Wie Jimmy Carter mich dazu brachte, die Nato zu lieben

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Unser Autor war im US-Außen­mi­nis­terium für europäische Politik zuständig, als Jimmy Carter ins Amt kam. Mit seiner unkon­ven­tio­nellen Art zerrte der US-Präsident an den politi­schen Nerven Europas. Aber gerade durch die Verletzung diplo­ma­ti­scher Spiel­regeln lehrte Carter unseren Autor die Bedeutung der Nato. Eine persön­liche Erinnerung aus Anlass des 70. Jahrestags des atlan­ti­schen Bündnisses.

Beim Gedanken an den 70. Geburtstag der Nato fällt mir als erstes der Name des Ex-Präsi­denten Jimmy Carter ein. Es ist nämlich so, dass mir in der Carter-Ära, die 1977 begann, die Bedeutung der Nato klar wurde. 

Portrait von John C. Kornblum

John C. Kornblum arbeitete mehr als 35 Jahre als US-Diplomat. Von 1997 bis 2001 war er Botschafter der USA in Deutschland.

Im ameri­ka­ni­schen Kontext war die Rolle Carters der von Barack Obama sehr ähnlich. Er wurde gewählt, um die Lage nach einem schwie­rigen und turbu­lenten Abschnitt der ameri­ka­ni­schen Geschichte zu beruhigen. Richard Nixon und Watergate waren nur kleine Fische im Vergleich zum Vietnam-Krieg, der Krise im Mittleren Osten, der Energie­krise und der großen Inflation in den Siebzigern.

Auf seine Weise war Carter in gleichem Maße ein Stören­fried, so wie Donald Trump einer sein möchte. Er war stolz darauf, anders zu sein. Er war in Washington kein Insider. Er gründete seine Politik auf christ­liche Prinzipien und humanis­tische Werte.

„Dieser verdammte Prediger im Weißen Haus”

Aber warum bei Carter an die Nato denken? Weil dieser Präsident, der den am Frieden orien­tierten europäi­schen Werten der Siebzi­ger­jahre am nächsten zu stehen schien, bis zum Auftauchen Donald Trumps der unbelieb­teste ameri­ka­nische Präsident der jüngeren Geschichte war – gerade in Europa.

Carter wie auch Trump zerrten an den politi­schen Nerven der Europäer. Wie Trump – und nebenbei bemerkt auch Obama – konzen­trierte sich Carter in erster Linie auf die Verwirk­li­chung seiner persön­lichen Vision. Für das Erlernen politi­scher Gepflo­gen­heiten verwendete er wenig Zeit, und auch nicht für die Frage, wie ein vernünf­tiger Einsatz der ameri­ka­ni­schen Macht den Zielen des demokra­ti­schen Westens dienen könnte.

Helmut Schmidt verachtete Carter offen, nannte ihn “diesen verdammten Prediger im Weißen Haus”. Ohne die Stabi­lität, für die die Nato sorgte – damals wie heute – hätte der Westen gefährlich weit von seinem Kurs abdriften können.

Was waren Carters “Sünden”? De facto zeigte sich, dass er ein neues Kapitel in der Nachkriegs­ge­schichte aufschlagen wollte. Er trat sein Amt mit dem Versprechen an, die Vertei­di­gungs­aus­gaben zu senken, die ameri­ka­ni­schen Truppen aus Übersee nach Hause zu holen und die ameri­ka­nische Präsenz in Südkorea zu beenden. Carter glaubte an Rüstungs­kon­trolle, war jedoch der Ansicht, dass sie auf konven­tio­nelle Waffen erweitert werden und für diese genauso wie für Atomwaffen gelten sollte. Damit traf er die europäische Industrie an ihrem empfind­lichsten Punkt. Und dann war es auch Carter, der einen echten Dialog mit den Arabern aufnahm, der zu den histo­ri­schen Abkommen von Camp David führte, die noch heute funktionieren.

Mein Telefon lief heiß vor Anrufen europäi­scher Außenminister

Außerdem glaubte Carter fest daran, dass es an Zeit war, sich mit Nachdruck für die Menschen­rechte in Europa einzu­setzen. Hier trieb er die klassische Diplo­matie an ihre Grenzen. Er nahm die Verpflich­tungen aus der Schlussakte von Helsinki wörtlich und war der Auffassung, der Westen müsse die Sowjet­union deutlich stärker unter Druck setzen, um deren Behandlung von Dissi­denten zu verbessern und die Freilassung politi­scher Gefan­gener zu erreichen.

Ich war im US-Außen­mi­nis­terium für europäische Politik und Sicher­heits­po­litik zuständig, als Carter ins Amt kam. Mein Telefon lief heiß vor Anrufen europäi­scher Außen­mi­nister, die vor den Folgen von Carters ungeheu­er­lichem Verhalten warnten. Es war eine Offen­barung, zu beobachten, wie sehr die Bündnis­partner, und allen voran die Deutschen, jegliche Bemühung um ein Weiter­kommen bei den Menschen­rechten fürchteten.

Beim Belgrader KSZE-Folge­treffen von 1977 schlug Carter vor, den Sowjets eine lange Liste mit den Namen der Dissi­denten vorzu­legen, die nach Ansicht der USA freige­lassen werden sollten. Die Europäer weigerten sich und es folgte eine scharfe Ausein­an­der­setzung. Nicht mit den Sowjets, sondern zwischen Europa und Amerika. Man kann von Glück sagen, dass der Nato-Rat als Ort für Debatten zur Verfügung stand.

Helmut Schmidt war in Sachen Rüstungs­kon­trolle ein Intellektueller

Letzten Endes gaben die USA dem Druck der Bündnis­partner nach und verlasen auf der Belgrader Konferenz nur vier Namen. Einer von ihnen war Anatoli Schar­anskiy, den ich neun Jahre später auf der Glienicker Brücke in Berlin willkommen heißen durfte.

Aber Europäer wie Russen waren so aufge­bracht über dieses „ehrliche“ ameri­ka­nische Vorgehen, dass das Belgrader Treffen letzten Endes in Chaos endete. Der Streit verstärkte außerdem die Krise der Bezie­hungen zwischen Carter und Europa, eine Krise, die Ronald Reagan drei Jahre später geschickt einsetzte, um Carters außen­po­li­tische Unbehol­fenheit zu unterstreichen.

Die zweite größere Konfron­tation, die im Rahmen der Nato umsichtig gehandhabt wurde, war die Nukle­ar­stra­tegie. Carter wollte so viele Atomwaffen wie möglich loswerden. Helmut Schmidt war in Sachen Rüstungs­kon­trolle ein Intel­lek­tu­eller. Carters Naivität ging ihm derart auf die Nerven, dass er den Umstand, dass offen­kundig eine neue sowje­tische Mittel­stre­cken­rakete entwi­ckelt wurde (die SS-20), nutzte, um die Verbün­deten vor einem strate­gi­schen Ungleich­ge­wicht zu warnen, das drohe, wenn der Westen nicht mit einer eigenen Waffe reagiere.

In einer unruhigen Epoche hat die Nato gute Dienste geleistet

Das Ergebnis war eine öffent­liche Konfron­tation, die Schmidts politische Karriere beendete und Hundert­tau­sende Europäer auf die Straßen brachte. Ziel dieses Protests war jedoch Amerika, nicht Schmidt. Viele Europäer schienen tatsächlich zu glauben, dass die USA die neue sowje­tische Waffe als Vorwand nutzten, um einen Atomkrieg in Europa zu planen.

Das andere Ergebnis von Schmidts Initiative war natürlich der INF-Vertrag von 1987, ausge­handelt von einem weiteren Feinbild der Europäer: Ronald Reagan. Auf Grundlage einer im Rahmen der Nato ausge­han­delten Strategie verbot dieser Vertrag die Produktion und Statio­nierung einer kompletten Waffenart.

Jahre später hat Schmidt gegenüber der „Bild“-Zeitung zugegeben, dass sein Misstrauen gegenüber Carter der Grund für seine Warnung war. Er dachte, der Präsident sei nicht stark genug, um sich den Russen entge­gen­zu­stellen. Mensch­rechte standen anscheinend nicht auf Schmidts Agenda.

Soviel dazu. In einer unruhigen Epoche hat die Nato sowohl den USA als auch Europa gute Dienste geleistet. Nicht zur Vertei­digung gegen die Russen, sondern zur Erarbeitung gemein­samer Strategien zu neuen, verwor­renen Problemen.

Die Nato erinnert Deutschland daran, dass es Teil des Westens ist

Man würde sich wünschen, die politi­schen Führungs­fi­guren von heute verstünden angesichts einer ähnlichen Verwor­renheit der Lage, wie wertvoll das Werkzeug ist, das sie mit der Nato selbst geschaffen haben. Doch in Zeiten drama­ti­scher Verän­de­rungen werden häufig auch die erfolg­reichsten Methoden verworfen.

Die europäi­schen Verbün­deten haben ihr Wohlergehen in Gefahr gebracht, weil sie die Lektion der schänd­lichen Niederlage auf dem Balkan missver­standen haben. Man hätte meinen können, dass sie sich, nachdem sie ihre Sicherheit offen­sichtlich nicht selbst gewähr­leisten konnten, der Nato annähern würden.

Statt­dessen begingen sie einen strate­gi­schen Schnitzer histo­ri­schen Ausmaßes, indem sie sich für den Aufbau eines europäi­schen Konkur­renten zur Nato entschieden und gleich­zeitig ihre eigenen Streit­kräfte stief­müt­terlich behan­delten. Aus ameri­ka­ni­scher Sicht haben wir doppelt verloren. Die Nato ist schwächer geworden und die europäi­schen Verbün­deten sind es auch.

Jimmy Carter ist wichtig, denn er führt das Negative vor Augen. Durch seine Verletzung der diplo­ma­ti­schen Spiel­regeln machte er klar, wie grund­legend die Bedeutung der Nato nach wie vor war. Und noch immer ist die Nato der einzige inter­na­tionale Sicher­heits­rahmen, der die Prinzipien, auf denen er basiert, tatsächlich vertei­digen kann. Sie ist ein Instrument, um Strategien zum Umgang mit unseren Erfolgen (wie dem Ende des Kalten Kriegs), aber auch mit unseren Fehlern (wie in Bosnien geschehen) zu erarbeiten. Die Nato-Solida­rität erinnert das stets schwan­kende Deutschland außerdem daran, dass es Teil des Westens ist.

So einfach ist das. Keine Nato, kein Europa, kein trans­at­lan­ti­sches Bündnis. Die Konse­quenzen dieses Gedankens sind zu furchtbar, um sie sich auszumalen.

Danke, Jimmy Carter, dass Du mir das klarge­macht hast.

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