Schöner sondieren

Foto: By Sebastian Bergmann [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons

Die Jamaika-Verhand­lungen sind auch an der missra­tenen Insze­nierung der Sondie­rungs­ge­spräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen gescheitert. Bevor sich auch SPD und Union in den Spiegel­strichen ihrer Wahlpro­gramme verhaken, schlägt LibMod-Autor Markus Schubert ein alter­na­tives Szenario vor: Konzen­triert euch auf die elemen­taren Heraus­for­de­rungen und Leitideen der kommenden Legis­la­tur­pe­riode! Ein Koali­ti­ons­vertrag ist kein detail­lierter Fahrplan, sondern eher eine „Gewäs­ser­karte“, um in Zeiten stürmi­scher Verän­de­rungen zu navigieren.

Nun sondieren sie wieder. Aus lauter Ratlo­sigkeit, was es zwischen Parteien, die schon bisher politisch mit- und gegen­ein­ander agiert haben, noch an Rätseln zu entschlüsseln gibt, ehe man Koali­ti­ons­ver­hand­lungen aufnimmt, haben vor Union und SPD bereits CDU, CSU, FDP und Grüne eine Menge Zeit verschwendet und Nerven überstra­pa­ziert – nicht nur die der Sondierenden.

Erst wenige Stunden (!) vor dem Platzen der Sondie­rungen, so hat es die Frank­furter Allge­meine unwider­sprochen kolpor­tiert, seien CDU, CSU, FDP und Grüne erstmals aufge­rufen worden, reihum zu formu­lieren: „Was wollen wir hier eigentlich erreichen? Was ist zentral? (…) Das Gespräch wurde jetzt lockerer, die Stimmung hellte sich auf.“ (FAZ, 27.11.2017).

Bis dahin waren vier Wochen vergangen, von denen alleine zwei für die Auslotung von existie­renden oder sich abzeich­nenden Wider­sprüchen zwischen den Programmen der vier Parteien vergeudet wurden. Mal in großer Runde, mal in Arbeits­gruppen, mal unter den Chefun­ter­händlern trug man sich in epischer Länge und Breite vor, welche unumstöß­lichen Haltungen man vor der Wahl zu Papier gebracht hat, auf welchen Feldern man diese keines­falls ändern könne, und auf welche Forde­rungen der Partner in spe man unter keinen Umständen und ungeachtet möglicher Kompen­sa­ti­ons­ge­schäfte einlassen könne.

Ein depri­mie­render Auftakt und eine fatale Fehlauf­stellung der Sondie­rungs­ar­chi­tektur. Nicht nur gruben sich die Sondierer immer tiefer in ihren Schüt­zen­gräben ein, es wurden auch durch die dazu passenden öffent­lichen Äußerungen unsinnige Erwar­tungen der eigenen Mitglieder und Wähler geweckt und Gesichts­ver­luste programmiert.

Dabei sind die Wahlpro­gramme der Parteien (euphe­mis­tisch auch Regie­rungs­pro­gramme genannt) viel mehr Binde­mittel nach innen als Handlungs­an­leitung nach außen. Sie werden abgefasst als Wunsch­zettel der Partei­basis. Jeder weiß, dass daraus nie eins zu eins Regie­rungs­po­litik werden kann. Beflissene Minis­te­ri­al­beamte und Partei­zen­tra­len­mit­ar­beiter kleistern einen Entwurf zusammen, Delegierte stürzen sich leiden­schaftlich auf einige (besten­falls eigens dazu einge­baute) Streit­punkte mit der Partei­führung, die Antrags­kom­mission bügelt alles glatt. Am Ende steht ein blutarmer Text, den niemand mehr liest, kein Politiker, kein Mitglied und schon gar kein Wähler. Zurecht könnte und müsste man aktuelle Regie­rungs­par­teien außerdem fragen: Wenn euch diese politi­schen Projekte so wichtig und unver­zichtbar erscheinen, warum habt ihr sie dann nicht in den letzten vier oder acht Jahren angepackt?

Ausge­rechnet diese Textwüsten sollen nun Grund­lagen für den politi­schen Diskurs denkender und handelnder Politiker von einigem Format sein, die sich aufein­ander zu bewegen sollen und vielleicht sogar wollen.

Ein zweiter Fehler ist, dickleibige Koali­ti­ons­ver­ein­ba­rungen für eine Erfolgs­ga­rantie für die anste­hende Legis­la­tur­pe­riode zu halten. So gut und ausge­feilt der Plan auch sein mag, wesent­liche Heraus­for­de­rungen, denen Kanzler, Regierung und die sie tragenden Parla­ments­frak­tionen gegen­über­stehen werden, sind nicht vorher­zu­sehen – und demzu­folge auch nicht zu verab­reden. Weltweite Banken­krise, NSA-Abhör­affäre, Griechen­kollaps, Putins Neoim­pe­ria­lismus, Bürger­kriege, Jahrhun­dert­hoch­wasser, islamis­tische und andere Terror­ge­fahren, Brexit, Trump, Migra­ti­ons­wellen und die Weltkon­junktur – in einer globa­li­sierten Wirtschaft, in einer inter­na­tional einge­bun­denen Politik und vor allem in einem europäi­schen, dicht durch­wo­benen Staaten­verbund ist nationale Politik natur­gemäß immer häufiger relativ und reaktiv. Was nutzt dann der vergossene Schweiß im Labor der Regie­rungs­bildung? Er mag für die bekannten Heraus­for­de­rungen lohnen, aber die Kunst der Politik besteht darin, mit dem Unerwar­teten klug umzugehen. Ist dann, wenn die fein gezeichnete Karte nicht mehr zu den sich neu auftu­enden Wegen und Barrieren passt, nicht eher der Werte­kompass der Wegweiser?

Die nach Jamaika strebenden Parteien – und dazu wird man wohl wenigstens CDU und Grüne zählen dürfen –  hätten sich auf die eingangs skizzierte abstruse Versuchs­an­ordnung nicht einlassen dürfen.

Eine Sondierung, die ihren Namen verdient, also das vorsichtige Erkunden von Terrain oder Gewebe, hätte statt­dessen zum Auftakt eine dreitägige Klausur in einer Runde aus maximal 20 bis 30 Personen in einem Schlösschen im Branden­bur­gi­schen mit abgeschal­tetem WLAN und Mobil­funk­un­ter­drü­ckung gebraucht. Dort hätte man im straffen Rhythmus Referenten einge­laden – zur Impuls­gebung und um die Heraus­for­de­rungen an eine künftige Bundes­re­gierung zu umreißen: Donald Tusk und Europa­par­la­men­tarier dreierlei Couleur zur Zukunft der EU; Andreas Schleicher von der OECD – wegen Bildung und Chancen­ge­rech­tigkeit; Gerald Knaus – wegen Migration und Steuerung derselben, Kardinal Marx und Navid Kermani – wegen Gerech­tigkeit, Migration und Integration, Islami­sie­rungs­angst; dazu die Leiter von Stiftungs­büros zu Russland, Trump, Türkei;, Kaspar Korjus, den Kopf von e‑Estonia – zu Digita­li­sierung und deren sozialen Aspekten, u.a.m. Gerade Angela Merkel, die ihre Geburts­tags­gäste schon mal mit dem Vortrag eines Hirnfor­schers beschenkt, hätte man einen solch konstruk­tiven und anregenden Verhand­lungs­auftakt zugetraut. Nach jedem 30 Minuten-Impuls hätten die Partei­en­ver­treter ohne den Spick­zettel ihrer abgehan­genen Partei­pro­gramme in die Diskussion einsteigen können. Um am dritten Tag und nach zwei langen Abenden/​Nächten in Klein­runden am Kamin, an der Bar und im Billard­zimmer vielleicht keinen Rütli- und auch keinen Ballhaus­schwur zu leisten, aber sich vielleicht vor der Heimreise nach Berlin und den anschlie­ßenden, konse­quent nach vorne blickenden Arbeits­grup­pen­sit­zungen sich noch einmal über die Antworten auf leitende Fragen zu verständigen:

In welcher Welt leben wir?

Wir kann unser Kontinent sich wappnen und solida­ri­scher werden?

Wo und wie verdienen unsere Unter­nehmen Geld?
Wie nutzt dies möglichst vielen Menschen im Land?

Wen und was besteuert der Staat? Arbeit? Einkommen? Handel? Vermögen? Mobilität? Konsum? Umwelt­ver­schmutzung? Was bremst dabei Innovation und was fördert sie? Was wird als gerecht empfunden?

Wo stecken die Gestal­tungs­chancen des Staates in einer globa­li­sierten Welt, und in welchen Allianzen wollen und müssen wir handeln?

Wie bereiten wir unsere Kinder auf das Leben vor, welche Rolle spielen dabei Familien, welche Gemein­schaften, welche Bildung?

Wie verhindern wir das wachsende – auch geistige – Ausein­an­der­fallen von urbanen Zentren und ländlichen Räumen?

Wie können Digita­li­sierung und Mobilität beiden Räumen neuen Chancen eröffnen?

Wie bleibt unsere Gesell­schaft, wie unsere Arbeitswelt lernfähig, wettbe­werbs­fähig und menschenfreundlich?

Welche univer­sellen Werte setzen wir populis­ti­schen und natio­na­lis­ti­schen Ideologien entgegen – und wie fördern wir Gelas­senheit gegenüber der Vielfalt von Identi­täten und Lebens­weisen, die zur histo­ri­schen DNA des föderalen und seit 500 Jahren multi­re­li­giösen Deutsch­lands gehören?

Ein Regie­rungs­pro­gramm entsteht nicht durch die Addition und Subtraktion von 4 Wahlpro­grammen. Ein Regie­rungs­pro­gramm muss gemeinsam anhand von elemen­taren Frage­stel­lungen umrissen und später vertieft werden. Es muss nicht die Arbeit jedes Referats in jedem Minis­terium festlegen, es muss tatsächlich mehr eine Gewäs­ser­karte als eine Roadmap darstellen. Es sollte einen Aufbruch markieren, und den gemein­samen Gestal­tungs­willen aber auch exklusive Gestal­tungs­spiel­räume der Koali­ti­ons­partner umreißen.

Die Ausdif­fe­ren­zierung des Partei­en­systems sorgt dafür, dass (auch in den Bundes­ländern) mehr und mehr Koali­tionen entstehen, die von den Betei­ligten nicht gewünscht und angestrebt wurden. Die Vorstellung, dass alle Koali­ti­ons­partner nach Verhand­lungen alle Politik­felder einheitlich betrachten und bearbeiten, stammt eben auch noch aus der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat.

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