Seite an Seite – Polen und Deutschland finden in der Krise zueinander
Der russische Überfall auf die Ukraine und der – wenn auch späte – Kurswechsel Deutschlands zu Sanktionen und Waffenlieferungen hat das Verhältnis Polens zu Deutschland verändert.
Ein Kommentar der Politikwissenschaftlerinnen und Polenexpertinnen Irene Hahn-Fuhr und Małgorzata Kopka-Piątek.
Polen – schockiert, aber vorbereitet
Als in den Morgenstunden des 24. Februar 2022 russische Kampfverbände in die Ukraine einfielen, war in Polen kaum jemand überrascht, obwohl auch bei unserem östlichen Nachbarn die meisten Fachleute und Militärexperten eher mit auf weitere Destabilisierung abzielenden Sabotageaktionen gerechnet hatten. Doch anstatt in eine Schockstarre zu verfallen, kam die Reaktion schnell und eindeutig:
Es war der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki, der als einer der ersten nach möglichst umfassenden Sanktionen, inklusive SWIFT, Stopp von Nord Stream 2 und breiter Unterstützung und Ausrüstung für die angegriffene Ukraine verlangte. Staatspräsident Andrzej Duda hat gleich als erster den Antrag der Ukraine auf EU-Mitgliedschaft öffentlich unterstützt und sich sofort in zahlreichen Beratungsgesprächen mit den Ländern in der Region wie mit den USA, Frankreich und Großbritannien engagiert. Die engen Beziehungen der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zum größten Putin-Verbündeten der Region, dem ungarischen Premierminister Victor Orbán, konnten genutzt werden, damit dieser die Sanktionen gegen Russland zumindest nicht boykottierte.
Innenpolitische Polarisierung hin oder her: Jetzt gilt es, dem gemeinsamen Feind die Stirn zu bieten. Die Zivilgesellschaft und tausende Bürgerinnen und Bürger griffen nach ihren Geldbeuteln und stürzten in die Geschäfte, um Lebensmittel, Hygieneartikel und Medikamente für die Flüchtenden zu besorgen. Viele haben ihre Türen ukrainischen Frauen und Kindern geöffnet. Der Staat und die Kommunen folgten mit der Koordinierung von Hilfsaktionen, Transporten sowie der besseren Ausstattung der Grenzübergänge. Seit dem Überfall haben bereits jetzt über 600.000 Menschen die polnische Grenze überquert. Es werden mit jeder Stunde mehr.
Die deutsche Politik war in Polen seit langem mit Sorge verfolgt worden. Polnische Expertinnen und Politiker hatten seit langem immer wieder Warnungen formuliert, die hierzulande entweder nicht gehört oder mit dem Mantra „Wandel durch Handel“ beantwortet wurden. Bereits zu Beginn der 2000er Jahre hatte die damalige polnische Regierung unter Premierminister Donald Tusk gegen den Bau von Nord Stream 1 protestiert. Die Pipeline war in polnischen Augen von Anfang an ein geostrategisches Projekt des Kremls und eine Bedrohung der nationalen wie regionalen Sicherheit. In Polen waren die Diskussionen über Energiepolitik seit jeher untrennbar mit der EU-Außen- und Sicherheitspolitik verbunden, die die Ordnung in diesem Teil der Welt bestimmen.
Das anfängliche Zögern Deutschlands bei Sanktionen mit Blick auf die eigenen ökonomischen Kosten, die Weigerung, die Ukraine mit Abwehrwaffen zu unterstützen und das deutsche Veto gegen Waffenlieferungen durch andere Partnerstaaten wurden in Polen mit steigender Ungeduld bis zur Aktivierung antideutscher Stimmungen (die in der Gesellschaft ähnlich lebendig sind wie Sorgen vor russischer Großmachtpolitik) begleitet.
Es war die sonntägliche Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar, welche in Polen als „kopernikanischer Durchbruch“ betitelt wurde. Vom linken bis zum rechten Spektrum der polnischen Politik herrscht noch Unglauben, gemischt jedoch mit Anerkennung für den radikalen Wandel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: „Das Unmögliche ist möglich geworden“, schreiben viele polnische Zeitungen.
Es geht nicht darum zu sagen, wir haben es Euch schon immer gesagt
Bisher wurde die Expertise Polens in Bezug auf den weit gefassten postsowjetischen Raum, insbesondere zu Russland, aber auch zur Ukraine, Belarus, Moldau oder Georgien, nur in den engsten deutsch-polnischen Kreisen geschätzt. Polen teilt mit diesen Ländern die gemeinsame, schwierige Geschichte, die kollektive Erfahrung mit kommunistischer Herrschaft, mit der Transformation und dem holprigen Weg zu Freiheit und Demokratie. Daraus resultiert ein differenzierter Blick auf die heutige Realität in Mittel-Osteuropa, die sich von der vorherrschenden Perspektive in Deutschland unterscheidet. Dazu gehört die ungefilterte Wahrnehmung der inneren Repression in Russland und ein klarer Blick auf die korrupten Machtstrukturen und das militärische Gewaltpotential des großen Nachbarn. Die Abstempelung der polnischen Warnungen als russophobe, vergangenheitsfixierte Zwangsvorstellungen, könnte sich bei näherer Betrachtung als Vorurteil herausstellen.
Längst leben über 2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in Polen, zum großen Teil Wirtschaftsmigranten. Einige von ihnen waren auch nach der Annexion der Krim und der Besetzung der Regionen Luhansk und Donezk gekommen. Auch viele Belarussen sind nach Polen geflohen, um den Repressionen gegen die Opposition zu entgehen. Der gemeinsame Nenner für die Offenheit Polens gegenüber den Ankömmlingen ist der Grund für ihre Flucht: In jedem dieser Fälle ist der Aggressor Russland oder ein Land, das diesem System nahesteht, wie Belarus. Das bewirkt in Polen einen „Reflex des Herzens“, der sich jetzt auch In der großen Hilfsbereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen zeigt.
Polen und andere postsowjetische Länder, die seit Jahrhunderten Nachbarn Russlands sind, fühlen sich seit jeher von der russischen Großmachtpolitik bedroht. Historische Traumata wie die Teilungen des 18. Jahrhunderts, der Hitler-Stalin-Pakt und der folgende Angriff der UdSSR auf Polen 1939 und die anschließende lange Erfahrung mit der Sowjetunion legen den Grund dafür, dass Ereignisse wie die Tschetschenienkriege, die russische Militärintervention in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 oder die Unterstützung für das Lukaschenko-Regime Emotionen und Reaktionen hervorrufen, die bei einigen westlichen Partnern auf Unverständnis stießen. Besonders irritierend war für Polen das Argument, die angeblich gefährdete Sicherheit Russlands durch die NATO-Osterweiterung hätte zur aggressiven Wendung Putins geführt. In dieser Sichtweise werden die ost-mitteleuropäischen Staaten wieder zur „Pufferzone“ mit begrenzter Souveränität. Die legitimen Sicherheitsinteressen Polens, der baltischen Staaten und der weiteren mittel- und osteuropäischen Partner mitsamt ihrem Selbstbestimmungsrecht bleiben außer Acht.
Neue Gemeinsamkeit durch verschiedene Perspektiven
In Polen fehlte das diplomatische Fingerspitzengefühl, in Deutschland das Verständnis und auch das Interesse für eine konstruktive Annäherung in diesen historisch-politischen Fragen. Dazu kam der Konflikt über die Justizreform und die Rechtsstaatlichkeit, der zur politischen Entfremdung beitrug und den Dialog in anderen Bereichen erschwerte. Aus diesem Tiefpunkt der deutsch-polnischen Beziehungen entsteht angesichts des russischen Angriffs auf die europäische Friedensordnung eine neue Annäherung. Vielleicht führt diese Katastrophe auch dazu, dass in Polen besser verstanden wird, dass eine unabhängige Justiz und rechtsstaatliche Verfahren im eigenen Land und die Achtung des internationalen Rechts zwei Seiten einer Medaille sind und dass es sich lohnt, auf europäische Partnerschaft und Solidarität zu setzen. Das Treffen der Außenminister des Weimarer Dreiecks am 1. März 2022 in Polen ist auch ein positives Zeichen der deutschen und französischen Partner für dieses Format, das die letzten Jahre in der Bedeutungslosigkeit versank. Der Satz von Außenministerin Annalena Baerbock: „Gerade, weil wir auf viele Fragen aus verschiedener Perspektive blicken, können wir Europa zusammenhalten und voranbringen“ könnte mehr Potenzial in sich bergen, als es auf den ersten Blick scheint. Wenn aus der gegenwärtigen Krise eine Partnerschaft neu entsteht, hätte Putin auf einem weiteren Schlachtfeld verloren – und Europa insgesamt gewonnen.
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