Schöner sondieren
Die Jamaika-Verhandlungen sind auch an der missratenen Inszenierung der Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen gescheitert. Bevor sich auch SPD und Union in den Spiegelstrichen ihrer Wahlprogramme verhaken, schlägt LibMod-Autor Markus Schubert ein alternatives Szenario vor: Konzentriert euch auf die elementaren Herausforderungen und Leitideen der kommenden Legislaturperiode! Ein Koalitionsvertrag ist kein detaillierter Fahrplan, sondern eher eine „Gewässerkarte“, um in Zeiten stürmischer Veränderungen zu navigieren.
Nun sondieren sie wieder. Aus lauter Ratlosigkeit, was es zwischen Parteien, die schon bisher politisch mit- und gegeneinander agiert haben, noch an Rätseln zu entschlüsseln gibt, ehe man Koalitionsverhandlungen aufnimmt, haben vor Union und SPD bereits CDU, CSU, FDP und Grüne eine Menge Zeit verschwendet und Nerven überstrapaziert – nicht nur die der Sondierenden.
Erst wenige Stunden (!) vor dem Platzen der Sondierungen, so hat es die Frankfurter Allgemeine unwidersprochen kolportiert, seien CDU, CSU, FDP und Grüne erstmals aufgerufen worden, reihum zu formulieren: „Was wollen wir hier eigentlich erreichen? Was ist zentral? (…) Das Gespräch wurde jetzt lockerer, die Stimmung hellte sich auf.“ (FAZ, 27.11.2017).
Bis dahin waren vier Wochen vergangen, von denen alleine zwei für die Auslotung von existierenden oder sich abzeichnenden Widersprüchen zwischen den Programmen der vier Parteien vergeudet wurden. Mal in großer Runde, mal in Arbeitsgruppen, mal unter den Chefunterhändlern trug man sich in epischer Länge und Breite vor, welche unumstößlichen Haltungen man vor der Wahl zu Papier gebracht hat, auf welchen Feldern man diese keinesfalls ändern könne, und auf welche Forderungen der Partner in spe man unter keinen Umständen und ungeachtet möglicher Kompensationsgeschäfte einlassen könne.
Ein deprimierender Auftakt und eine fatale Fehlaufstellung der Sondierungsarchitektur. Nicht nur gruben sich die Sondierer immer tiefer in ihren Schützengräben ein, es wurden auch durch die dazu passenden öffentlichen Äußerungen unsinnige Erwartungen der eigenen Mitglieder und Wähler geweckt und Gesichtsverluste programmiert.
Dabei sind die Wahlprogramme der Parteien (euphemistisch auch Regierungsprogramme genannt) viel mehr Bindemittel nach innen als Handlungsanleitung nach außen. Sie werden abgefasst als Wunschzettel der Parteibasis. Jeder weiß, dass daraus nie eins zu eins Regierungspolitik werden kann. Beflissene Ministerialbeamte und Parteizentralenmitarbeiter kleistern einen Entwurf zusammen, Delegierte stürzen sich leidenschaftlich auf einige (bestenfalls eigens dazu eingebaute) Streitpunkte mit der Parteiführung, die Antragskommission bügelt alles glatt. Am Ende steht ein blutarmer Text, den niemand mehr liest, kein Politiker, kein Mitglied und schon gar kein Wähler. Zurecht könnte und müsste man aktuelle Regierungsparteien außerdem fragen: Wenn euch diese politischen Projekte so wichtig und unverzichtbar erscheinen, warum habt ihr sie dann nicht in den letzten vier oder acht Jahren angepackt?
Ausgerechnet diese Textwüsten sollen nun Grundlagen für den politischen Diskurs denkender und handelnder Politiker von einigem Format sein, die sich aufeinander zu bewegen sollen und vielleicht sogar wollen.
Ein zweiter Fehler ist, dickleibige Koalitionsvereinbarungen für eine Erfolgsgarantie für die anstehende Legislaturperiode zu halten. So gut und ausgefeilt der Plan auch sein mag, wesentliche Herausforderungen, denen Kanzler, Regierung und die sie tragenden Parlamentsfraktionen gegenüberstehen werden, sind nicht vorherzusehen – und demzufolge auch nicht zu verabreden. Weltweite Bankenkrise, NSA-Abhöraffäre, Griechenkollaps, Putins Neoimperialismus, Bürgerkriege, Jahrhunderthochwasser, islamistische und andere Terrorgefahren, Brexit, Trump, Migrationswellen und die Weltkonjunktur – in einer globalisierten Wirtschaft, in einer international eingebundenen Politik und vor allem in einem europäischen, dicht durchwobenen Staatenverbund ist nationale Politik naturgemäß immer häufiger relativ und reaktiv. Was nutzt dann der vergossene Schweiß im Labor der Regierungsbildung? Er mag für die bekannten Herausforderungen lohnen, aber die Kunst der Politik besteht darin, mit dem Unerwarteten klug umzugehen. Ist dann, wenn die fein gezeichnete Karte nicht mehr zu den sich neu auftuenden Wegen und Barrieren passt, nicht eher der Wertekompass der Wegweiser?
Die nach Jamaika strebenden Parteien – und dazu wird man wohl wenigstens CDU und Grüne zählen dürfen – hätten sich auf die eingangs skizzierte abstruse Versuchsanordnung nicht einlassen dürfen.
Eine Sondierung, die ihren Namen verdient, also das vorsichtige Erkunden von Terrain oder Gewebe, hätte stattdessen zum Auftakt eine dreitägige Klausur in einer Runde aus maximal 20 bis 30 Personen in einem Schlösschen im Brandenburgischen mit abgeschaltetem WLAN und Mobilfunkunterdrückung gebraucht. Dort hätte man im straffen Rhythmus Referenten eingeladen – zur Impulsgebung und um die Herausforderungen an eine künftige Bundesregierung zu umreißen: Donald Tusk und Europaparlamentarier dreierlei Couleur zur Zukunft der EU; Andreas Schleicher von der OECD – wegen Bildung und Chancengerechtigkeit; Gerald Knaus – wegen Migration und Steuerung derselben, Kardinal Marx und Navid Kermani – wegen Gerechtigkeit, Migration und Integration, Islamisierungsangst; dazu die Leiter von Stiftungsbüros zu Russland, Trump, Türkei;, Kaspar Korjus, den Kopf von e‑Estonia – zu Digitalisierung und deren sozialen Aspekten, u.a.m. Gerade Angela Merkel, die ihre Geburtstagsgäste schon mal mit dem Vortrag eines Hirnforschers beschenkt, hätte man einen solch konstruktiven und anregenden Verhandlungsauftakt zugetraut. Nach jedem 30 Minuten-Impuls hätten die Parteienvertreter ohne den Spickzettel ihrer abgehangenen Parteiprogramme in die Diskussion einsteigen können. Um am dritten Tag und nach zwei langen Abenden/Nächten in Kleinrunden am Kamin, an der Bar und im Billardzimmer vielleicht keinen Rütli- und auch keinen Ballhausschwur zu leisten, aber sich vielleicht vor der Heimreise nach Berlin und den anschließenden, konsequent nach vorne blickenden Arbeitsgruppensitzungen sich noch einmal über die Antworten auf leitende Fragen zu verständigen:
In welcher Welt leben wir?
Wir kann unser Kontinent sich wappnen und solidarischer werden?
Wo und wie verdienen unsere Unternehmen Geld?
Wie nutzt dies möglichst vielen Menschen im Land?
Wen und was besteuert der Staat? Arbeit? Einkommen? Handel? Vermögen? Mobilität? Konsum? Umweltverschmutzung? Was bremst dabei Innovation und was fördert sie? Was wird als gerecht empfunden?
Wo stecken die Gestaltungschancen des Staates in einer globalisierten Welt, und in welchen Allianzen wollen und müssen wir handeln?
Wie bereiten wir unsere Kinder auf das Leben vor, welche Rolle spielen dabei Familien, welche Gemeinschaften, welche Bildung?
Wie verhindern wir das wachsende – auch geistige – Auseinanderfallen von urbanen Zentren und ländlichen Räumen?
Wie können Digitalisierung und Mobilität beiden Räumen neuen Chancen eröffnen?
Wie bleibt unsere Gesellschaft, wie unsere Arbeitswelt lernfähig, wettbewerbsfähig und menschenfreundlich?
Welche universellen Werte setzen wir populistischen und nationalistischen Ideologien entgegen – und wie fördern wir Gelassenheit gegenüber der Vielfalt von Identitäten und Lebensweisen, die zur historischen DNA des föderalen und seit 500 Jahren multireligiösen Deutschlands gehören?
Ein Regierungsprogramm entsteht nicht durch die Addition und Subtraktion von 4 Wahlprogrammen. Ein Regierungsprogramm muss gemeinsam anhand von elementaren Fragestellungen umrissen und später vertieft werden. Es muss nicht die Arbeit jedes Referats in jedem Ministerium festlegen, es muss tatsächlich mehr eine Gewässerkarte als eine Roadmap darstellen. Es sollte einen Aufbruch markieren, und den gemeinsamen Gestaltungswillen aber auch exklusive Gestaltungsspielräume der Koalitionspartner umreißen.
Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems sorgt dafür, dass (auch in den Bundesländern) mehr und mehr Koalitionen entstehen, die von den Beteiligten nicht gewünscht und angestrebt wurden. Die Vorstellung, dass alle Koalitionspartner nach Verhandlungen alle Politikfelder einheitlich betrachten und bearbeiten, stammt eben auch noch aus der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat.
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