Was ist uns das freie Europa wert?
Ein Stopp von Öl- und Gasimporten aus Russland würde Putins Kriegsmaschine empfindlich treffen. Für unsere Energieversorgung wäre das ein Kraftakt. Wenn wir jetzt nicht bereit sind, einen Preis für die Freiheit der Ukraine zu zahlen, könnte uns noch ein sehr viel höherer Preis abverlangt werden.
Der Krieg in der Ukraine steht auf Messers Schneide. Wenn Putin darauf spekuliert hat, dass ihm die Ukraine wie eine reife Frucht in den Schoß fallen wird, hat er sich gründlich verrechnet. Nicht nur Kyjiw, auch die Städte im russischsprachigen Osten der Ukraine wehren sich mit verzweifeltem Mut. Putin geht jetzt zu den Methoden über, die er bereits in Tschetschenien und Syrien vorexerziert hat: Bombardierung von Wohnquartieren, Abschneiden belagerter Städte von Lebensmitteln und medizinischer Hilfe, Angriff auf die Energieversorgung. Wir hätten wissen müssen, wozu er fähig ist – wenn wir es denn hätten wissen wollen.
Vor unseren Augen spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab. Niemand weiß, wie lange die Ukrainer noch standhalten können. Wir haben zu lange gezögert, ihnen die Waffen zu liefern, die nötig sind, um sich die russische Übermacht vom Leib zu halten. Wir haben zu lange gebraucht, um wirtschaftliche Sanktionen auf den Weg zu bringen, die empfindlich treffen. Ihre volle Wirkung wird sich allerdings erst mit zeitlicher Verzögerung entfalten, zumal die Sanktionen eine klaffende Lücke haben: Der russische Energiesektor ist weitgehend ausgenommen.
Ausgerechnet die russischen Banken, über die der Öl- und Gashandel abgewickelt wird, unterliegen keinen Beschränkungen ihres internationalen Geschäfts. Seit Putin den Krieg vom Zaun gebrochen hat, exportieren Rozneft und Gazprom aus vollen Rohren. Aufgrund der Rekordpreise für Öl und Gas sind ihre Erlöse sprunghaft gestiegen. Mit anderen Worten: Die Europäische Union unterläuft mit den steigenden Importen russischer Kohlenwasserstoffe ihre eigenen Sanktionen. Wir spülen täglich mehrere Hundert Millionen Euro in die Kriegskasse des Kremls. Welche Schizophrenie, der Ukraine mit der einen Hand Waffen zu liefern und mit der anderen die russische Kriegsmaschine zu finanzieren.
Wir ernten jetzt die giftigen Früchte einer Energiepolitik, die uns über eine lange Strecke in immer tiefere Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland manövriert hat. Sie wurde von einer gut geschmierten Russland-Lobby forciert, an ihrer Spitze ein tief gesunkener Ex-Kanzler. Die von SPD wie Union betriebene „strategische Energiepartnerschaft“ mit Russland blendete bewusst oder fahrlässig die sicherheitspolitische Schlagseite dieser Strategie aus. Sie setzte sich ebenso kaltschnäuzig über die Warnungen unserer Partner in Mittel-Osteuropa hinweg wie über die Sicherheitsinteressen der Ukraine.
Jetzt ist guter Rat teuer. Wir stecken in einer selbst gebauten Falle. 55 Prozent des deutschen Erdgas-Verbrauchs und mehr als 40 Prozent unserer Ölimporte kommen aus Russland. Wir haben über Jahre hinweg die russische Aufrüstung und Putins Propagandaapparat finanziert. Russland ist ein fossiles Imperium. Die Einnahmen aus dem Export von Öl, Gas und Kohle machen den zwischen 30 und 40 Prozent des Staatshaushalts aus. Sie sind die Quelle für die schamlose Bereicherung der Machteliten, die mit Petro-Euros ihre Paläste und Luxusyachten finanzieren.
Ein langfristiger Ausstieg aus dieser schmutzigen Allianz ist kein Hexenwerk. Er erfordert vor allem den massiven Ausbau erneuerbarer Energien, den Aufbau eines internationalen Verbunds für grünen Wasserstoff, die Elektrifizierung des Verkehrs, den verstärkten Einsatz von Wärmepumpen und thermischer Solarenergie für das Heizen von Wohnungen und Büros sowie eine sprunghafte Steigerung der Energieeffizienz. Das Problem ist: Um Putin zu stoppen, müssen wir ihm sofort die finanziellen Ressourcen für seine Kriegsmaschine entziehen. Die Ukraine kann nicht warten, bis wir das russische Öl und Gas schmerzfrei durch alternative Energieträger ersetzt haben.
Wenn wir aus guten Gründen vermeiden wollen, in eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zu geraten, bleiben uns zwei Mittel, den Abwehrkampf der Ukraine zu unterstützen. Wir müssen ihr die effektivsten Waffensysteme liefern und Putin den Geldhahn zudrehen. Jeder Tag, an dem wir zögern und zaudern, wird mit Blut und Tränen der Ukrainer bezahlt.
Die Einnahmen aus dem Ölexport sind der größte Posten in der russischen Handelsbilanz. Die konsequenteste Antwort scheint deshalb ein Importstopp für russisches Erdöl. Die ausfallenden Lieferungen müssten durch verstärkte Importe aus den OPEC-Ländern ersetzt werden. Allerdings könnte auch der Kreml einen solchen Schritt vermutlich verschmerzen. Wenn arabisches Öl verstärkt nach Europa fließt, kann russisches Öl die entstehenden Lücken füllen, sofern das Land nicht komplett vom internationalen Zahlungsverkehr isoliert wird. Anders beim Gas: Ein Ausfall des europäischen Marktes wäre für Russland nicht kurzfristig zu kompensieren. Deshalb liegt hier die finanzielle Achillesferse des Regimes. Allerdings sind die Kosten für ein Gas-Embargo auch für die EU höher. Russland dominiert den weltweiten Gasmarkt. Die aktuelle Nachfrage übersteigt das Angebot, Erdgas-Importe lassen sich kurzfristig nur begrenzt diversifizieren. Auch Flüssiggas (LNG) ist knapp und teuer.
Russisches Erdgas deckt den aktuellen Bedarf der EU zu gut 40 Prozent. Sollten wir komplett aussteigen, bliebe nach Ausschöpfung aller kurzfristig verfügbaren Alternativen im kommenden Winterhalbjahr eine Lücke von 15 bis 20 Prozent. Sie würde vor allem die Industrie treffen, insbesondere die Grundstoff-Chemie. Der Stromsektor ist das geringste Problem. Notfalls können Gaskraftwerke vorübergehend durch Kohle und Atomstrom ersetzt werden. Der größte Gasschlucker sind Wohnungen und Bürogebäude. Hier würde bereits eine Senkung der Temperaturen um 2 Grad erhebliche Mengen einsparen. Niemand müsste deshalb kalte Füße bekommen. Energiesparen hilft uns aus der Klemme.
Wahr ist auch: Ein Gas- und Ölboykott gegen Russland würde die Energiepreise weiter hochtreiben. Steigende Energiekosten sind bereits heute ein Armutsrisiko für Geringverdiener und ein Wettbewerbsnachteil für energieintensive Unternehmen. Der Staat müsste für einen sozialen Ausgleich sorgen und die Betriebe entlasten, um ihnen Zeit für die Umstellung auf alternative Energieträger und effizientere Verfahren zu geben.
Gemessen an der ukrainischen Tragödie und der Bedrohung der europäischen Friedensordnung durch Putin erscheinen diese Probleme allerdings in einem anderen Licht. Sie zu bewältigen wäre weniger aufreibend als die Kraftanstrengung, die Covid-19 gefordert hat. Das gilt für den Bundeshaushalt wie für die Bürgergesellschaft. Am Ende wäre der Preis, den wir zahlen müssen, um Putin hier und jetzt die Finanzmittel für seine Kriegspolitik zu entziehen, sehr viel geringer als die Kosten einer künftigen Konfrontation mit einem neo-imperialen Russland.
Falls die deutsche und europäische Politik noch vor einer kompletten Unterbrechung der Gasimporte aus Russland zurückscheut, sollten wir zumindest Nord Stream 1 abstellen. Das würde rund ein Drittel der russischen Gasimporte in die EU treffen und wäre ohne große Friktionen zu bewältigen. Dennoch wäre es ein starkes Signal an den Kreml, dass die Europäer es ernst meinen. Gazprom müsste dann seine verbleibenden Exporte in die EU durch das kontinentale Pipeline-Netz schicken, einen Großteil durch die Ukraine. Das wäre die beste Rückversicherung gegen eine Zerstörung der ukrainischen Gas-Infrastruktur durch das russische Militär.
So oder so müssen wir jetzt rasch handeln, um noch mehr Leid und Zerstörung zu verhindern. Putin spekuliert darauf, dass die europäischen Demokratien nicht bereit sind, einen spürbaren Preis für die Verteidigung von Recht und Freiheit zu zahlen. Damit darf er nicht durchkommen. Der Preis könnte sonst sehr viel höher werden.
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