„Die Russen sind eben so“ – Wider das Klischee der russischen Untertanenmentalität
WM-Dossier “Russland verstehen“: Die Art und Weise, in der viele Russen auf Konformitätsdruck, Propaganda und Repression in ihrem Land reagieren, ist keineswegs außergewöhnlich. Keinesfalls kann man daraus schließen, dass die russische Gesellschaft nicht demokratiefähig sei.
Lange Zeit herrschte im Westen, insbesondere bei Liebhabern der klassischen russischen Literatur, wenn nicht mit Genuss, so doch mit einem gewissen Maß an wohlwollender Neugier und Faszination die Vorstellung von einer „geheimnisvollen russischen Seele“. Auch den Russen selbst gefiel es, sich selbst als etwas Besonderes zu sehen, von anderen unterschieden durch ihre „Geistigkeit und Seelentiefe“.
Das Verhalten der russischen Bevölkerung ist ein absolut typisches Verhalten von Menschen unter den Bedingungen eines raffinierten autoritären Systems.
Angesichts der Krim-Annexion, des Kriegs in der Ukraine und der Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bekam die stereotype Vorstellung von einer russischen Einzigartigkeit nun eine andere Färbung. Regelmäßig verbreiten (westliche und russische) Medien Berichte, die die Vorstellung von einer „Nation von Sklaven“ befördern. Russen werden da als von Natur aus hartnäckige Konformisten gesehen, die blind der Linie ihres kriegslüsternen Anführers folgen. Diese Logik lässt allerdings eine Reihe wichtiger Aspekte außer Acht. Zum einen ist das, was hier „den Russen“ zugeschrieben wird, in Wirklichkeit typisch für ein bestimmtes Gruppenverhalten unter bestimmten Bedingungen. Zweitens geht die Unterstellung einer bewussten Entscheidung für Putin und seinen aggressiven Kurs fälschlicherweise davon aus, dass der Gesellschaft in Russland alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, um eine rationale Entscheidung zu treffen.
Zimbardos Gefängnis-Experiment
1971 hat Philip Zimbardo im Keller der Psychologischen Fakultät der Universität Stanford sein berühmtes Experiment durchgeführt. Es veränderte den Blick der Psychologen auf den Einfluss, den soziale Situationen auf das Verhalten des Individuums haben: Es wurde als „Stanford-Prison-Experiment“ berühmt. Zimbardo, der die Erfahrungen eines Lebens im Gefängnis unter kontrollierten Bedingungen untersuchen wollte, teilte seine studentischen Freiwilligen nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen. Die eine sollte die Rolle der Häftlinge übernehmen, die andere die der Wächter.
Bei der Auswahl hatten die Forscher die Möglichkeit ausgeschlossen, dass persönliche Besonderheiten mit ins Spiel kämen: Die ausgewählten Freiwilligen hatten bei den Tests alle die ungefähr gleichen Indikatoren gezeigt. Die meisten vertraten überwiegend pazifistische Ansichten, die unter Studierenden in jener Zeit sehr stark verbreitet waren. Das Experiment nahm sehr bald eine gefährliche Wendung, die Rollen wurden verinnerlicht: Die „Wächter“ erniedrigten begeistert die „Häftlinge“ (Zimbardo selbst zieht Parallelen zur Folterung von Häftlingen in Abu Ghraib) – und aus den freiheitsliebenden Studenten der 1970er Jahre wurden schnell Gefangene, die auf jedwede Verletzung ihrer Rechte passiv reagierten, obwohl ihnen bewusst gewesen sein muss, dass sie jederzeit diese stressgeladene Situation verlassen konnten.
Sozialpsychologen und Philosophen beschreiben eine ganze Reihe psychologischer Faktoren, die Menschen in bestimmten Situationen dazu bringen, Mitläufer des „Bösen“ zu werden oder das „Böse der Unterlassung“ zu begehen.
Bedürfnis nach Zugehörigkeit
Zunächst einmal besteht die mächtigste Kraft, die unser Verhalten beeinflusst, in dem grundlegenden Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe: Um nicht zum Außenstehenden zu werden, sind Menschen bereit, sich dem Druck der Gruppe und der in ihr vorherrschenden Normen zu beugen und sich dann eine rationale Erklärung dafür zurechtzulegen. In Bezug auf den russischen Kontext sollten wir uns einfach einmal vorstellen, dass dort ein Experiment wie das kontrollierte Zimbardo-Experiment zur Unterwerfung von Menschen stattfindet, das das ganze Land umfasst. Der Kreml verfügt über riesige Ressourcen, um administrativen und medialen Druck auszuüben. Und er kann konsequent kontrollieren, wie man sich verhalten muss, um als Russe akzeptiert zu werden. Die ungewöhnlich hohen Umfragewerte zur Unterstützung der derzeitigen Regierung erzeugen den Eindruck, dass nur Außenseiter gegen den Präsidenten opponieren. Auch die genötigt-freiwilligen Massenaktionen zur Unterstützung Putins und die von regierungstreuen Medien gestreute Propaganda zur Diskreditierung der Opposition wirken in diese Richtung.
Wichtig ist auch, wie der Kreml das Bild des „Anderen“ im Inneren durch dessen angebliche Nähe zum äußeren „Anderen“ (dem Westen) formt, gegen den die Feindseligkeit bereits hinreichend stabil in der öffentlichen Meinung verankert ist. Kritiker des Kreml werden von den staatlichen Medien nicht als Dissidenten im Inland definiert, sondern als Individuen, die die Identität des Anderen tragen. Zu den anschaulichen Beispielen gehören die von regierungsfreundlichen, „patriotischen“ Nischenmedien verbreiteten Listen von „Nationalverrätern“ und einer „fünften Kolonne“, die angeblich im Interesse des äußeren Anderen handeln. Oder die offiziellen Listen von NGOs mit der Brandmarkung „ausländischer Agent“ wie auch Versuche, das „Russischsein“ seiner Opponenten in Frage zu stellen. So wird über den medialen Raum die Vorstellung erzeugt, dass nur jene sich innerhalb Russlands offen gegen Putin stellen können, zu den äußeren Feinden gehören und in deren Interesse agieren.
Schaffung eines Feindbildes
Zweitens lässt sich Unterordnung dadurch wirksam herstellen, dass ein Feindbild geschaffen wird. Zimbardo schreibt: „Es fängt alles mit Schaffung eines stereotypen Bildes vom „Anderen“ an, mit einem entmenschlichten Bild vom Anderen als wertloses oder allmächtiges, dämonisches abstraktes Monster, das eine totale Bedrohung für unsere kostbarsten Werte und Überzeugungen in sich birgt. In einer Atmosphäre allgemeiner Angst, wenn die feindliche Bedrohung unabwendbar erscheint, beginnen vernünftige Menschen absurd zu handeln, fügen sich unabhängige Menschen sinnlosen Befehlen und wandeln sich friedfertige Menschen zu Soldaten. Ausdrucksvolle und unheimliche Feindbilder auf Plakaten, im Fernsehen, auf Titelblättern von Zeitschriften, in Filmen und im Internet graben sich tief in das limbische System, in die Struktur des primitiven Gehirns ein, und dieser Prozess wird von starken Angst- und Hassgefühlen begleitet“.
In den Experimenten der Sozialpsychologen waren es Teilnehmer des Experiments, die zum entmenschlichten „Feind“ wurden, während diese mobilisierende Rolle im heutigen Russland vom Westen und von „inneren Feinden“ ausgefüllt werden. Gleichzeitig ist es so, dass die Gesellschaft in einer Situation mit künstlich überhöhten Gefahren – darunter der propagierten Gefahr eines direkten Zusammenstoßes mit einem „äußeren Feind“ – oft Tatenlosigkeit und eine Beibehaltung der gegenwärtigen Lage vorzieht aus der Angst heraus, dass jede Änderung des Status quo eine Verschlechterung der Situation hervorrufen könnte. Der Soziologe Oleg Janizkij meint, das normative Ideal einer risikoscheuen Gesellschaft sei „Sicherheit, damit die Gesellschaft nicht mehr von dem Ziel geleitet wird, bessere Bedingungen (sozialen Fortschritt) zu erreichen, sondern nach Schutz und der Verhinderung des Schlimmsten“ strebt.
Folgsamkeit gegenüber Autoritäten
Der dritte wichtige Mechanismus, der die Unterordnung eines Individuums oder eine Gruppe determiniert, ist die „Macht der Autorität“. Autorität kann dabei durch eine bestimmte Einzelperson repräsentiert werden, als auch durch eine Gruppe. Die Studien von Solomon Asha haben gezeigt, dass Personen, selbst wenn ihnen bewusst ist, dass der Rest der Gruppe nicht Recht hat, in 70 Prozent den falschen Antworten der Mehrheit folgen. Die Daten aus anderen wichtigen Experimenten zum Thema „blinde Unterwerfung unter Autorität“ – vor allem der Experimente von Stanley Milgram und Albert Bandura – belegen die Tendenz, dass Individuen zu Konformismus neigen, vorausgesetzt, der Druck durch Gruppenmitglieder oder die Macht einer höheren Autorität ist groß genug. Genau das ist n Russland ist heute der Fall.
Hannah Arendts Konzept von der „Banalität des Böden“ wird von einer Vielzahl an Forschungsergebnissen bestätigt: In einem bestimmten Kontext sind Umgebungsfaktoren stärker als individuelle Eigenschaften; unter dem Druck eines wirkmächtigen Systems kann fast jedes Individuum und jede Nation grausame Taten begehen oder sie durch Tatenlosigkeit unterstützen. Daher ist es ein Fehler, das Verhalten der Gesellschaft in Russland durch ein Prisma „anlagebedingter“ Faktoren zu betrachten. Die Art, in der Russen reagieren, befindet sich im Einklang mit universeller menschlicher Psychologie: Es ist ein absolut typisches Verhalten von Menschen unter den gegebenen Bedingungen eines raffinierten autoritären Systems.
Ebenso falsch wäre es, das Verhalten von Menschen untersuchen und interpretieren zu wollen, ohne zu analysieren, welche Informationen sie erhalten. Für den Großteil der Russen sind die landesweiten Fernsehkanäle immer noch die Hauptnachrichtenquelle, die einen beträchtlichen Teil ihres Weltbildes formt. Diese Sender stehen unter der Kontrolle der Regierung und entstellen Informationen derart stark, dass das, was für den Rest der Welt zweifellos eine Aggression und inakzeptables Vorgehen darstellt, den fernsehenden Russen als Verteidigung der nationalen Interessen und als defensive Taktik präsentiert wird. Es ist höchst wahrscheinlich, dass die Bevölkerung, die heute der Regierung gegenüber loyal ist, gar nicht den realen Status quo unterstützt, bei dem Russland als Aggressor und Quelle globaler Risiken auftritt, sondern einen fiktiven und unwiderstehlichen Status quo, der in den Nachrichtenstudios von Ostankino produziert wird.
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