Georgien: Reform­still­stand und die EU in weiter Ferne

Foto: Imago Images

Seit dem Beginn der russi­schen Invasion in die Ukraine sind Tausende aus Russland nach Georgien geflüchtet. Was das für die sicher­heits­po­li­tische Lage in Georgien bedeutet und ob das Land eine realis­tische Perspektive auf einen EU-Kandi­da­ten­status hat, analy­siert Khatia Kikalishvili.

Der 24. Juni 2022 war ein bitterer Tag für die georgische Gesell­schaft, die sich seit den 1990er Jahren zur Europäi­schen Union zugehörig fühlt. An diesem histo­ri­schen Tag erhielten die Ukraine und Moldau den EU-Kandi­da­ten­status − Georgien hingegen lediglich eine europäische Perspektive, die an die Erfüllung klarer Bedin­gungen geknüpft ist. Dieses in der EU-Außen­po­litik einzig­artige Zeitfenster wurde den Ukrai­ne­rinnen und Ukrainern zum Dank dafür eröffnet, dass sie bis heute mit ihrem Leben für die Freiheit und den künftigen Frieden in Europa kämpfen.

Was also sind die Gründe dafür, dass Georgien, einst der Reform­treiber in der Östlichen Partner­schaft, mit einer bloßen „Perspektive“ versehen wurde? Es ist eine Tatsache, dass das Land seit 2012 unter dem Oligarchen Bidzina Ivanishvili – de facto der Regie­rungschef – schwer­wie­gende Rückschritte bei der Demokra­ti­sierung und dem Aufbau unabhän­giger staat­lichen Insti­tu­tionen zeigt, bei Indika­toren also, die ein Bestandteil der Kopen­ha­gener Kriterien der EU sind. Dazu kamen in den letzten Jahren umstrittene Wahlen, die bewusst betriebene Polari­sierung der Gesell­schaft, die Verhaftung von politi­schen Opponenten (der ehemalige Präsident ist in Haft), Angriffe auf freie Medien, abwer­tende Verlaut­ba­rungen seitens der georgi­schen Regierung als Reaktion auf kritische Kommentare einzelner Europa­par­la­men­tarier sowie illegale Abhör­ak­tionen von westlichen Diplo­maten. Dies alles lässt den Schluss zu: Das Ansinnen des EU-Ratsprä­si­denten, die politische Krise in Georgien zu überwinden, ist letztlich gescheitert.

Nun hat die georgische Regierung von der Europäi­schen Kommission einen 12-Punkte-Plan zur Umsetzung der konkreten Reformen erhalten, der am Ende des Jahres 2023 bewertet wird, um eine mögliche Verleihung des Kandi­da­ten­status zu prüfen. Auf dem Spiel steht der europäische Kurs des Landes, den bisher 88 Prozent der georgi­schen Bevöl­kerung einhellig unterstützen.

 Sicher­heits­po­li­tische Lage nach dem 24. Februar 2022

Heute sind die imperia­lis­ti­schen Expan­si­ons­stra­tegien Russlands in seiner unmit­tel­baren Nachbar­schaft nicht mehr zu leugnen. Georgien, Moldau und Ukraine waren und sind primäre Ziele dieser Macht­po­litik. Russlands Angriffs­krieg in der Ukraine hat insbe­sondere den westlichen Partnern die Paral­lelen zu dem Russland-Georgien Krieg deutlich gemacht. Im Jahr 2008 hat Russland nach 14 Jahren der de-facto Besetzung Südos­setien und Abchasien völker­rechts­widrig anerkannt, ein Prozess, der bis heute durch eine schlei­chende Grenz­ziehung begleitet wird. Darüber hinaus wurden dort Militär­basen aufgebaut und die beide georgi­schen Regionen in einen gemein­samen Wirtschaftsraum einge­gliedert. In letzter Zeit wurden vermehrt Stimmen laut, einen Unions­staat mit Weißrussland zu bilden und Abchasien als Teil dieser neuen Union einzubeziehen.

Seit Jahren versucht das offizielle Tiflis erfolglos, gegenüber dem Kreml eine Politik zu vertreten, die die Spannungen verringert. Diese Politik ist auch der normativ fragwür­digen Haltung der georgi­schen Regierung gegenüber dem Ukrai­ne­krieg geschuldet. Die sogenannte „Neutra­li­sie­rungs­po­litik“ mit Russland kulmi­nierte darin, dass die georgische Regie­rungs­partei nicht der Resolution der parla­men­ta­ri­schen Versammlung des Europa­rates zustimmte, „Russland als Terror­staat“ zu verur­teilen. Dazu gehört auch, dass seit Beginn des Krieges die regie­rungs­nahen Medien gezielt gefähr­liche Narrative verbreiten, wie etwa: „Frieden oder Freiheit? Der Westen versucht in Georgien eine zweite Front zu öffnen.“ Andau­ernde Attacken auf die US-Botschaf­terin, mit der Beschul­digung, Georgien in den Krieg zu zwingen, machen deutlich, wie gefährdet Georgiens euroat­lan­ti­scher Kurs ist. Dies verstärkt die Unsicherheit der gespal­tenen und durch den Krieg trauma­ti­sierten georgi­schen Bevöl­kerung. Die Kluft zwischen der georgi­schen Regierung und der Zivil­ge­sell­schaft wird jeden Tag größer.

Einen zusätz­lichen Grund für die Unsicherheit schafft die andau­ernde „Flücht­lings­welle“ aus der Russi­schen Föderation. Um sich die paradoxe und gleich­zeitig drama­tische Situation nach der Teilmo­bi­li­sierung an der russisch-georgi­schen Grenze vorzu­stellen, muss man in die Geschichte Georgiens zurück­blicken. Genau vor 29 Jahren, im September 1993, ist Suchumi, die Haupt­stadt Abcha­siens, gefallen und ca. 240.000 Georgie­rinnen und Georgier sind bis heute Binnen­flücht­linge. Überflüssig zu erklären, dass der Kreml auch damals auf das Flücht­lings­elend hinge­wirkt hat. Es ist inter­na­tional anerkannt, dass heute 20 Prozent des georgi­schen Terri­to­riums von Russland okkupiert sind.  Es erstaunt umso mehr, dass tausende von verzwei­felten Russen nach Georgien fliehen, um ein sicheres „Zuhause“ zu finden. Sie kommen zu Fuß über die Berge, so wie damals die Georgier aus Abchasien über die svane­ti­schen Berge fliehen mussten. Geschichte wiederholt sich – nur unter anderen Vorzeichen.

„Wer sind diese Russen?“

Nach offizi­ellen Angaben des georgi­schen Innen­mi­nis­te­riums haben im Jahr 2022 112.733 russische Bürge­rinnen und Bürger die georgische Grenze überquert und machen damit 3,05 Prozent der Gesamt­be­völ­kerung Georgiens aus. Da das Land keine Visums­pflicht für russische Staats­bürger hat, sind diese zunächst befugt, 365 Tage in Georgien zu bleiben. Hinzu kommt, dass viele Russen ihre Geschäfte in Georgien regis­trieren, Eigentum erwerben und dadurch auch einen Aufent­halts­titel erhalten. Nach offizi­ellen Angaben sind in Georgien zwischen März und Juli 2022 ca. 6.400 russische Unter­nehmen regis­triert und ca. 45.000 Bankkontos eröffnet worden.

Eine legitime Frage, die sich die Zivil­ge­sell­schaft stellt, ist: Wer sind diese Russen? Fliehen sie, weil sie gegen Putin sind oder weil erstmals ihr komfor­tables Leben gefährdet ist? Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der georgische Staat überhaupt wider­stands­fähig ist und über die Ressourcen verfügt, die Sicherheit des Landes zu gewähr­leisten. Zu Recht haben die politi­schen Eliten, aber auch die georgische Bevöl­kerung Angst, dass Russland, wie im Jahr 2008, einen Vorwand nutzt, um dann im Ausland russische Staats­bürger zu „vertei­digen“. „Humanitäre Inter­vention“ wird dies dann genannt und ist in der Regel von Russland selbst provoziert.

Es ist eine nur schwer zu beant­wor­tende Frage, wie die Gesell­schaft reagieren soll, wenn die Bürger ein „Besat­zungsland“ um Hilfe bitten, insbe­sondere wenn dort eine Diktatur herrscht.

Die Stimmung in Tiflis und im gesamten Georgien ist daher pessi­mis­tisch. Die wieder­keh­rende Dominanz der russi­schen Sprache ist eindeutig, Traumata der Sowjetzeit werden wach. Darüber hinaus erschweren die steigende Preise für Immobilien und Lebens­mittel das Leben der Menschen im Land. Man spürt deutlich, dass die Georgier, die seit 30 Jahren für ihre Unabhän­gigkeit von Russland kämpfen, die neue Situation mit großer Besorgnis bewerten und die unerwünschte Macht von außen wahrnehmen.

Kann Georgien das „Window of Oppor­tunity“ nutzen?

Wie geht es weiter? Schafft es Georgien bis Ende 2023 wieder, den europäi­schen Zug aufs Gleis zu setzen? Das unerwartet entstandene „Window of Oppor­tunity“ zu nutzen, indem es die von der EU erwar­teten Reformen effektiv durch­führt? Das wäre einer­seits von einem starken politi­schen Willen abhängig, der in der jetzigen Regierung kaum zu spüren ist. Anderer­seits braucht das Land eine funktio­nie­rende Opposition, eine starke Zivil­ge­sell­schaft und freie Medien, die an dem Reform­prozess aktiv teilnehmen und ihn voran­treiben. Aufgrund der drasti­schen und andau­ernden politi­schen Krise scheint dies beinahe unmöglich zu sein. Dazu kommt, dass die von einer schwie­rigen wirtschaft­lichen Lage ermüdete Bevöl­kerung das Vertrauen in die Politik von Tag zu Tag weiter verliert. Auch wenn für die Mehrheit der Georgie­rinnen und Georgier der europäische Weg alter­na­tivlos ist, wird er ohne starke Unter­stützung und Entschlos­senheit der westlichen Partner unrea­lis­tisch. Nichts­des­to­trotz liegt der Ball erst einmal auf der Seite der georgi­schen Regierung, die bis 2023 Ergeb­nisse liefern soll. Sonst verwandelt sich das Land in eine Enklave für geflüchtete Russen, mit einer Perspektive, die nicht nach Europa weist.

Der Text erschien zuerst am 01.11.22 bei H und G, Ukraine Texte II: Putins Spiel mit der Welt, Georgien: Reform­still­stand und die EU in weiter Ferne.

Textende

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