Memorial: Gegen die Resignation

Ein beein­dru­ckender Sammelband zur 1989 in Moskau gegrün­deten Menschen­rechts­or­ga­ni­sation Memorial zieht die Verbin­dungs­linie zwischen Vergan­genheit und Gegenwart – und blickt in eine Zukunft, die nicht den Menschen­schindern gehören darf. Marko Martin stellt ihn uns vor.

Eine Fotografie im Bildteil dieses Buches zeigt die mit Handschellen verschlossene Tür des Büros der Menschen­rechts­or­ga­ni­sation Memorial in Moskau am 14.Oktober 2021. Kurz zuvor war dort ein Film der polni­schen Regis­seurin Agnieszka Holland gezeigt worden, der den Holodomor thema­ti­siert, die von Stalin zur Bestrafung der ukrai­ni­schen Bauern organi­sierte Hungersnot mit ihren Millionen Opfern. Bereits die Filmvor­führung war durch gewaltsam einge­drungene Hooligans gestört worden; die herbei­ge­rufene Polizei schlug sich dann auf deren Seite und bedrohte die Mitar­beiter des ältesten und renom­mier­testen russi­schen Aufar­bei­tungs­ver­bundes. Wenig später, da waren Server und Dokumente bereits beschlag­nahmt und die Tür mit den erwähnten Handschellen verriegelt worden, wurde Memorial auch offiziell aufgelöst. Nur wenige Monate später, am 24. Februar 2022, begann Putin mit seinem vollum­fäng­lichen Angriffs­krieg gegen die Ukraine.

Der Ungeist, aus dem heraus Putins Russland Krieg führt

„Dieses  Foto“, schreibt die Memorial-Mitbe­grün­derin Irina Scher­bakowa im einfüh­renden Essay zu Memorial. Erinnern ist Wider­stand, „ist zum Sinnbild für das Verhältnis geworden, das Putins Russland zur Geschichte pflegt. Es entstand in einem jener Momente, in denen sich der Zeitgeist gleichsam symbo­lisch konzen­triert.“ Wer verstehen will, aus welchem Ungeist heraus Putins Russland Krieg führt – und wie es bis zum heutigen Tag gelingt, weite Teile der russi­schen Gesell­schaft zu Mittätern zu machen – der lese dieses Buch! Der augen­öff­nende Sammelband zur Geschichte von Memorial erschöpft sich nämlich nicht allein in morali­scher Anklage, und auch der verliehene Nobel­preis vom Herbst 2022 wird hier weniger als Auszeichnung denn als Auffor­derung und Ansporn beschrieben: „Das Gefühl der bürger­lichen Verant­wortung, im Unter­schied zum Schuld­gefühl, erfordert keine ‚Reue‘, sondern Arbeit; es zielt nicht auf die Vergan­genheit, sondern auf die Zukunft“, sagte Jan Rachinsky, Vorsit­zender des Inter­na­tio­nalen Memorial, in seiner Stock­holmer Preisrede.

Bereits zu Beginn ist der Ton gesetzt; in ruhiger, präziser Diktion zeichnet Irina Scher­bakowa die Memorial-Geschichte von der Gründung 1989 bis zum Verbot 2021 nach – und damit wie in einem Konzentrat auch sowje­tisch-russische Geschichte. Diese ist seit 2017 von jener totali­tären Repression geprägt, deren Millionen Opfer Memorial ins Gedächtnis rufen will. In dem geradezu absurd schmalen Zeitfenster zwischen der späten Gorbat­schow- und der Jelzin-Zeit und der als „Archiv­re­vo­lution“ bezeich­neten (tempo­rären) Öffnung staat­licher Archive konnten im Reich des Archipel Gulag Archipele des Erinnerns entstehen – wenn auch nur für kurze Zeit: Es sind öffentlich zugänglich gemachte und wissen­schaftlich ausge­wertete Akten über die Opfer stali­nis­ti­scher Massen­morde, über Inhaf­tie­rungen und Depor­ta­tionen. Sie beinhalten die Gründung von Museen und entstandene Erinne­rungsorte an einstigen Massaker-Stätten, die selbst Tausende Kilometer von Moskau entfernt sind. Hinzu kommen Ausstel­lungen, Bücher und Geschichts­wett­be­werbe für Schüler.

Auch hier ist es kein Zufall, dass mit Putins Macht­an­tritt die Aufar­bei­tungs-Möglich­keiten zuerst subtil und in den Folge­jahren dann immer brachialer beschnitten wurden – bis hin zur Bedrohung jener an den Geschichts­wett­be­werben teilneh­menden Schüler durch willfährige Lehrer, Direk­toren und FSB-Agenten.

Spuren der Gewalt freilegen, einen bisher verschlos­senen Gedächt­nisraum öffnen

Wenn Gewalt das Fundament der Sowjet­union war und Putins revan­chis­tisch-expan­sio­nis­ti­sches System auf eben diesen Gewalt­struk­turen nicht nur aufbaut, sondern diese ganz offensiv preist, dann muss in dieser Logik jegliche wirkliche Erinnerung zum Schweigen gebracht werden. Der Krieg gegen die Ukraine wurde folglich auch durch das vorherige Verbot von Memorial geistig vorbe­reitet – ein Zusam­menhang, den auch Aleida Assmann, Karl Schlögel und Gerd Koenen in ihren Beiträgen betonen. Gerade in Deutschland, wo ein osten­ta­tives Geschichts-Erinnern immer mehr zum Selbst­zweck verkümmert und ohne Gegen­warts­bezug zu sein scheint, könnten deshalb die Memorial-Erfah­rungen von großem Nutzen sein. Karl Schlögel schreibt: „Die gewalt­tätige Durch­setzung einer totali­tären Deutung lehrt die Zeitge­nossen aufs Neue, was Totali­ta­rismus, was ideolo­gi­scher Terror war. Es ist also die lebendige Geschichts­er­fahrung, die ein neues Interesse an der Erfor­schung und Inter­pre­tation der Vergan­genheit provo­ziert. Der Krieg des Staates gegen die eigene Gesell­schaft, auch gegen andere Völker, ist der große Lehrmeister, er legt die Spuren der Gewalt frei und öffnet einen bisher verschlos­senen Gedächt­nisraum. Es ist die Gegen­warts­er­fahrung, die einen neuen Blick auf die Vergan­genheit generiert.“

Und so wie in den vorhe­rigen Jahrzehnten Memorial nicht nur die russi­schen Opfer des Sowjet­systems im kollek­tiven Gedächtnis zu verwurzeln versuchte, sondern auch das Schicksal von Balten, Krimta­taren, Ukrainern, Wolga­deut­schen und zahllosen anderen Nicht-Russen thema­ti­sierte, so beschreibt nun Herta Müller Putins Herkunfts­prägung durch die ungebrochen imperiale Repres­si­ons­tra­dition. „Ich glaube, Putin ist ein senti­men­taler Verbrecher, der durch Massenmord seine Jugendzeit zurück­holen will... Dieses Imperium seiner Jugend war eine doppelte Koloni­al­macht. Einmal im Inneren der Sowjet­union, wo die vielen Minder­heiten nicht nur durch den Druck der Kommu­nis­ti­schen Partei einge­schnürt, sondern auch durch die Arroganz des russi­schen Natio­na­lismus missachtet wurden. Übrigens rekru­tiert Putin heute für seinen Krieg aus diesen Minder­heiten die meisten Soldaten – also beschert er ihnen die meisten Toten, die größten Friedhöfe.“

Nicht aufge­ar­beitete Vergan­genheit gebiert neue Gräuel

Auch der 1949 geborene ukrai­nische Menschen­rechtler Miroslaw Marino­witsch sieht in der frühen Thema­ti­sierung des imperialen Charakters der Sowjet­union durch die Arbeit von Memorial einen Quali­täts­sprung innerhalb der Menschen­rechts­be­wegung. Hinzu kommt jener entwi­ckelte Sinn für den prakti­schen Nutzen der Vergan­gen­heits­auf­ar­beitung: Was besprochen, offen­gelegt und gesell­schaftlich, aber auch juris­tisch verur­teilt wurde, mindert die Gefahr eines Rückfalls. Umgekehrt gilt freilich das Gleiche, so Marino­witsch: „Weil die sowje­tische Vergan­genheit nicht nach dem Vorbild des Nürnberger Prozesses rechtlich aufge­ar­beitet worden ist, und die Schul­digen ihre Taten nicht moralisch gesühnt haben, blieb der Schoß fruchtbar und hat neue Gräuel hervor­ge­bracht. So konnte die sowje­tische Vergan­genheit zur furcht­baren Gegenwart des Putin-Regimes führen.“

Wovon sich die mittler­weile über diverse Länder außerhalb Russlands verstreuten Memorial-Mitglieder jedoch nicht paraly­sieren lassen. Und so zieht dieses bemer­kens­werte Buch nicht nur die Verbin­dungs­linie zwischen verdrängter Vergan­genheit und blutiger Gegenwart, sondern wagt auch den Blick über den heutigen Tag hinaus. Die Netzstruktur des Inter­na­tio­nalen Memorial ermög­licht zahlreiche Verzwei­gungen, darunter etwa die Organi­sation Zukunft Memorial. Und so wird auch in den Inter­views mit Zeitzeugen immer wieder die Frage nach der zukünf­tigen Arbeit gestellt. Adam Michnik, eine lebende Legende der osteu­ro­päi­schen Bürger­rechts­be­wegung, antwortet darauf: „Memorial sollte einer­seits alles, was sich ereignet, sorgfältig erfassen und anderer­seits fähige Schrift­steller, Histo­riker und Philo­sophen aus der Diaspora unter­stützen. Und eines oder mehrere Zentren in Berlin, New York, London, Riga und Warschau errichten – als Soft Power im Krieg gegen Putin.“

Der Geschichte einen persön­lichen Charakter geben

Freilich konnte, auch das gehört zur Wahrheit, Memorial selbst während der Jahre seiner mehr oder minder unbehin­derten Aufklä­rungs-Aktivi­täten nur einen winzig kleinen Teil der russi­schen Gesell­schaft erreichen. Jan Rachinsky schreibt: „Die erste Ursache für die Verbrechen sehen wir darin, dass die Staats­macht sakra­li­siert wird und als höchster Wert gilt; ein umgestürztes Werte­system, in dem die Menschen lediglich Gebrauchs­ma­terial für die Lösung von Staats­auf­gaben sind.“

Vor diesem depri­mie­renden Hinter­grund eines beinahe gesamt-natio­nalen Phlegmas: Wie kann Memorial, nun unter verschärften Bedin­gungen und im Exil, etwas anstoßen, was die Mehrheit in Russland bis heute zu ignorieren scheint? Die belarus­sische Schrift­stel­lerin Swetlana Alexi­je­witsch, Litera­tur­no­bel­preis­träger-Kollegin der rumänien-deutschen Herta Müller, lässt sich jedoch auch davon nicht entmu­tigen, sondern beschreibt mit dem Menschenbild von Memorial zugleich die immense Chance, verstärkt wahrge­nommen zu werden und weiter zu wirken: „Memorial hat einen mensch­lichen Tonfall, es nimmt die Sicht des ‚kleinen Mannes‘ ein, nicht die der großen Geschichte. Memorial gibt der Geschichte einen persön­lichen Charakter – wir erfahren, was mit dem einzelnen Menschen geschieht. Das kann den Leuten helfen zu bestehen, damit sie in diesen Zeiten nicht den Halt verlieren, nicht zerbrechen.“

Überdies zeugen die Bilder im Mittelteil des Buches von der immensen Wider­stands­kraft des Humanen: Sie zeigen aus dem Gulag gerettete und Memorial übergebene winzige Artefakte – mit Ruß oder gerie­benem Ziegel­stein gefer­tigte Zeich­nungen, Mosaike aus Eierschalen, Kinder­ge­schichten und Liebes­briefe. Wenn dies selbst unter solch grauen­haften Bedin­gungen möglich war – welches Recht hätten dann wir, uns wortreicher Verzweiflung hinzu­geben? Deshalb, noch einmal: Dieses Buch ist ein Antidot gegen die Resignation und damit unverzichtbar.

 

Irina Scher­bakowa, Filipp Dzyadko, Elena Zhemkova (Hrsg.): MEMORIAL. Erinnern ist Wider­stand. Übersetzt von Anselm Bühling und Vera Ammer. C.H. Beck Verlag, München 2025. 192 S., geb., Euro 25,-

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