Nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg
„Wohin steuert Ostdeutschland?“ Diese Frage diskutierte Ralf Fücks vom Zentrum Liberale Moderne mit Marianne Birthler, Bürgerrechtlerin und ehemalige Leiterin der Stasiunterlagenbehörde, sowie mit Marco Wanderwitz, sächsischer Bundestagsabgeordneter für die CDU und ehemaliger Ostbeauftragter der Bundesregierung.
Was sind die Gründe für die Erfolge von AfD und BSW und für die Schwäche der politischen Mitte in Ostdeutschland? Für Marianne Birthler sind die Ursachen vielfältig; sie hingen mit der Diktaturerfahrung der DDR ebenso zusammen wie mit der Transformation der Wendezeit. Sie zählte eine ganze Reihe spezifischer Erfahrungen auf, die bis heute die politischen Einstellungen in Ostdeutschland prägten und eine verbreitete Distanz zur liberalen Demokratie begründeten:
Eine homogene Gesellschaft
Die DDR-Gesellschaft sei ausgesprochen homogen gewesen, Ausländer oder auch Anhänger nichtchristlicher Religionen habe es nur vereinzelt gegeben. Die Menschen hätten nicht gelernt, persönliche Risiken einzugehen und für das eigene Schicksal Verantwortung zu übernehmen. Dies sei ihnen in der DDR systematisch abtrainiert worden. Es herrsche seit jeher ein Gefühl der Zweitklassigkeit gegenüber dem Westen. Die DDR habe sich als Friedensstaat inszeniert, auch wenn das im Widerspruch zur Militarisierung der Gesellschaft stand. Es habe faktisch keine kritische Öffentlichkeit gegeben. Seit dem Nationalsozialismus gebe es in Ostdeutschland einen kontinuierlichen Antiamerikanismus. Auch habe in der DDR – anders als im Westen – keine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit Schuld und Verantwortung stattgefunden. Die DDR habe sich als Erbe des Widerstandes und der Opfer des NS inszeniert und das Erbe des Faschismus der Bundesrepublik zugeschoben. Damit habe sie das Thema ad acta gelegt. Bereits zu DDR-Zeiten habe es zudem eine starke Abwanderung von Menschen gegeben, die engagiert waren, die Verantwortung für sich übernahmen und die den Mut besaßen, noch einmal von vorn anzufangen. Man müsse Ostdeutschland deshalb als Auswanderungsgesellschaft begreifen, die einen Qualitätsverlust erlitten habe.
Scham und Beschämung
Unter den prägenden Erfahrungen der Transformation nach 1989 nannte Birthler die Unterschiede zum Westen bei Einkommen und Vermögen sowie die fortbestehende Repräsentationslücke bei Ostdeutschen in Führungspositionen. Das sei der Nährboden für das verbreitete Gefühl der Herabsetzung. Zudem werde im Osten viel zu wenig über Gefühle von Scham und Beschämung gesprochen, die eine Quelle von Wut seien. Dabei gebe es eine unbearbeitete Beschämung darüber, dass man das alles mit sich habe machen lassen. Selbst die westdeutschen Transferleistungen seien zweischneidig. Sie seien nötig und hilfreich gewesen, hätten aber auch das Gefühl erzeugt, vom Westen ausgehalten zu werden, so als würde es der Osten nicht schaffen, aus eigener Kraft heraus zu leben. Das habe zum Teil pubertäre Reaktionen zufolge. Eine so tiefgehende Transformation bedeute zudem immer auch Unsicherheit.
Fragwürdiges Demokratieverständnis
Im Osten herrsche eine merkwürdige Vorstellung von Demokratie, die einem pubertären Doppelverhalten gleichkomme: Einerseits bestehe der Wunsch nach Autorität, gleichzeitig aber gebe es ein Aufbegehren dagegen. Hinzu komme eine Angst vor der Freiheit und der mit ihr verbundenen Selbstverantwortung.
„Gibt es im Osten ein anderes Verständnis von Demokratie oder haben wir es mit einer Ablehnung von Demokratie zu tun?“, wollte Ralf Fücks von Marco Wanderwitz wissen. Wenn die „Junge Alternative“ und „Dynamo Dresden“-Fans gemeinsam „Ost‑, Ost‑, Ostdeutschland“ brüllten, zeige sich darin eine Verachtung für den Westen, so Wanderwitz. Dabei sei die ostdeutsche Identität erst ein Nachwendeprodukt. Die DDR-Bürger selbst hätten sich immer als Deutsche verstanden. Erst die Nachfolgeparteien der SED hätten diese ostdeutsche Identität nach der Wende erfolgreich aufgebaut, dies mache sich nun die AfD gekonnt zu Nutze.
Der Osten nehme die liberale, westliche Demokratie als schwach wahr. Man favorisiere einen starken Staat, eine Führerpersönlichkeit und eine Volkspartei als Stimme des Volkes. Demokratische Prinzipien wie Kompromissfähigkeit und der Schutz von Minderheiten würden abgelehnt.
Bei den Landtagswahlen habe es eine historisch hohe Wahlbeteiligung gegeben und trotzdem habe die AfD zugelegt. In Sachsen hätten 86 Prozent der AfD-Wähler aus Überzeugung eine rechtsradikale Partei gewählt. Man müsse festhalten: Wer Nazis wähle, sei kein Demokrat. Die AfD habe die Lücke von den mittleren Altersstufen zur Jugend schließen können. Sie sei damit noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten, wenn die ältere Generation, bei der die AfD weniger Anklang findet, künftig wegfällt.
Multiple Krisen und der Verlust von Werten
Zu den Ursachen für die politische Lage in Ostdeutschland verwies Wanderwitz auf die vielen Krisen der vergangenen Jahre – von der Pandemie bis zu Russlands Vollinvasion in der Ukraine. Im Osten gebe es zudem eine sehr schwache Zivilgesellschaft, die sich in der DDR nicht habe herausbilden können. Und schließlich habe es im Osten eine Entchristlichung ganzer Landstriche geben, ohne dass dies durch eine humanistische Bildung aufgefangen worden sei. Dadurch sei das Wertefundament verloren gegangen. Immer mehr Demokraten und Engagierte wüssten inzwischen nicht mehr, wie lange sie es im Osten noch aushielten.
Marianne Birthler merkte an, im Osten gebe es eine gewisse Ahnungslosigkeit, was Demokratie eigentlich bedeute. Man sei in der DDR in einem Verständnis aufgewachsen, dass die Welt in Gut und Böse, in Richtig und Falsch aufzuteilen wäre. Auch sie habe erst lernen müssen, dass es zu politischen Fragen unterschiedliche Meinungen geben könne, die alle ihre Berechtigung haben und miteinander vermittelt werden können. Viele Menschen in Ostdeutschland seien jedoch der Meinung, Demokratie bedeute, das passiere, was man selbst für richtig hielte. Geschehe dies nicht, tauge Demokratie eben nicht. Es gebe keine Übung darin, politische Lösungen miteinander auszuhandeln. Viele reklamierten Freiheit und Menschenrechte nicht für alle, sondern nur für die eigene Gruppe.
Geschlechterkonflikte, Rollenverständnis und Wahlverhalten
Marco Wanderwitz verwies auf die unterschiedlichen politischen Einstellungen der Geschlechter in Ostdeutschland. Aus seinem Wahlkreis wisse er, dass viele junge Frauen in der Mehrheit demokratische Parteien wählten, während die jungen Männer überwiegend für die AfD stimmten. Dies habe auch mit der Überforderung vieler junger Männer durch wandelende Rollenbilder zu tun und führe am Ende zu Geschlechterkonflikten mit den Frauen. In den ländlichen Regionen gebe es inzwischen einen dramatischen Männerüberhang, weil junge Frauen abwanderten, die oft besser ausgebildet und offener für Veränderungen seien.
Was tun, um Demokratie in Ostdeutschland zu stärken?
Marco Wanderwitz mahnte ein Verbotsverfahren für die AfD an. Man müsse das Feuer des Extremismus rechtzeitig austreten, um Zeit für den Aufbau einer demokratischen Kultur zu gewinnen. Im ländlichen Raum sei die AfD analog wie digital die einzige kampagnenfähige Kraft. In den Parlamenten säßen Hunderte Abgeordnete und Tausende Mitarbeiter, die Rechtsextremismus verbreiteten und von Steuergeldern bezahlt würden.
Marianne Birthler sah ein Verbotsverfahren mit gemischten Gefühlen. In jedem Fall sei eine klare Abgrenzung notwendig. Ein Hinterherlaufen sei gefährlich. Am wichtigsten sei, die demokratische Mitte zu stabilisieren. Lehrer, Journalisten und Polizisten dürften kein Verständnis für extreme Positionen zeigen. Auch die Politik habe eine enorme Vorbildfunktion und dürfe nicht abfälliges Benehmen und fehlende Bereitschaft zum Zuhören vorleben. Auch gute Sachpolitik habe Überzeugungskraft.
AfD-Verbotsverfahren sinnvoll?
Ralf Fücks warf ein, ob der Ruf nach einem Verbot der AfD nicht ein Eingeständnis der Schwäche der Demokraten sei: „Greifen wir zum Verbot, weil wir mit Argumenten nicht gegen die AfD ankommen, die inzwischen zu mächtig geworden ist? Bestärken wir damit nicht die AfD-Sympathisanten, die etablierten Eliten die Verwendung antidemokratischer Mittel vorwerfen, um ihre Macht zu retten?“ Schließlich gebe es für ein Parteienverbot aus guten Gründen hohe Hürden, so Ralf Fücks. Wäre nicht die bessere Alternative, dass die demokratischen Kräfte die Probleme anpackten, die bei Teilen der Bevölkerung zur Entfremdung von Parteien und Parlamenten führten? Gutes Regieren sei schließlich die beste Waffe gegen Extremismus.
Marco Wanderwitz wies darauf hin, dass die beiden Parteienverbote in den 50er Jahren gegen die KPD und die Sozialistische Reichspartei als NSDAP-Nachfolgerin heute so nicht mehr möglich wären. Das Bundesverfassungsgericht habe die Voraussetzung der Wirkmächtigkeit der zu verbietenden Partei eingeführt. Bei der AfD stehe diese Potentialität inzwischen außer Frage. „Lieber rette ich die Demokratie mit einem Parteienverbot, bevor 2029 ein AfD-Ministerpräsident mit absoluter Mehrheit an die Macht kommt“, so Wanderwitz. Man müsse sich klar machen, dass die AfD „millionenfach abschieben“ wolle, obwohl es aktuell nur 44.000 ausreisepflichtige Asylbewerber gebe. Die AfD vertrete eine völkische Ideologie. Es gehe um ein „Biodenken“ und Aussortierung von Menschen, womit sie klar Artikel 1 des Grundgesetzes verletze.
Wenn man in Ostdeutschland einen beliebigen Handwerker befrage, bekomme man Antworten wie „Ich will hier keine Ausländer!“ Wir hätten es mit einem verbreiteten völkischen Volksbegriff zu tun, der klar im Widerspruch zum Grundgesetz und dem dort verankerten Volksbegriff steht. In diesem Denken zeige sich auch die Kontinuität seit dem Nationalsozialismus, der gerade in der DDR fortgelebt habe. So sei beispielsweise auch im „Asozialen-Paragraf“ der DDR das NS-Erbe erkennbar.
Marianne Birthler verwies auf das fehlende Vertrauen in die Politik. Den Menschen sei es wichtig, welche Politiker sie als Personen respektieren und wem sie Vertrauen entgegenbringen könnten. Authentizität sei dafür zentral. Als Beispiel nannte sie die hohe Akzeptanz von Verteidigungsminister Pistorius, der klare Positionen vertrete und von der Bevölkerung besser akzeptiert werde als der Kanzler.
Schwierige Regierungsbildungen in den drei Landtagen
Für Marco Wanderwitz war klar: Man müsse es ohne AfD und BSW machen, wenn dies wie in Sachsen unter Einschluss der Grünen und der Linken möglich sei. Es sei ein Fehler von Ministerpräsident Kretschmer gewesen, eine Zusammenarbeit mit den Grünen kategorisch auszuschließen.
Wanderwitz warnte nachdrücklich vor einer Zusammenarbeit mit dem BSW. Die Wagenknecht-Partei stünde der SED näher als es die Linke je getan habe. Jene Mitglieder der Linken, wegen derer die Union einst ihren Unvereinbarkeitsbeschluss getroffen habe, seien nun zum BSW gegangen. Das kategorische Nein gegenüber der Linken könne daher nun nicht mehr aufrechterhalten werden, während man zugleich mit dem BSW zusammengehe.
Marianne Birthler bekräftigte, dass das BSW nicht weniger als die AfD eine Gefahr für die Demokratie darstelle. Wagenknecht lege mit ihrem Bekenntnis gegen die Westbindung die Axt an die Fundamente der Bundesrepublik und strebe mit ihrem missbräuchlichen Friedensbegriff eine Friedhofsruhe in der Ukraine an. Das BSW sei eher noch gefährlicher als die AfD, denn es erreiche mit seiner vorgeblichen Zivilisiertheit viel stärker auch gebildete Schichten.
Auch wenn es die Notwendigkeit gebe, in den drei Bundesländern nach der Wahl eine Regierung zu bilden, müsse klar sein: Nicht mit dem BSW. Mit Christian Lindner gesprochen gelte hier „Lieber gar nicht regieren, als schlecht regieren“, so das Fazit von Marianne Birthler.
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