Anarchie der Nach­wen­de­zeit nutzten, um ihre Hoheit über die Straße zu behaupten, war nicht zu übersehen. Wir vermieden es, nach Einbruch der Dunkel­heit außerhalb von Berlin-Mitte mit der S‑Bahn zu fahren oder taten dies nur in größeren Gruppen. Es gab berüch­tigte Ecken. Horror­ge­schichten machten die Runde, wie linke „Zecken“ aus der fahrenden S‑Bahn geworfen wurden. Damals konnte man die Tür noch während der Fahrt öffnen und es gab unmiss­ver­ständ­liche Dress­codes. Lange Haare zum Beispiel waren ein Risikofaktor.

Wehmut über verlorene Freiräume

Wenn ich auf die mitt­ler­weile 28 Nach­wen­de­jahre zurück­schaue, trauere ich nicht der DDR hinterher, sondern den 90er Jahren. Ich empfinde leichte Wehmut über die verloren gegan­genen Freiräume. Das hat sicher mit biogra­fi­schen Verän­de­rungen, dem Älter­werden, dem Kinder­kriegen, der Erwerbs­tä­tig­keit zu tun – aber auch mit der Etablie­rung einer neuen Gesell­schaft mit ihren gut funk­tio­nie­renden und zugleich einengenden Institutionen.

Wenn meine Jahr­gangs­ge­fährtin Jana Hensel („Zonen­kinder“, 2002) im Deutsch­land­funk sagt, sie sehe in der öffent­li­chen Erin­ne­rung an die Jahres­gleiche aus Mauer­be­stehen und Nach­mau­er­zeit den erneuten Versuch, das Anders­sein der Ostdeut­schen unter den Teppich zu kehren, fühle ich mich zunehmend unwohl. Natürlich habe auch ich die Verängs­ti­gung, Enttäu­schung und Verbit­te­rung unsere Eltern erlebt. Sie sahen ihre Biogra­fien entwertet, sich ungerecht behandelt und durch den Westen bevor­mundet. Die Arbeits­lo­sig­keit war hoch, viele gingen mangels Alter­na­tiven in den Westen. Die Betriebe eines ganzen Landes fielen in sich zusammen. Wer das beklagt, sollte aber nicht verschweigen, dass sie nur im abge­schlos­senen Habitat der sozia­lis­ti­schen Plan­öko­nomie exis­tenz­fähig waren.

Ganze Heer­scharen west­deut­scher Beamter, die wir für zweite Wahl hielten, wurden den Einhei­mi­schen vor die Nase gesetzt. Ihre Verset­zung in den Osten ließen sie sich mit einer „Dschun­gel­zu­lage“ versüßen. Zugleich war diese Zufuhr von Verwal­tungs­leuten, die mit dem neuen System vertraut waren, ein Vorteil gegenüber den anderen Trans­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaften in Osteuropa. Den Ostdeut­schen traute man Führungs­po­si­tionen häufig nicht zu. Und natürlich waren alle, die in der DDR in hohen Staats­po­si­tionen gedient hatten, kompro­mit­tiert. Die Bildungs­ab­schlüsse der Ostdeut­schen wurden in Frage gestellt und gestan­dene Leute mit Berufs­er­fah­rung wieder auf die Schulbank gesetzt. Nicht zuletzt müssen Ostdeut­sche bis heute mit weniger Rente auskommen, auch wenn sie nicht weniger gear­beitet hatten. Volks­wirt­schaft­lich mag das nicht anders möglich sein. Aber indi­vi­duell wird es wie eine nach­träg­liche Bestra­fung empfunden für ein marodes System, in das die meisten ja selbst schon hinein­ge­boren wurden. Dass die neuen Renten viel höher sind als die karge Alters­ver­sor­gung, die Normal­bürger in der DDR erwartete, fällt gern unter den Tisch. Man vergleicht sich nicht mit früher, sondern mit den „Westlern“.

Der Osten war weniger schrill und bunt; das Leben weniger kommer­zia­li­siert, obwohl es sehr wohl auch in der DDR um Konsum ging – die Flucht­welle 1989 und die Wieder­ver­ei­ni­gungs­rufe folgten eher der Verlo­ckung des Wohl­stands als der Freiheit. In den Augen vieler Ostdeut­scher erscheint der Alltag in der DDR als weniger ichbe­zogen und egois­tisch. Wer aller­dings im DDR-Regime Karriere machte, war entweder ein bemit­lei­dens­werter Ideologe, der die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatte. Oder er musste sich innerlich verbiegen und einen Teil seiner Selbst­ach­tung aufgeben. Der Dissens gegen „die da oben“ zog sich mit wenigen Ausnahmen ins Private zurück. Mit Ellen­bogen kam man jeden­falls nicht weit – mit andienen schon eher. Die Stillen im Lande waren oft die Gradlinigeren.

Selbst nach 1990 Geborene sehen sich als Ostdeutsche

Trotz allem Verständnis für die indi­vi­du­ellen Tragödien der Nach­wen­de­zeit ist mir die Haltung, der Westen habe uns betrogen und als Bürger zweiter Klasse abge­wertet, unan­ge­nehm. Aber auch wenn sie mir nicht zusagen, sind Stimmen wie Jana Hensel relevant. Sie spiegeln eine reale Stimmung in einem ganzen Landes­teil. Noch immer empfindet ein Teil der Bevöl­ke­rung eine Distanz zu den West­deut­schen. Selbst nach 1990 Geborene sehen sich als Ostdeut­sche, auch wenn eine neue Studie besagt, dass im Hinblick auf die Häufig­keit narziss­ti­scher Störungen bei Nach­wen­de­kin­dern kein Unter­schied zwischen Ost und West mehr fest­zu­stellen ist.

Ich frage mich zunehmend: Was ist in der DDR-Gesell­schaft schief gelaufen, dass auch 28 Jahre nach Ende der Teilung die Entfrem­dung von der west­li­chen Demo­kratie so stark ist? Warum haben im Osten so viele das Gefühl von Fremd­be­stim­mung und den Eindruck, das eigene Schicksal nicht in der Hand zu haben? Warum ist hier das Schimpfen auf die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen so laut? Warum ist es besonders laut, wenn man in der Gruppe ist? Warum gibt es so viel Frem­den­hass, wo es kaum Fremde gibt? Warum waren es ausge­rechnet viele Kinder von SED-Kadern, die zu Nazis wurden? Warum findet hier Pegida besondere Resonanz? Warum kann sich in Vorpom­mern die NPD seit über 20 Jahren mit gut 20 Prozent in den Gemein­de­räten halten? Warum kann die AfD in Sachsen Direkt­man­date für den Bundestag gewinnen und bei den Land­tags­wahlen 2019 auf einen Wahlsieg als stärkste Kraft hoffen? Und nicht zuletzt: warum ist Ostdeutsch­land anders als das ehemals kommu­nis­ti­sche Polen, Russland, Belarus usw. bis heute eine weit­ge­hend areli­giöse Zone geblieben?

Die Vision eines besseren Deutschlands

Natürlich sind die ostdeut­schen Dissi­denten bis heute mora­li­sche Insti­tu­tionen. Natürlich waren die Leipziger Montags­de­mons­tra­tionen coura­giert und ermu­ti­gend. Als am 4. November 1989 eine Million Menschen ihre Angst vor Honecker und Mielke abge­worfen hatte und zum Alex­an­der­platz flanierte; als auf der Tribüne die intel­lek­tu­elle Elite die Vision eines besseren Deutsch­lands ausbrei­tete – da fühlten wir uns dem konsu­mis­ti­schen Westen überlegen. Als am 18. März 1990 die ersten freien Volks­kam­mer­wahlen statt­fanden, wurde uns klar, dass wir nur eine verschwin­dende Minder­heit waren. Ganze 2,9 Prozent für Bündnis 90 und 2 Prozent für die Grünen sprachen Bände davon, dass die ostdeut­sche Gesell­schaft ganz anders tickte, als wir erhofft hatten. Selbst die Altkom­mu­nisten waren uns mit 16 % für die PDS haushoch überlegen.

Die DDR hat eine gesell­schaft­liche Wüste hinter­lassen. Das alte Bürgertum wurde elimi­niert, ein neues entwi­ckelt sich nur mühsam. Bürger­schaft­li­ches Enga­ge­ment ist unter­ent­wi­ckelt. Tiefes Miss­trauen gegen „die da oben“ paart sich mit Auto­ri­täts­hö­rig­keit. Indi­vi­du­elle Lebens­ent­würfe abseits der Norm treffen vielfach auf Unver­ständnis, Spott, Feind­se­lig­keit oder Gewalt. Die Frei­heiten der demo­kra­ti­schen Gesell­schaft werden von weiten Teilen der Bevöl­ke­rung negiert und die heutige Situation völlig undif­fe­ren­ziert mit der Bevor­mun­dung des DDR-Regimes gleich­ge­setzt. Von einer offenen Gesell­schaft können wir für Ostdeutsch­land kaum reden.

Wenn Jana Hensel 28 Jahre nach dem Mauerfall das Unbehagen der Ostdeut­schen formu­liert, sollte das uns Ostkinder nach­denk­lich stimmen, aber nicht mit Blick auf den Westen, sondern auf uns selbst.

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