Wie Jimmy Carter mich dazu brachte, die Nato zu lieben
Unser Autor war im US-Außenministerium für europäische Politik zuständig, als Jimmy Carter ins Amt kam. Mit seiner unkonventionellen Art zerrte der US-Präsident an den politischen Nerven Europas. Aber gerade durch die Verletzung diplomatischer Spielregeln lehrte Carter unseren Autor die Bedeutung der Nato. Eine persönliche Erinnerung aus Anlass des 70. Jahrestags des atlantischen Bündnisses.
Beim Gedanken an den 70. Geburtstag der Nato fällt mir als erstes der Name des Ex-Präsidenten Jimmy Carter ein. Es ist nämlich so, dass mir in der Carter-Ära, die 1977 begann, die Bedeutung der Nato klar wurde.
Im amerikanischen Kontext war die Rolle Carters der von Barack Obama sehr ähnlich. Er wurde gewählt, um die Lage nach einem schwierigen und turbulenten Abschnitt der amerikanischen Geschichte zu beruhigen. Richard Nixon und Watergate waren nur kleine Fische im Vergleich zum Vietnam-Krieg, der Krise im Mittleren Osten, der Energiekrise und der großen Inflation in den Siebzigern.
Auf seine Weise war Carter in gleichem Maße ein Störenfried, so wie Donald Trump einer sein möchte. Er war stolz darauf, anders zu sein. Er war in Washington kein Insider. Er gründete seine Politik auf christliche Prinzipien und humanistische Werte.
„Dieser verdammte Prediger im Weißen Haus”
Aber warum bei Carter an die Nato denken? Weil dieser Präsident, der den am Frieden orientierten europäischen Werten der Siebzigerjahre am nächsten zu stehen schien, bis zum Auftauchen Donald Trumps der unbeliebteste amerikanische Präsident der jüngeren Geschichte war – gerade in Europa.
Carter wie auch Trump zerrten an den politischen Nerven der Europäer. Wie Trump – und nebenbei bemerkt auch Obama – konzentrierte sich Carter in erster Linie auf die Verwirklichung seiner persönlichen Vision. Für das Erlernen politischer Gepflogenheiten verwendete er wenig Zeit, und auch nicht für die Frage, wie ein vernünftiger Einsatz der amerikanischen Macht den Zielen des demokratischen Westens dienen könnte.
Helmut Schmidt verachtete Carter offen, nannte ihn “diesen verdammten Prediger im Weißen Haus”. Ohne die Stabilität, für die die Nato sorgte – damals wie heute – hätte der Westen gefährlich weit von seinem Kurs abdriften können.
Was waren Carters “Sünden”? De facto zeigte sich, dass er ein neues Kapitel in der Nachkriegsgeschichte aufschlagen wollte. Er trat sein Amt mit dem Versprechen an, die Verteidigungsausgaben zu senken, die amerikanischen Truppen aus Übersee nach Hause zu holen und die amerikanische Präsenz in Südkorea zu beenden. Carter glaubte an Rüstungskontrolle, war jedoch der Ansicht, dass sie auf konventionelle Waffen erweitert werden und für diese genauso wie für Atomwaffen gelten sollte. Damit traf er die europäische Industrie an ihrem empfindlichsten Punkt. Und dann war es auch Carter, der einen echten Dialog mit den Arabern aufnahm, der zu den historischen Abkommen von Camp David führte, die noch heute funktionieren.
Mein Telefon lief heiß vor Anrufen europäischer Außenminister
Außerdem glaubte Carter fest daran, dass es an Zeit war, sich mit Nachdruck für die Menschenrechte in Europa einzusetzen. Hier trieb er die klassische Diplomatie an ihre Grenzen. Er nahm die Verpflichtungen aus der Schlussakte von Helsinki wörtlich und war der Auffassung, der Westen müsse die Sowjetunion deutlich stärker unter Druck setzen, um deren Behandlung von Dissidenten zu verbessern und die Freilassung politischer Gefangener zu erreichen.
Ich war im US-Außenministerium für europäische Politik und Sicherheitspolitik zuständig, als Carter ins Amt kam. Mein Telefon lief heiß vor Anrufen europäischer Außenminister, die vor den Folgen von Carters ungeheuerlichem Verhalten warnten. Es war eine Offenbarung, zu beobachten, wie sehr die Bündnispartner, und allen voran die Deutschen, jegliche Bemühung um ein Weiterkommen bei den Menschenrechten fürchteten.
Beim Belgrader KSZE-Folgetreffen von 1977 schlug Carter vor, den Sowjets eine lange Liste mit den Namen der Dissidenten vorzulegen, die nach Ansicht der USA freigelassen werden sollten. Die Europäer weigerten sich und es folgte eine scharfe Auseinandersetzung. Nicht mit den Sowjets, sondern zwischen Europa und Amerika. Man kann von Glück sagen, dass der Nato-Rat als Ort für Debatten zur Verfügung stand.
Helmut Schmidt war in Sachen Rüstungskontrolle ein Intellektueller
Letzten Endes gaben die USA dem Druck der Bündnispartner nach und verlasen auf der Belgrader Konferenz nur vier Namen. Einer von ihnen war Anatoli Scharanskiy, den ich neun Jahre später auf der Glienicker Brücke in Berlin willkommen heißen durfte.
Aber Europäer wie Russen waren so aufgebracht über dieses „ehrliche“ amerikanische Vorgehen, dass das Belgrader Treffen letzten Endes in Chaos endete. Der Streit verstärkte außerdem die Krise der Beziehungen zwischen Carter und Europa, eine Krise, die Ronald Reagan drei Jahre später geschickt einsetzte, um Carters außenpolitische Unbeholfenheit zu unterstreichen.
Die zweite größere Konfrontation, die im Rahmen der Nato umsichtig gehandhabt wurde, war die Nuklearstrategie. Carter wollte so viele Atomwaffen wie möglich loswerden. Helmut Schmidt war in Sachen Rüstungskontrolle ein Intellektueller. Carters Naivität ging ihm derart auf die Nerven, dass er den Umstand, dass offenkundig eine neue sowjetische Mittelstreckenrakete entwickelt wurde (die SS-20), nutzte, um die Verbündeten vor einem strategischen Ungleichgewicht zu warnen, das drohe, wenn der Westen nicht mit einer eigenen Waffe reagiere.
In einer unruhigen Epoche hat die Nato gute Dienste geleistet
Das Ergebnis war eine öffentliche Konfrontation, die Schmidts politische Karriere beendete und Hunderttausende Europäer auf die Straßen brachte. Ziel dieses Protests war jedoch Amerika, nicht Schmidt. Viele Europäer schienen tatsächlich zu glauben, dass die USA die neue sowjetische Waffe als Vorwand nutzten, um einen Atomkrieg in Europa zu planen.
Das andere Ergebnis von Schmidts Initiative war natürlich der INF-Vertrag von 1987, ausgehandelt von einem weiteren Feinbild der Europäer: Ronald Reagan. Auf Grundlage einer im Rahmen der Nato ausgehandelten Strategie verbot dieser Vertrag die Produktion und Stationierung einer kompletten Waffenart.
Jahre später hat Schmidt gegenüber der „Bild“-Zeitung zugegeben, dass sein Misstrauen gegenüber Carter der Grund für seine Warnung war. Er dachte, der Präsident sei nicht stark genug, um sich den Russen entgegenzustellen. Menschrechte standen anscheinend nicht auf Schmidts Agenda.
Soviel dazu. In einer unruhigen Epoche hat die Nato sowohl den USA als auch Europa gute Dienste geleistet. Nicht zur Verteidigung gegen die Russen, sondern zur Erarbeitung gemeinsamer Strategien zu neuen, verworrenen Problemen.
Die Nato erinnert Deutschland daran, dass es Teil des Westens ist
Man würde sich wünschen, die politischen Führungsfiguren von heute verstünden angesichts einer ähnlichen Verworrenheit der Lage, wie wertvoll das Werkzeug ist, das sie mit der Nato selbst geschaffen haben. Doch in Zeiten dramatischer Veränderungen werden häufig auch die erfolgreichsten Methoden verworfen.
Die europäischen Verbündeten haben ihr Wohlergehen in Gefahr gebracht, weil sie die Lektion der schändlichen Niederlage auf dem Balkan missverstanden haben. Man hätte meinen können, dass sie sich, nachdem sie ihre Sicherheit offensichtlich nicht selbst gewährleisten konnten, der Nato annähern würden.
Stattdessen begingen sie einen strategischen Schnitzer historischen Ausmaßes, indem sie sich für den Aufbau eines europäischen Konkurrenten zur Nato entschieden und gleichzeitig ihre eigenen Streitkräfte stiefmütterlich behandelten. Aus amerikanischer Sicht haben wir doppelt verloren. Die Nato ist schwächer geworden und die europäischen Verbündeten sind es auch.
Jimmy Carter ist wichtig, denn er führt das Negative vor Augen. Durch seine Verletzung der diplomatischen Spielregeln machte er klar, wie grundlegend die Bedeutung der Nato nach wie vor war. Und noch immer ist die Nato der einzige internationale Sicherheitsrahmen, der die Prinzipien, auf denen er basiert, tatsächlich verteidigen kann. Sie ist ein Instrument, um Strategien zum Umgang mit unseren Erfolgen (wie dem Ende des Kalten Kriegs), aber auch mit unseren Fehlern (wie in Bosnien geschehen) zu erarbeiten. Die Nato-Solidarität erinnert das stets schwankende Deutschland außerdem daran, dass es Teil des Westens ist.
So einfach ist das. Keine Nato, kein Europa, kein transatlantisches Bündnis. Die Konsequenzen dieses Gedankens sind zu furchtbar, um sie sich auszumalen.
Danke, Jimmy Carter, dass Du mir das klargemacht hast.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.