Wider die Russland-Romantik
In ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ fordert die ehemalige Russland-Korrespondentin der ARD, Golineh Atai, dazu auf, Russland nüchtern zu betrachten.
Was tun, wenn die Korrespondentenzeit zu Ende geht, wenn aber die Geschichten, die nicht erzählt worden sind, noch weiter im Kopf herumschwirren? Dann schreibt man ein Buch – über das Land, in dem man gelebt und gearbeitet hat, das einen bewegt hat und immer noch bewegt, das einen letztlich ein Leben lang nicht loslässt, weil es zum eigenen Leben dazugehört. Auch wenn dieses Buch bereits mit dem Erscheinen ein wenig von gestern zu sein scheint.
Es ist fast schon ein eigenes Genre, dem sich die ehemalige Russland-Korrespondentin der ARD, Golineh Atai, stellt: der Korrespondentenbericht in Buchform. Fünf Jahre, von 2013 bis 2018, war sie in Moskau stationiert, bereiste von hier einige Länder der ehemaligen Sowjetunion, berichtete vom brennenden Maidan in Kiew, von der Krim und aus der Ostukraine, beobachtete, wie sich Russland eine eigene Wahrheit schuf und in einem neuen Konservatismus aufging. Prägende Jahre, denen sie in „Die Wahrheit ist der Feind“ auf 382 Seiten noch einmal nachspürt. Sie macht das ruhig und besonnen, wie sie das auch stets in ihren Beiträgen getan hat. In einer nüchternen Sprache, nicht nach Sensation heischend. Das macht das Lesen der vier nach Jahren unterteilten Kapitel samt Prolog und Epilog – mögen sie auch ihre Längen haben – angenehm, weil aus diesen Sätzen der unermüdliche Wille spricht, den Dingen auf den Grund zu gehen, Begrifflichkeiten auseinanderzunehmen, Mythen zu entkräften und Menschen zu Wort kommen zu lassen. Atai will erklären, warum Russland so anders ist. Aber anders als was? Als der Westen? Als Deutschland? Anders als das Russland der Neunzigerjahre?
Sie hat bestens recherchiert, fasst vor allem die prägenden Ereignisse von 2011 bis 2019 zusammen, von den Anti-Putin-Protesten der erstarkten russischen Mittelschicht über das Sterben auf dem Maidan in Kiew und in der Ostukraine bis hin zu den russischen Trollen und dem offensichtlich von russischen Geheimdienstlern vergifteten Ex-Doppelagenten Sergej Skripal in Großbritannien. Das Erzählte speist sich oft aus Erinnerungen an Begegnungen, Gesprächen mit Protagonisten und Geschichten, die nicht ins Fernsehen gekommen sind und die der Journalistin aber im Kopf geblieben sind. Es ist auch eine dichte Auflistung der Ereignisse, die die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und den Krieg im Osten der Ukraine beschreiben. Ein Innehalten und Überdenken dessen, was längst aus den TV-Beiträgen verschwunden ist, weil mittlerweile andere Themen die Nachrichten-Agenda dominieren.
Russland pflegt eine „Ideologie der globalen Revanche“
„Wer die neue russische Politik verstehen will, muss verstehen, was die Russen über sich selbst und die Welt erzählen“, schreibt sie und will sich nicht länger mit dem Russland beschäftigen, das wir uns wünschen. Sie beschäftigt sich auf eine wohltuend unaufgeregte Weise mit dem nationalistisch-imperialistischen Russland, das ganz real existiert. Russland pflege eine „Ideologie der globalen Revanche“ und setze auf die „Synthese von Sowjetreich und Zarenreich“. Es entstehe eine „bizarre patriarchalische Mythologie“, genährt durch eine eigenwillige Verbindung von Stalin, Lenin, der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Patriarchen und Putin.
Der Pragmatismus aus Putins frühen Jahre sei längst verblasst, schreibt Atai, das Land pflege eine „Nuklear-Rhetorik“ und setze auf „Krieg, Apokalypse, Sieg“. Es sind drastische Worte, die genau so deutlich ausgesprochen werden müssen, wie die Fernsehjournalistin das tut. Sie beschreiben die russische Taktik von Täuschung und Umkehrung und das Ziel des Informationskriegs, den der Kreml führt: Dieser sät Zweifel an den Fakten.
Fakt aber ist, auch dafür steht Atais „Die Wahrheit ist der Feind“, dass Russland nicht aus Schuldgefühlen heraus und auch nicht mit Angst zu begegnen ist – was in Deutschland oft der Fall ist. Fakt ist, dass viele, die in Deutschland eine neue Ostpolitik fordern und sie fälschlicherweise mit der Ostpolitik Willy Brandts gleichsetzen, das heutige Russland oft nicht kennen. Die Zeiten sind andere, Russland ist in den vergangenen Jahren ein anderes Land geworden. Atais Buch ist geradezu ein Aufruf dazu, Russland ohne Illusionen zu begegnen. Sie denkt dabei explizit an Dialog, der allerdings in den vergangenen Jahren nie abgenommen hat. Denkt an Austausch, um sich und den anderen besser zu verstehen.
Es ist geradezu verheerend, Russland mit der Sowjetunion gleichzusetzen, aus Gründen, auf die die Journalistin nur kurz eingeht. Russland ist dem Westen kulturell sehr nah und bleibt dennoch so unbekannt. Atai kritisiert auch die Personalpolitik öffentlich-rechtlicher Sender, die immer weniger Korrespondenten im Land haben (wollen). Sie beschreibt die Arbeit von ausländischen Journalisten in Russland, die sich einer stark polarisierten Öffentlichkeit im Westen gegenüber sehen. Trotz obszöner und drohender Zuschriften gehen diese ihrer Arbeit nach: Russland zeigen, Russen sprechen lassen, Russland verstehen wollen. Atai schreibt von der westlichen Erschöpfung und dem russischen Trotz. Ihr Anliegen ist es, das Erlebte zu teilen. Und deutsche Politiker dazu anzuhalten, Russland nüchtern zu betrachten.
Golineh Atai: „Die Wahrheit ist der Feind“, Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 18 Euro
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