Israels Angriff auf Gaza-Stadt – Sieg oder Katastrophe?

Wenn die israelische Armee wie von der Regierung befohlen Gaza-Stadt erobern sollte, stünde das Land an einem historischen Wendepunkt, analysiert Richard C. Schneider in seiner aktuellen Kolumne und schaut auf das Für und Wider eines israelischen Angriffs auf Gaza-Stadt.
Gaza-Stadt gilt nicht nur als urbanes Zentrum, sondern auch als symbolisches Herzstück der Hamas. Der Einmarsch dorthin wäre militärisch eine Operation von größter Komplexität – und politisch ein Schritt, der weit über die Region hinaus wirken würde. Es stellt sich die Frage: Kann dieser Weg tatsächlich die Hamas besiegen und das erklärte Ziel einer „Entwaffnung“ der Terrororganisation erreichen? Und ist dieses Ziel legitim, wenn man die hohen Kosten bedenkt – sowohl menschlich als auch geopolitisch?
Stimmt die Analogie eines „Berlin-Effekts“?
Premierminister Benjamin Netanyahu verweist auf den „Berlin-Effekt“: Nur eine vollständige militärische Niederlage, wie im Zweiten Weltkrieg, könne einen dauerhaften Frieden schaffen. Damit legitimiert er sozusagen seine Strategie der totalen Kapitulation des Gegners. Gaza-Stadt wird von der israelischen Führung als Nervenzentrum der Hamas dargestellt. Dort sollen Kommandostellen, Waffendepots und Tunnelnetze konzentriert sein. Eine Einnahme könnte den operativen Schlag gegen die Hamas möglicherweise tatsächlich entscheidend vorantreiben.
Doch der Vergleich mit Berlin hinkt. Hamas ist keine staatliche Armee, die sich nach einer Kapitulation auflöst. Vielmehr handelt es sich um ein hybrides Geflecht aus Miliz, Untergrundbewegung und politischer Partei, eingebettet in ein dichtes soziales Umfeld. Selbst wenn Gaza-Stadt militärisch fällt, könnten Kämpfer in anderen Teilen des Gazastreifens oder in den Nachbarländern weiter operieren. Guerillakrieg und asymmetrische Angriffe wären wahrscheinlich, das eigentliche „Verschwinden“ der Hamas stünde in Frage.
Problem der Verhältnismäßigkeit
Ein Vorstoß in dicht besiedeltes Gebiet birgt noch dazu unkalkulierbare Folgen. Zivile Opferzahlen würden steigen, Infrastruktur und Wohnviertel massiv beschädigt. Schon jetzt sehen sich Israels Streitkräfte internationaler Kritik ausgesetzt; ein Häuserkampf in Gaza-Stadt würde die humanitäre Katastrophe verschärfen. Damit wächst der Druck auf Israel, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit einzuhalten – ein Grundpfeiler des Völkerrechts. Wobei niemand genau definiert, wo Verhältnismäßigkeit in einem asymmetrischen Krieg beginnt oder aufhört. Auch das ist ein Problem, da die öffentliche Meinung sich um solche Fragen nicht scheren wird.
Die Legitimität des Ziels, Hamas zu vernichten, wird von vielen Staaten zwar nicht grundsätzlich bestritten. Ebenso wenig die Notwendigkeit. Selbst 22 arabische Regierungen haben inzwischen öffentlich erklärt, dass die Hamas entwaffnet werden muss und sie nie mehr in Gaza das Sagen haben darf. Doch je stärker ziviles Leid in den Vordergrund tritt, desto brüchiger wird die internationale Unterstützung, insbesondere im Westen.
Auf dem Spiel: Das Leben der Geiseln
Eine der größten Unwägbarkeiten bleibt das Schicksal der Geiseln, die die Hamas noch immer in ihrer Gewalt hält. Je intensiver der militärische Druck, desto größer die Gefahr, dass die Hamas die Gefangenen als Schutzschilde nutzt oder gar gezielt tötet, wie sie es schon angekündigt hat. Ein Bodenangriff auf Gaza-Stadt könnte ihre Chancen drastisch verschlechtern. Die israelische Gesellschaft steht damit vor dem entscheidenden, ultimativen moralischen Konflikt: Ist der Sieg über Hamas wichtiger als das Überleben der eigenen Landsleute?
Während Teile der Bevölkerung nach Vergeltung und einer endgültigen Lösung rufen, fordern immer mehr Israelis Verhandlungen mit der Hamas und die sofortige Freilassung aller Geiseln für ein Ende des Krieges. In den Familien der Geiseln ist die Sorge allgegenwärtig, dass die Regierung ihre Angehörigen einer „Kollaterallogik“ opfert und sie ihre Liebsten nie wiedersehen werden.
Internationaler Druck auf Israel wächst
Außenpolitisch würde die Einnahme von Gaza-Stadt Israels Verhältnis zur Weltgemeinschaft auf eine harte Probe stellen. Die USA haben zwar bisher Rückendeckung gegeben, doch Washington steht unter wachsendem Druck seiner eigenen Bevölkerung und der internationalen Partner. US-Präsident Donald Trump will, dass Israel die geplante Offensive schnell durchführt und zu Ende bringt, Premier Benjamin Netanyahu hat ihm erklärt, dies sei ohne weiteres möglich. Das israelische Militär spricht dagegen von mehreren Monaten und warnt vor übertriebenen Siegeshoffnungen. Europa ist wie immer in der Sache gespalten: Während einige Staaten Israels Recht auf Selbstverteidigung betonen, wächst in anderen die Kritik an der Härte der Militäroperation generell. Immer häufiger fällt das Wort „Genozid“, ohne dass ein internationales Gericht bislang juristisch feststellen konnte, ob in Gaza ein Völkermord stattfindet oder nicht.
Für die arabische Welt wiederum ist Gaza ein hochemotionales Symbol. Selbst die Regierungen, die Hamas ablehnen, geraten durch Bilder von zerstörten Stadtvierteln und toten Zivilisten unter Druck der eigenen Bevölkerung. Jordaniens Königshaus, Ägypten und die Golfstaaten fürchten, dass die Lage die ohnehin fragile Region weiter destabilisieren könnte. Wobei sie aber hinter vorgehaltener Hand durchaus Genugtuung ausdrücken, dass Israel der Hamas den Garaus zu machen versucht, da die Muslimbruderschaft, deren palästinensischer Ableger die Hamas ist, für alle arabischen Herrscher eine permanente Bedrohung ist. Ein Sieg Israels würde die Muslimbrüder bedeutend schwächen.
Netanyahus Zukunft entscheidet sich in Gaza
Nicht zu unterschätzen ist aber auch die innenpolitische Dimension. Netanyahu setzt seine politische Zukunft auf die Karte des militärischen Sieges. Gelingt die Einnahme von Gaza-Stadt, könnte er sich als starker Führer inszenieren, der Israels Sicherheit über alles stellt. Scheitert die Operation oder bleibt der Erfolg nur temporär, droht ihm ein innenpolitisches Debakel. Schon jetzt wächst die Kritik an seiner Verantwortung für die Sicherheitslücken, die den Angriff der Hamas erst ermöglichten.
Israel muss das Für und Wider eines Angriffs auf Gaza-Stadt abwägen
Dafür spräche eine militärische Schwächung der Hamas, die kurzfristig Israels Sicherheit erhöhen könnte. Gleichzeitig wäre so ein Sieg eine klare Botschaft an andere feindliche Akteure wie Hizbollah oder Iran. Ein Erfolg könnte die Moral im Land und das Vertrauen in die Armee wiederherstellen.
Doch die Argumente dagegen sind ebenso gewichtig: Die Hamas könnte überleben, wodurch das Ziel einer vollständigen Vernichtung gescheitert wäre – eine Demütigung für Israel und seine Armee. Die humanitären Folgen des Einmarsches könnten Israels schon jetzt gravierende Isolation weiter vertiefen. Das Schicksal der Geiseln stünde auf dem Spiel und die Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens einige überleben, wäre gering. Und schließlich steht und fällt alles mit der Frage, wer am Tag 1 nach dem Krieg in Gaza regieren soll, wenn die Hamas entwaffnet wäre.
Ein gefährliches Dilemma
Ob die Einnahme von Gaza-Stadt wirklich den „Berlin-Effekt“ erzeugen kann, ist also zweifelhaft, zumindest unsicher. Die Legitimität des Ziels, die Hamas unschädlich zu machen, wird kaum bestritten. Doch die Mittel, die dazu gewählt werden, entscheiden über Israels moralische Position und seine Stellung in der Welt. Zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Risiko der Eskalation bewegt sich das Land in einem gefährlichen Dilemma. Gaza-Stadt könnte damit weniger das Ende eines Konflikts markieren, sondern vielmehr den Beginn einer noch schwierigeren Phase. Generalstabschef Eyal Zamir und seine Generalität sind die einzigen „Erwachsenen“ im Raum. Die Militärs sind strikt gegen die Pläne der Regierung, es kam zu lauten und heftigen Wortwechseln bei einer Anhörung im Sicherheitskabinett. Doch Premier Netanyahu bleibt bei seinem Vorhaben: Der Angriff auf Gaza-Stadt muss kommen. Die Generäle sind entsetzt, werden aber dem Befehl der Politik wohl Folge leisten.

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