Europa sollte von den Kleinen lernen – Milan Kundera und sein Ende der Geschichte

Foto: Imago

Was können Europas große Demokratien von den kleinen Nationen lernen? Unser Autor Nikolai Ott blickt auf Länder wie Polen, Taiwan und Südkorea, um dort liberale Resilienz und Entschlos­senheit zu finden und fragt provokant, ob der Westen das „Ende der Geschichte“ nicht zu früh gefeiert hat. Ein leiden­schaft­liches Plädoyer für neue europäische Vorbilder und einen wehrhaften Liberalismus.

Auf die Frage, wer Angst vor einem Atomkrieg habe, meldeten sich im Raum nur zwei Studie­rende: eine Schwei­zerin und ein Brite. Der Rest der Studie­renden, überwiegend Südko­reaner, schaute höchstens etwas resigniert, und der südko­rea­nische Professor nickte mit Blick auf die ausblei­benden Hände zustimmend. „Sehen Sie“, nun schaute der kahlge­schorene Koreaner lächelnd die Schwei­zerin an, „jeder kennt hier den Krieg, aber Optimisten sind wir trotzdem.“ Vielleicht war gerade das – dieser beiläufige Moment in einem Uni-Seminar zum Atomwaf­fen­regime – die sympto­ma­tischste Begegnung meiner Reisen im vergan­genen Jahr.

Kosovo, Polen, Taiwan, Südkorea: Lilipu­taner in Gullivers Welt

Vermutlich war es Zufall, dass mich all meine Auslands­auf­ent­halte in die Länder führten, die der ameri­ka­nische Politik­wis­sen­schaftler Robert O. Keohane einst als „Lilipu­taner in Gullivers Welt“ beschrieb. In den Kosovo, nach Polen, auf Taiwan oder in die südko­rea­nische Haupt­stadt – in all diese kleinen Nationen, deren Existenz im Großmäch­te­spiel der Weltge­schichte nie selbst­ver­ständlich war. In einer verwin­kelten Buchhandlung in Breslau hatte ich den neu aufge­legten Essay von Milan Kundera, „Die Tragödie Mittel­eu­ropas“, gefunden. Als ich diesen bemer­kens­werten Text das erste Mal las, fühlte ich mich von seiner Feststellung ertappt, dass ein Ameri­kaner oder Engländer es nicht gewohnt ist, über Fragen zu sprechen, die die Existenz der eigenen Nation betreffen. Für einen Deutschen galt dies – trotz unserer Geschichte – gleicher­maßen. In Polen wiederum verkündet schon die erste Zeile der Natio­nal­hymne, dass „Polen noch nicht gestorben ist“.

In diesem Polen hatte Kundera ein Passe­partout der kleinen Nation entdeckt: eine Nation, deren Existenz jederzeit in Frage gestellt werden kann. In Mittel­europa, diesem Gebiet zwischen Russland und Deutschland, hatte sich die kleine Nation als Normalfall der Geschichte einge­richtet, die sich zwischen dem Expan­si­ons­drang der Imperien von links und rechts behaupten musste. In der Weltge­schichte, dieser Erzählung von briti­schen Eroberern, dem franzö­si­schen Weltgeist zu Pferde oder russi­schen Kriegs­herren, verkör­perten diese Nationen die falsche Seite – die Seite der Außen­seiter und Verlierer. Der polnische Schrift­steller Witold Gombrowicz hatte nicht ohne Grund die Maxime verkündet, dass man der eigenen Geschichte nur dann entfliehen könne, wenn man sich der „Geschichte als solcher“ wider­setzt. Die Weltsicht der kleinen Nationen, so Kundera, wäre durch ein „tiefes Misstrauen in die Geschichte“ geprägt.

Ende der Geschichte aufgrund des kultu­rellen Siegs von Amerika

Vermutlich ist es die Ironie eben dieser Geschichte, dass ich auf meinen Reisen immer öfter bemerkte, dass es gerade diese kleinen Nationen sind, die als letzte noch an das Ende der Geschichte glauben: an die Überle­genheit der liberalen Demokratie, an das westliche Versprechen von Wohlstand und Sicherheit, an einen zaghaften Optimismus, dass alles besser werden kann. Wir erinnern uns: Der ameri­ka­nische Politik­wis­sen­schaftler Francis Fukuyama hatte in einem gleich­na­migen Essay 1989 das Ende der Geschichte ausge­rufen. Mit dem Rückgriff auf Kojèves Hegel-Exegese prophe­zeite er in der Konkur­renz­lo­sigkeit der westlichen Idee den sukzes­siven Sieg der liberalen Demokratie. Wie ein guter Hegelianer betrieb auch Fukuyama Geschichts­schreibung aus der Perspektive der großen Nationen. Das Ende der Geschichte war für ihn der kultu­relle Sieg der Ameri­kaner. Rock in tsche­chi­schen Clubs, Fast-Fashion in Asien oder McDonald’s in der ehema­ligen Sowjet­union – die ameri­ka­nische Konsum­ge­sell­schaft eroberte den Planeten. Aber auch in Russland und China erkannte Fukuyama nun die Muster des aufzie­henden Endes der Geschichte.

Expansion der kleinen Nationen

Während in den USA die Zweifel am globa­li­sierten Westen wuchsen und sich das Ende der Geschichte in Russland und China nie durch­setzen konnte, expan­dierten die kleinen Nationen rapide. Bei meinem Lande­anflug in Incheon konnte man bereits die Skyline von Seoul bestaunen, aber erst nach meinem ersten Museums­besuch wurde mir klar, wie viel in den letzten drei Jahrzehnten passiert war. Wo in Deutschland schon ein Bahnhofs­projekt zwei Jahrzehnte in Anspruch nimmt, hatte sich in Seoul eine der beein­dru­ckendsten Weltme­tro­polen entwi­ckelt. Der Buchhändler in Breslau – ein älterer Herr – erzählte mir, dass er bei seinem letzten Besuch in Warschau und Krakau über die vielen neuen Gebäude gestaunt habe. Freudig erklärte er, dass auch sein Sohn nach Polen zurück­ge­kehrt sei. Und tatsächlich gehen manche Experten heute davon aus, dass Polens Wirtschaft bis 2030 Großbri­tannien überholen könnte. Während man in westeu­ro­päi­schen Metro­polen plötzlich Gedan­ken­ge­spinste von weniger Wachstum und mehr Gemein­wohl­öko­nomie entwi­ckelte, hatten die kleinen Nationen schon aus ihrem Selbst­ver­ständnis abgeleitet, dass im Großmäch­te­spiel nur überlebt, wer solide Staats­fi­nanzen und eine prospe­rie­rende Wirtschaft hat.

Die Weltge­schichte – so Kundera – war die „Erzählung (…) einer Geschichte der Eroberer“. Die kleinen Nationen konnten keine Eroberer sein. Sie wussten um die Fragi­lität des Endes der Geschichte und dass nur eine aktive Vertei­digung dieses Endes verhindern konnte, die zerstö­re­ri­schen Kräfte der Geschichte wieder freizu­setzen. Lange bevor in Deutschland die Zeiten­wende ausge­rufen wurde, hatte man in Polen aus der Krim-Invasion die entspre­chenden Schluss­fol­ge­rungen gezogen. Vor zwei Wochen erzählte mir wiederum ein südko­rea­ni­scher Freund über KakaoTalk, dass er ab Mai seinen Militär­dienst antreten werde. Ich erinnerte mich an ein gemein­sames Mittag­essen mit ihm und einem finni­schen Studenten, der sich erstaunt darüber zeigte, dass wir in Deutschland keinen Militär­dienst hätten. Genau das hatte Kundera wohl gemeint. Ich als Deutscher wusste nicht, wie es sich anfühlt, wenn die Existenz der eigenen Nation jederzeit auf dem Spiel steht. Jetzt muss ich fast jeden Tag darüber nachdenken, wie die Zukunft Europas in dieser neuen Welt aussehen soll. Obwohl es weitest­gehend absehbar war, hat die Außen­po­litik Donald Trumps einen ganzen Kontinent aus dem Dornrös­chen­schlaf geweckt.

Kleine Nationen als neue Leitfi­guren liberaler Gesellschaften

Judith Shklars Vision eines „Libera­lismus der perma­nenten Minder­heiten“ scheint nun nicht nur gesell­schafts­po­li­tisch, sondern auch geopo­li­tisch zur ungewollten Realität zu werden. Schon Kundera hatte davor gewarnt, dass alle europäi­schen Nationen dem Risiko ausge­setzt sind, zu kleinen Nationen zu werden. „Das Schicksal von Mittel­europa antizi­piert das Schicksal von Europa“ – was für ein allge­gen­wär­tiger Satz! Wenn wir uns an die Worte von Witold Gombrowicz erinnern, ist ein resigniertes Kopf-in-den-Sand-Stecken aber keine Option. Wenn der Libera­lismus als weltge­schicht­liches Phänomen überleben will, muss er auch als Idee reüssieren. Auf der Suche nach neuen Vorbildern könnten es ausge­rechnet die kleinen Nationen sein, die zu den neuen Leitfi­guren der westlichen Zentristen werden, welche in ihrer Heimat zur Minderheit zu schrumpfen drohen. Vieles lässt sich heute von diesen Staaten lernen, die trotz ihrer jederzeit bedrohten Existenz in den vergan­genen Jahrzehnten die Nutznießer des Endes der Geschichte waren.

Ich denke hierbei an den Optimismus eines Kosovaren, der direkt neben unserer Unter­kunft einen kleinen Vintage-Laden eröffnet hat. Viele Jahre habe er in den USA gearbeitet, erzählte er uns, aber nun wolle er seinen Teil zum wirtschaft­lichen Aufschwung beitragen. Ich erinnere mich an den Innova­ti­ons­willen der Esten oder Taiwa­nesen. In Estland braucht es heute keinen Gang zum Amt mehr und in Taiwan werden die Chips produ­ziert, von denen der ganze Westen abhängt. Gedanken kommen hoch zum dritten Dezember in Südkorea, diesem unerfolg­reichsten aller Putsche. Am nächsten Tag erzählte mir ein Student, dass er nicht stundenlang als Soldat an der inner­ko­rea­ni­schen Grenze gefroren habe, nur damit ein Präsident die Demokratie abschaffe. Auch in Polen spürte man, wie eine „echte“ Zeiten­wende aussehen könnte – eine, die von der ganzen Bevöl­kerung getragen wird. Ehrli­cher­weise empfinde ich europäi­schen Optimismus dieser Tage nur noch, wenn ich den polni­schen Außen­mi­nister Radosław Sikorski sprechen höre.

Ausge­prägte liberale Resilienz

Es wäre falsch zu ignorieren, dass ein autori­tärer Backlash auch in diesen Ländern existierte. In Polen regierte lange die PiS, in Südkorea gibt es eine politisch gespaltene Gesell­schaft. Und doch scheint die liberale Resilienz hier wieder ausge­prägter zu sein. Das Ende der Geschichte war in diesen Staaten gekommen – und wird nun auch aktiv verteidigt. Die Staaten, die einem „tiefen Misstrauen in die Geschichte“ folgten, hatten ihren Fukuyama ernst­hafter gelesen als die vom Erfolg berauschten westlichen Großmächte – und mögli­cher­weise sogar als Fukuyama selbst. In seinem Magnum Opus hatte er noch das Ende des Realismus verkündet. Wozu braucht es noch Realismus, wenn alle Staaten der gleichen Logik der inter­na­tio­nalen Bezie­hungen folgen?

Ein avant­gar­dis­ti­sches Kerneuropa als Vertei­diger des liberalen Systems

Die kleinen Staaten folgten dieser Hoffnung nicht, wussten sie doch, wie schnell die bittere Logik der Geschichte zurück­schlagen konnte. Es brauchte eben ein wehrhaftes Ende der Geschichte, wie unlängst auch Fukuyama neu entdeckte. Vielleicht sind es die fortexis­tie­renden Feind­schaften, die dazu führten, dass in diesen Ländern nie die „Zeit der großen Lange­weile“ in ein „Jahrhundert des Autori­ta­rismus“ (Dahrendorf) umschlagen konnte. „Der Kampf der Menschheit gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen“, hatte Kundera einst in seinem Buch über das Lachen und Vergessen festge­stellt. Die Grausamkeit der Weltge­schichte nicht zu vergessen, war ein Überle­bens­vorteil der kleinen Nationen in den letzten Jahrzehnten – und ist zur raison d’être der Gegenwart für die liberale Demokratie geworden.

Vielleicht ist es gerade eine Chance für Liberale, wenn sie in den inter­na­tio­nalen Bezie­hungen wieder zu einer ideolo­gi­schen Minderheit werden. Auf der Suche nach einer eigenen europäi­schen Identität hatten die Philo­sophen Habermas und Derrida 2003 – im Angesicht des Irak-Kriegs – ein „avant­gar­dis­ti­sches Kerneuropa“ im kanti­a­ni­schen Sinne vorge­schlagen. Vielleicht sollte man sogar noch eine Stufe kleiner denken – mit viel Pathos und wenig Realismus lässt sich dieser liberale Kontinent schließlich nicht retten. Warum es das liberale System zu vertei­digen gilt, zeigen die kleinen Staaten heute vor. Es gilt, von ihnen zu lernen.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.