Europa in den Turbulenzen der Weltpolitik
Klaus Naumann, ehemaliger Generalstabschef der NATO, stellt die aktuellen Verwerfungen im transatlantischen Bündnis in einen größeren Zusammenhang. Die Krisenhaftigkeit an Europas Peripherie nimmt zu. Die EU ist darauf weder politisch noch militärisch vorbereitet. Europa braucht die USA als sicherheitspolitische Lebensversicherung. Wir müssen deshalb alles tun, um Amerika im Westen zu halten, trotz Trump. Dafür muss Deutschland seine sicherheitspolitische Sorglosigkeit – andere nennen es Trittbrettfahrerei – überwinden, die Bundeswehr angemessen ausrüsten und ein europäisches Verteidigungsbündnis anstreben, das auf Augenhöhe mit den USA kooperiert. Es geht darum, die freiheitlichen Ideen des Westens in einer Welt zu behaupten, in der die liberale Ordnung zunehmend unter Druck gerät.
Seit dem Treffen zwischen Präsident Trump und dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong Un geriet das Karussell der Weltpolitik mehr und mehr ins Schlingern. Der G‑7 Gipfel in Ottawa, der NATO Gipfel in Brüssel, der kurze Stopp in London und das anschließende Treffen mit Präsident Putin in Helsinki sorgten für wachsende Beunruhigung in Europa und auch in Amerika. Möglicherweise werden künftige Historiker diese Monate als den Anfang vom Ende des Westens bewerten. Die ideellen Fundamente des Westens, ausgedrückt durch die Deklaration der Menschenrechte 1948, geschützt durch Demokratien, in denen die Macht des Rechts den Schwachen vor der Gewalt des Stärkeren schützt, umhegt von multilateralen Organisationen und Bündnisse wie EU und NATO, wurden durch einen amerikanischen Präsidenten geschwächt, der als erklärter Nationalist nur auf bilaterale Beziehungen setzt. Er ist überzeugt, nur bilateral die unbestrittenen und einzigartigen Vorteile der USA voll zu Geltung bringen zu können: Die Fähigkeit, in allen Kategorien der Macht global handlungsfähig zu sein und von einer nahezu unverwundbaren Insel von kontinentaler Größe Macht ausüben und Interessen durchsetzen zu können.
In Deutschland hält sich noch immer Traumtänzerei in sicherheitspolitischen Fragen. Damit steht Deutschland in der NATO ziemlich allein. Trumps maßlose Angriffe auf Deutschland bergen deshalb durchaus eine Gefahr in sich: Wir könnten bei anhaltender Verweigerung der Realitäten durchaus auf einmal alleine dastehen.
Warum Trump auch Amerika schwächt
Er verkennt dabei, und will es vielleicht auch gar nicht wissen, dass es die von den USA aufgebaute, nach vereinbarten Regeln handelnde Weltordnung war, die den USA ihre führende Rolle in der Welt gebracht hat und die USA bis heute schützt. Es gibt nun einmal einen geostrategischen Imperativ, den kein amerikanischer Präsident außer Kraft setzen kann: Eine globale Seemacht muss in der Lage sein, ihre Gegenküsten zu kontrollieren. Im Falle der USA sind dies Europa und Asien. Dort wirken die NATO und die bilateralen Bündnisse der USA mit Australien, Japan und Süd-Korea als vorgeschobenen Schutzschilde. Wer sie aufgibt oder schwächt, wird langfristig den USA schaden und am Ende deren einzigartige Weltmachtrolle verspielen. Dass Präsident Trump in den vergangenen Monaten die USA bereits geschwächt hat, kann der einzelne Amerikaner vermutlich noch nicht erkennen, denn die amerikanische Wirtschaft brummt. Aber es dürfte doch auffallen, dass der amerikanische Präsident in Helsinki sagt, dass er dem voraussichtlich durch nichts belegten Wort des russischen Präsidenten mehr glaubt als den nach gründlichen Untersuchungen erhobenen Behauptungen seiner eigenen Geheimdienste. Wer sich so verhält, zerstört Vertrauen, und Vertrauen ist nun einmal das Wertvollste, in der Familie ebenso wie in den internationalen Beziehungen.
Wer in Europa wird dem amerikanischen Präsidenten noch trauen, wenn er heute die NATO für obsolet und die EU als Gegner bezeichnet und am nächsten Morgen die NATO als großartige Allianz bewertet? Die Europäische Union ist in Verteidigungsfragen schwach und abhängig. Das Bündnis mit den USA ist immer noch ihre unersetzliche sicherheitspolitische Lebensversicherung. Europa braucht die USA, um gegen Pressionsversuche eines erneut nuklear übermäßig rüstenden Russland gefeit zu sein, und es kann sich strategisch betrachtet nur verteidigen, wenn es den Nordatlantik als Mare Nostrum sehen kann.
Nun kann man einwenden, die NATO habe eine substantielle Gipfelerklärung verabschiedet, die man durchaus als Erneuerung des gegenseitigen Schutzversprechens sehen kann: Einer für Alle und Alle für Einen. Aber an eine Gipfelerklärung glaubten auch sechs der sieben G‑7 Staaten, bis ein Tweet sie aus ihren Träumen riss. Auch Japan und Südkorea glaubten noch am Morgen des Gipfels von Singapur, dass von den USA als unverhandelbar Erklärtes unverhandelbar bliebe. Doch dann erfuhren sie, dass es keinerlei Gegenleistung Kims bedurfte, um die Versprechen der USA zu entwerten. Gleiches geschah in Helsinki. Putin musste nichts geben und wurde dennoch und trotz erwiesener Völkerrechtsbrüche auf Augenhöhe auf die Weltbühne gehoben. Vor diesem Hintergrund den NATO Gipfel als „Sternstunde“ zu bezeichnen ist Blauäugigkeit oder naives Vertrauen in die Versprechen amerikanischer Minister, die stets damit rechnen müssen, dass der Präsident und Oberbefehlshaber einfach sagt: You are fired.
Sicherheit für Europa nur mit den USA
Sicher ist es ebenso falsch zu sagen, Brüssel sei ein Chaos-Gipfel gewesen. Die Gipfelerklärung ist ein Fortschritt. Doch der wurde am Ende doch durch Unterwürfigkeit erkauft und das ist wohl nicht die Sprache, die Trump zu verlässlichem Einlenken bewegt. Zeitlich begrenzt ist die NATO-Welt vermutlich in Ordnung, vorausgesetzt es gab im Vier-Augen Gespräch von Helsinki keine Überraschungen und vorausgesetzt die Verbündeten halten, was sie versprochen haben. Das aber ist die Voraussetzung, um die USA an Europa gebunden zu halten. Das wiederum muss die erste Konsequenz aus dem Erlebten seit Singapur sein: Es gibt bis auf weiteres Sicherheit für Europa nur mit den USA an der Seite Europas. Das ist eine geostrategische Unabänderlichkeit, die jeder bedenken sollte, der missverständlich von der Autonomie Europas spricht. Wer bei der Verteidigung Europas von Autonomie im Sinne von „Europa für sich allein“ spricht, ebnet Europas Weg ins Verderben. Konsequenz Nummer zwei muss sein, dass Europa nun endlich den Weckruf hört und zu handeln beginnt. Es braucht energische Schritte, keine Tippelei wie PESCO. Dieses Handeln muss in Deutschland beginnen und muss gemeinsam mit Frankreich zu dem Versuch führen, Großbritannien trotz BREXIT in ein Europa der Verteidigung einzubinden.
In Deutschland liegt die Wurzel aller europäischen Schwäche in Sachen Verteidigung begraben. Noch immer glaubt eine Mehrheit in Deutschland, für Sicherheit werde schon irgendwie gesorgt, am besten durch Andere. So entstand die scheinbar noble Formel von der „Kultur der Zurückhaltung“, von den Verbündeten Drückebergerei genannt. So entstand auch der schon als Pawlowscher Reflex zu sehende Aufschrei „Aufrüstung“, wenn zur Beseitigung der durch Nachlässigkeit in zwei Jahrzehnten herbeigeführten Mängel der Bundeswehr der Verteidigungsetat angehoben wird. Und so entstand auch der Parlamentsvorbehalt, nachdem das Verfassungsgericht ohne weitere Begründung die Bundeswehr zur Parlamentsarmee erklärt hatte. Manche Verbündete sehen das als Notbremse, wenn Deutschland keinen anderen Grund finden würde, sich der Solidarität im Bündnis zu verweigern.
Deutschland muss aufpassen
In Deutschland hält sich noch immer Traumtänzerei in sicherheitspolitischen Fragen. Damit steht Deutschland in der NATO ziemlich allein. Trumps maßlose Angriffe auf Deutschland bergen deshalb durchaus eine Gefahr in sich: Wir könnten bei anhaltender Verweigerung der Realitäten durchaus auf einmal alleine dastehen. Deutschland muss deshalb jetzt handeln und darf nicht sagen: Habt Geduld, wird werden die überfälligen Reparaturen der Bundeswehr bis 2032 schon hinkriegen. Die Zeit haben weder die Deutschen noch das Bündnis. Die Welt hat sich in den vergangenen drei Monaten zu unserem Nachteil verändert, aber sie mindestens ebenso gefährlich wie sie es vor drei Monaten war. Da ist weiterhin der Krisenbogen im Osten Europas, weil Russland eine vorgelagerte Einflusszone anstrebt und diese durch die Spaltung von NATO und EU abzusichern sucht, und da ist der Krisenbogen von Marokko bis Pakistan. Beide schneiden sich im Mittleren Osten, der Schlüsselzone der nächsten Jahre oder Jahrzehnte. In ihr liegt Israel, dessen Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärt wurde.Das ist die Lage nach Helsinki. Was ist zu tun?
- Wir brauchen eine schonungslose öffentliche Debatte über die Lage und den Handlungsbedarf. Die Bundesregierung muss endlich Klartext reden und die Menschen nicht länger mit schwammigen, aber unrealistischen Hoffnungen auf Konflikte in Harmonie auflösende Verhandlungen in Sicherheit wiegen. Es muss beim Doppelansatz Verteidigungsfähigkeit und Dialog bleiben, aber nur die Mängelbeseitigung in der Bundeswehr öffnet die Tür zum Dialog. Aus dieser Debatte kann die Einsicht entstehen, dass die Insel der Glückseligen schon verpachtet ist und der Wille, Verantwortung zu übernehmen und wo nötig zu handeln, die einzig richtige Antwort ist.
- Es ist gemeinsam mit Frankreich und möglichst auch Großbritannien die Entwicklung eines europäischen Sicherheitskonzeptes durch Deutschland anzustoßen. Es geht darum, wie Sicherheit für Europa und seine strategische Peripherie von der Arktis bis zum Indischen Ozean zu erreichen ist. Daraus sind die erforderlichen Fähigkeiten zu Lande und in der Luft, zur See, im Cyberspace und im Weltraum abzuleiten. Es ist zu prüfen, in welchem Maße diese auch global genutzt werden können, um sie im Gegenzug für amerikanische Beiträge für Europa zur Wahrung gemeinsamer europäisch-amerikanischer Interessen einzusetzen.
- Die Bundeswehrplanung ist zu überprüfen und anzupassen, vor allem ist sie zu beschleunigen und finanziell abzusichern. Das heißt Ausrüstung, nicht Aufrüstung. Sicher also nicht 2 Prozent des BIP für Verteidigung in 2020, aber ca. 20% des Verteidigungsetats für Modernisierung in einem Haushalt, der sich bis 2024 in Richtung auf 2 Prozent bewegt.
Wäre damit die Idee und Wirklichkeit des Westens zu retten? Der Versuch muss gemacht werden, auch wenn die Ideen des Westens zunehmend die Ideen einer Minderheit auf dieser Welt sind. Aber die liberale Demokratie und eine liberale Weltordnung ist die beste Idee, die Menschen je für ihr Zusammenleben entwickelt haben. Würden wir scheitern, dann gäbe es vermutlich eine Rückkehr in die Welt konkurrierender Nationalstaaten. Deren Gefahren kennt Europa. Oder es würde sich das von Xi-Jingpin gebotene Modell einer neuen Weltordnung durchsetzen. In ihm ist für die Freiheit des Einzelnen kein Raum. Deshalb muss der Versuch gemacht werden, Amerika zurückzugewinnen, trotz Trump. Die Resolution des Congress am Tag des NATO-Gipfels zum transatlantischen Bündnis zeigt, dass es noch Hoffnung gibt und Trump eben doch nicht Amerika ist.
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