Ist 2019 das Ende des liberalen Israel?

© Shut­ter­stock

Bei der Parla­ments­wahl hat Benjamin Netan­jahus Likud gemeinsam mit anderen rechten und ultra­re­li­giösen Parteien eine Mehrheit errungen. Seit einigen Jahren schon geht Netanjahu aggressiv gegen unab­hän­gige Insti­tu­tionen des Staates vor. Gibt es noch Kräfte, die verhin­dern können, dass die neue Regierung Israel zu einer illi­be­ralen Demo­kratie macht?

Nein, noch ist die Kata­strophe nicht einge­treten. Immerhin haben 47 Prozent der Israelis gegen Benjamin Netanjahu gestimmt, was ein gutes Zeichen ist für die Demo­kra­tie­fä­hig­keit des jüdischen Staates. Dennoch könnte das, was in Israel bei den Wahlen am 9. April geschehen ist, das Ende des demo­kra­tisch-liberalen Systems einläuten. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Doku­men­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spon­dent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Doch viel­leicht muß das oben Geschrie­bene etwas modi­fi­ziert werden: Israel war nie ein liberal-demo­kra­ti­scher Staat, wie man ihn in Europa kennt. Allein das Prinzip, dass ein Staat stets der Staat all seiner Bürger ist, wurde in Israel von Anfang an anders gehand­habt. Ja, die Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung von 1948 besagt, dass alle Bürger des Staates gleich­be­rech­tigt sind. Doch in der Praxis sah das anders aus. Bis 1966 herrschte das Mili­tär­recht über die israe­li­schen Araber, also jene Paläs­ti­nenser, die innerhalb Israels lebten.

Eine solche Konstel­la­tion hat es in Europa nie gegeben: Dass Menschen, die zu einem verfein­deten Volk gehören, Bürger des Staates sind, den eben­dieses Volk (hier: Paläs­ti­nenser und Araber) vernichten will. Auch das macht die Beson­der­heit Israels aus. Dort, wo das in Europa so war, wurden diese Menschen vertrieben oder gar umgebracht.

Araber genießen in Israel mehr Rechte als in jedem anderen musli­mi­schen Land

Hinzu kam die im liberal-demo­kra­ti­schen Sinne kompli­zierte Defi­ni­tion des Begriffes „jüdischer Staat“. Denn schon in der Thora ist die Defi­ni­tion, wer Jude ist, einzig­artig: Man gehört nicht nur einem bestimmten Glauben an, sondern ist zugleich Teil eines Volkes (nicht einer Rasse!). Der Zionismus hat als Produkt des euro­päi­schen Natio­na­lismus des 19. Jahr­hun­derts aus dem jüdischen Volk die jüdische Nation mit ihrer natio­nalen Freiheits- und Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung gemacht.

So ist es eben auch kein Wunder, dass die israe­li­sche Natio­nal­hymne von der „jüdischen Seele“ spricht, ein Text, den musli­mi­sche, christ­liche, drusische, tscher­kes­si­sche und andere Israelis nicht wirklich singen können und wollen.

Trotz aller Probleme und Benach­tei­li­gungen der arabi­schen Minder­heit in Israel, ist es eines der vielen Paradoxe Israels, dass die Araber in Israel mehr bürger­liche Rechte und Frei­heiten haben als in jedem anderen musli­mi­schen Land. Zudem gab es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren durchaus einen gewissen Anlass zur Hoffnung auf sich verbes­sernde Bezie­hungen zwischen Juden und Muslimen. Denn im Alltag ist Koope­ra­tion durchaus vorhanden: Man sehe sich nur mal das israe­li­sche Gesund­heits­wesen an, das ohne arabische Pfleger, Schwes­tern und Ärzte nicht funk­tio­nieren würde. Im persön­li­chen und geschäft­li­chen Umgang gibt es viele positive Beispiele und schließ­lich haben auch die arabi­schen Israelis allmäh­lich begonnen, ihr Recht einzu­for­dern, sich am Staat, dessen Bürger sie sind, zu betei­ligen. Nicht nur in der Knesset, in der es seit jeher arabische Parteien gibt, sondern auch beim Äqui­va­lent zum deutschen Zivil­dienst, dem Natio­nal­dienst. Zwar absol­vieren ihn noch nicht viele Paläs­ti­nenser mit israe­li­schem Pass. Aber die Zahl steigt stetig.

Die Sied­ler­be­we­gung hat von Anfang an einen anderen Staat im Sinn gehabt

Doch die israe­li­sche Rechte, allen voran die Sied­ler­be­we­gung, hat von Anfang an einen anderen Staat im Sinn gehabt. Nicht nur für Araber, sondern auch und gerade für die jüdische Bevöl­ke­rung. Jahr­zehn­te­lang konnte sie weitab von den Ballungs­zen­tren wie Tel Aviv oder Haifa ihre Ideologie und ihr poli­ti­sches Gewicht ausbauen. Als in den Sieb­zi­ger­jahren das Sied­lungs­pro­jekt mit Hilfe von Shimon Peres, aber mehr noch von Ariel Sharon zunehmend Realität wurde, ahnte zunächst niemand, welch poli­ti­scher Spreng­stoff da heran­ge­züchtet wurde.

Tatsäch­lich sahen viele Israelis die Sied­ler­be­we­gung „Gush Emunim“ als messia­ni­sche Eiferer, die man nicht weiter ernst nehmen musste, es waren ja anfangs nur ein paar Hundert. Gleich­zeitig gab es aber auch Mahner und Warner, die früh­zeitig erkannten, welche Gefahr sich da in einer eini­ger­maßen funk­tio­nie­renden Demo­kratie auszu­breiten drohte. Ob das der Reli­gi­ons­phi­lo­soph Yeshayahu Leibowitz war oder etwas später Amos Oz: Sie sahen und wußten, auf was dieser junge jüdische Staat zusteu­erte. Dabei ging es nicht nur darum, dass die Sied­lungen illegal sind oder den Paläs­ti­nen­sern einen eigenen Staat verun­mög­lichten, sondern vor allem um eine natio­nal­re­li­giöse, messia­nisch-theo­kra­ti­sche Ideologie, die die Funda­mente des säkularen Israel zum Einstürzen bringen wollte.

Solange sich die Sied­ler­be­we­gung „nach außen“ richtete, also: gegen die Paläs­ti­nenser und ihre Aspi­ra­tion auf einen eigenen Staat, war zwar das liberale israe­li­sche Estab­lish­ment nicht einver­standen und protes­tierte manchmal zu Hundert­tau­senden auf der Straße. Aber irgendwo tief drinnen in der „jüdischen Seele“, in der Seele des Volkes aus dem Ghetto, des jahr­tau­sen­de­lang verfolgten Volkes, gab es auch immer ein wenig Zweifel am Frie­dens­willen der Paläs­ti­nenser. Und so mancher fragte sich deswegen, ob es richtig sei, Judäa und Samaria, so die hebräi­schen Namen des West­jor­dan­lands, zurück­zu­geben. Das Land, das das biblische Israel ist.

Die „Kippat Sruga“, das Zeichen der Siedler, wurde bald überall gesehen

Als die Sied­ler­be­we­gung schließ­lich ansetzte, den Staat von innen zu erobern, war es bereits zu spät. Die „Kippat Sruga“, die gehäkelte Kippa, das Zeichen der Siedler, wurde bald überall gesehen, zunehmend in Schlüs­sel­po­si­tionen des Staates, ob bei der Polizei, in den Minis­te­rien, in der Armee oder sonstwo. Die Kippa alleine war zwar noch nicht auto­ma­tisch Ausdruck einer Unter­wan­de­rung des aktuellen Systems. Der Ex-Poli­zei­chef Ronni Alsheikh, selbst Siedler und „Kippat Sruga“-Träger, ließ sich beispiels­weise nicht davon abhalten, gegen den amtie­renden Premier­mi­nister Benjamin Netanjahu in mehreren Fällen wegen Korrup­tion zu ermitteln und die Polizei gegen die massiven verbalen Attacken Bibis zu vertei­digen. Als Sharon 2005 den Gaza-Streifen räumen ließ, gingen die Siedler nicht so weit, die Armee anzu­greifen. Man leistete massiven, aber über­wie­gend passiven Wider­stand. Ob das aller­dings heute noch so wäre, ist zweifelhaft.

Mehr und mehr über­nahmen Siedler und sied­ler­freund­liche Religiöse Posi­tionen, um den Staat Israel von innen heraus zu revo­lu­tio­nieren, um aus dem säkularen Staat einen natio­nal­re­li­giösen zu machen mit anti­de­mo­kra­ti­schen Zügen, die gerne als „jüdisch“ bezeichnet werden, um darzu­legen, dass es wichtiger sei, einen „jüdischen“ Staat statt eines „demo­kra­ti­schen“ zu haben. Wobei unter­schlagen wird, dass diese Defi­ni­tion des „Jüdischen“ keine allge­meine Gültig­keit hat. Dass „jüdisch“ in der Diaspora anders definiert wird und – wie man am Beispiel der Mehrheit der US-Juden sehen kann – keines­wegs im Wider­spruch zu „liberal“ oder gar „demo­kra­tisch“ stehen muß. Ganz im Gegenteil: die große Mehrheit der US-Juden sehen „jüdisch“ als Synonym für „liberal“. Kein Wunder also, dass die beiden größten jüdischen Gemein­schaften des 21. Jahr­hun­derts sich politisch, moralisch und ideo­lo­gisch auf Kolli­si­ons­kurs befinden. Erst recht, seitdem Netanjahu an der Macht ist. Israel wird zum Darling der Repu­bli­kaner, aber immer weniger der Demo­kraten. Doch mehr als 70 Prozent der US-Juden wählen demo­kra­tisch und tun sich mit der heutigen ideo­lo­gi­schen Ausrich­tung Israels schwer.

Der Schock, der nach den Wahlen am 9. April das liberale, demo­kra­ti­sche Lager in Israel erfasst hat, ist echt und sitzt tief. Aller­dings ist er auch das Ergebnis des Wegschauens, des Laufen­las­sens, eines Gefühls des „Es betrifft mich ja nicht direkt“, das viele über zehn, zwanzig Jahre gepflegt haben, insbe­son­dere in Tel Aviv, das sich innerhalb Israels in einer ähnlichen Insel­si­tua­tion befindet wie New York in den USA.

Israel und die USA sind auf Kollisionskurs

Damit wurde zwar das Treiben der Sied­ler­be­we­gung nicht gut geheißen oder gar unter­stützt, absolut nicht. Aber über Jahr­zehnte waren die Siedler ja quasi „da drüben“ aktiv, jenseits der grünen Linie, dort, wo sich der Norma­lis­raeli nicht hin verirrt, es sei denn als Soldat. Doch hinter dieser Ausrede steckt auch Ignoranz: der Versuch zu recht­fer­tigen, dass man nicht gesehen hat, welche Realität die Siedler in Judäa und Samaria über Jahr­zehnte geschaffen haben.

Natürlich muß man die säkularen Parteien mit verant­wort­lich machen für diese Entwick­lung. Insbe­son­dere der Likud, aber durchaus auch die Arbeits­partei, haben die Siedler finan­ziell unter­stützt, weil man einen Koali­ti­ons­partner brauchte. Oder auch schlicht, was für den Likud gilt: aus über­ein­stim­mender Ideologie.

In diesem Verbund spielen auch die ultra-ortho­doxen Parteien eine gewich­tige Rolle. Sie waren anfäng­lich nicht unbedingt Unter­stützer der Sied­ler­be­we­gung. Manche halten den Staat Israel nach wie vor für Blas­phemie, weil nur der Messias einen jüdischen Staat ins Leben rufen darf. Andere, wie etwa Schas, befanden anfäng­lich unter ihrem mitt­ler­weile verstor­benen spiri­tu­ellen Mentor Rabbi Ovadia Josef, dass „jüdisches Blut heiliger sei als jüdische Erde“, dass es also legitim sei, zum Schutze des Volkes auf Land zu verzichten. Ähnlich äußerte sich auch der große Führer des litaui­schen Judentums, Raw Shach, der 2001 verstarb.

Die Paläs­ti­nenser spielten den Rechten in die Hände

Doch allmäh­lich bezogen die Ultra­or­tho­doxen Position für die Beibe­hal­tung der „Gebiete“, mehr noch aber waren sie immer schon gegen den säkularen Staat und dessen Gesetze, die man für weniger bindend ansieht als das Reli­gi­ons­ge­setz Gottes.

Zugegeben, die Paläs­ti­nenser spielten dieser Entwick­lung in die Hände. Der Terror, die Unwil­lig­keit und die Unfä­hig­keit der paläs­ti­nen­si­schen Führung, Frieden zu schaffen und die eigene Bevöl­ke­rung auf einen Kompro­miss vorzu­be­reiten und das Beharren auf der Rückkehr aller paläs­ti­nen­si­schen „Flücht­linge“ in das Kernland Israel, das für sie ebenfalls „Palästina“ ist, ist nichts anderes als die Zerstö­rung des jüdischen Staates mit fried­li­chen Mitteln. (Ich setze „Flücht­linge“ übrigens in Anfüh­rungs­zei­chen, weil sich nur bei den Paläs­ti­nen­sern der Flücht­lings­status mit Hilfe einer UN-Entschei­dung vererbt. 1948 gab es 750 Tausend Flücht­linge. Heute sind es fünf Millionen.)

All das wurde häufig als Vorwand, aber durchaus auch zu Recht als Argument der Rechten in Israel verwendet, um die eigene Position gegen einen Paläs­ti­nen­ser­staat zu zementieren.

Die Koalition unter Bibi hat sich getraut, Insti­tu­tionen des Staates zu attackieren

Was spätes­tens mit dem Wahlsieg Netan­jahus im Jahr 2015 offen­sicht­li­cher wurde, sind die Folgen dieser jahr­zehn­te­langen Entwick­lung: Aus unter­schied­li­chen Motiven, die bei Netanjahu zum Teil ideo­lo­gisch, zum Teil macht­po­li­tisch zu erklären sind, hat sich die letzte Koalition immer aggres­siver getraut, die Insti­tu­tionen des Staates anzugreifen.

Bibis verbale Angriffe gegen die Polizei, seine Abneigung gegenüber dem Gene­rals­stab der Armee, sein Wider­willen gegen die freie, „linke“ Presse und vor allem der Hass auf das Oberste Gericht von Seiten seiner ultra­rechten Koali­ti­ons­partner – all das sind Zeichen einer tief­grei­fenden Verän­de­rung des gesell­schaft­li­chen Konsens gegenüber der Demo­kratie. Der öffent­liche Diskurs, den Bibi und seine Anhänger anheizten, wonach alles, was „links“ ist, zugleich „anti-zionis­tisch“ oder gar „anti-jüdisch“ sei, hat mit dazu beigetragen, dass viele den von den säkularen Sozia­listen gegrün­deten Staat in seiner jetzigen Form nicht mehr haben wollen. Wenn Polizei, Justiz, freie Presse „links“ sind, sind die Insti­tu­tionen des zionis­ti­schen Staates selbst quasi „anti-zionis­tisch“ und „anti-jüdisch“.

Ayelet Shaked, die jetzt abge­wählte Justiz­mi­nis­terin, ging im Wahlkampf spie­le­risch damit um, dass sie als Faschistin angesehen wird. Sie machte einen Wahl­kampfspot, in dem sie – eine schöne Frau – sich ein neues Parfum zulegt, das „Faschismus“ heißt. Am Ende des Spots spricht sie in die Kamera: „Für mich riecht’s nach Demo­kra­tie.“ Shaked war ange­treten, die Freiheit und Unab­hän­gig­keit des Obersten Gerichts Israels, das inzwi­schen als letzte Bastion liberaler Werte gilt, zu beschneiden. Sie wollte in der neuen Legis­la­tur­pe­riode ihre Arbeit krönen und nicht nur die Ernennung von Richtern durch die Regierung fest­schreiben, sondern obendrein dem Gericht die Möglich­keit nehmen, verab­schie­dete Gesetze über den Haufen zu werfen. Es ist ein schwacher Trost, dass Shaked in der neuen Knesset nicht mehr vertreten sein wird, weil ihre Partei die 3,25-Prozent-Hürde nicht genommen hat. Es sind genug andere faschis­toide Grup­pie­rungen vorhanden, die das Werk Shakeds mit Begeis­te­rung fort­führen wollen.

Netanjahu hat mit dafür gesorgt, dass Rechts­extreme Teil der Knesset wurden

Im Wahlkampf hatte Netanjahu es zum Sünden­fall kommen lassen. Er hatte dafür gesorgt, dass die Sied­ler­partei ein Bündnis mit „Otzma Jehudit“ einging, um so eine stärkere Fraktion bilden zu können. „Otzma Jehudit“ („Jüdische Kraft“) ist die Nach­fol­ge­partei der in Israel verbo­tenen Kach-Partei des 1991 ermor­deten radikalen Rabbi Meir Kahane. Kahane und seine Gefolgs­leute waren offen faschis­tisch, rassis­tisch und sexis­tisch. Seine Nach­folger, von denen einige noch bei ihm „gelernt“ haben, sind es nicht minder. Netanjahu, ein Rechter, gewiß, aber doch jemand, den man lange innerhalb des demo­kra­ti­schen Spektrums wußte, hat nun mit dafür gesorgt, dass Faschisten Teil der Knesset wurden und wohl bald auch in der Regie­rungs­ko­ali­tion sitzen werden.

Und so ist zu befürchten, dass die Ultra­rechte ihren Weg weiter­gehen wird, ob mit oder ohne Shaked. Netanjahu muß inzwi­schen auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Als noch Barack Obama im Weißen Haus saß, achtete Bibi minutiös darauf, besonders extre­mis­ti­sche Geset­zes­ent­würfe in die unterste Schublade verschwinden zu lassen, wußte er doch, dass er ansonsten massive Schwie­rig­keiten mit den USA bekommen würde. Doch seitdem ein Bruder im Geiste US-Präsident ist, hat Bibi alle Frei­heiten. Die Europäer sind zu schwach und politisch zu unbe­deu­tend, als dass Netanjahu sie ernst nehmen würde. Putin, selbst ein auto­kra­ti­scher Herrscher, spricht eine ähnliche Sprache wie Bibi, wenn­gleich Netanjahu weit von der Macht­fülle des russi­schen Präsi­denten entfernt ist.

Wer von außen könnte die fünfte Regierung Netanjahu aufhalten, das Undenk­bare Realität werden zu lassen und aus Israel einen tota­li­tären Staat zu machen? Wer von innen?

Nur 44 Prozent der wahl­be­rech­tigten Araber gingen wählen

Doch halt! Diese Begriff­lich­keit ist veraltet und falsch, diese Staats­form entspricht nicht mehr dem 21. Jahr­hun­dert. Die Grenzen werden nicht dicht gemacht, poli­ti­sche Gegner nicht ins Gefängnis geworden oder gefoltert, Wahlen werden nicht abge­schafft. Das Zauber­wort hat Viktor Orbán, einer der Buddys Netan­jahus, kreiert: „Die illi­be­rale Demo­kratie“, also jenes hybride Konstrukt eines Staates, der dem Einzelnen indi­vi­du­elle Frei­heiten lässt, aber poli­ti­sche Oppo­si­tion unterdrückt.

Gerade das kleine, insulare Israel ist darauf ange­wiesen, dass seine Bürger reisen und Geschäfte mit und im Ausland machen, anders ist das Überleben des Staates nicht möglich. Es wird also auch bis auf weiteres keine echte Verän­de­rung für den einzelnen Bürger geben, solange er jüdisch und nicht arabisch ist. Denn mit dem Natio­nal­staat-Gesetz, das 2018 verab­schiedet wurde und das bis zu einem gewissen Grad die Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung von 1948 in Frage stellt, ist deutlich, dass sich der Staat in Zukunft primär um seine jüdischen Bürger kümmern wird, selbst wenn die „Basic Laws“, das Äqui­va­lent zum deutschen Grund­ge­setz, nach wie vor garan­tieren, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind. Netan­jahus Regierung ficht das nicht an, sondern macht jüdische Bürger einfach etwas „gleicher“. Eine Quadratur des Kreises, gewiß, doch wer will das anfechten? Die arabi­schen Bürger Israels, die sich über den wach­senden Rassismus in Israel beschweren?

Diese haben bei der Wahl einen kapitalen Fehler begangen. Aus Frust über das Ausein­an­der­bre­chen der arabi­schen Parteien, die 2015 als Einheits­partei immerhin dritt­stärkste Fraktion in der Knesset wurden, aber mehr noch aus Protest gegen den Rassismus in Israel, gingen gerade mal 44 Prozent der wahl­be­rech­tigten Araber zu den Wahlurnen. Wenn man bedenkt, dass die arabi­schen Wähler 17 Prozent aller wahl­be­rech­tigten Israelis ausmachen, dann wird klar, dass sie mit ihrer Stimme dem oppo­si­tio­nellen Lager vier bis sechs Mandate zusätz­lich hätten bringen können und damit Netanjahu mögli­cher­weise hätten hindern können, ein fünftes Mal an die Macht zu gelangen.

Die zehn Jahre unter Bibi waren die ruhigsten, die Israel je gehabt hat

Doch die taktisch kurz­sich­tige Entschei­dung ist gepaart mit dem Unwillen beispiels­weise des Bünd­nisses „Blauweiß“ von Heraus­for­derer Benny Gantz, sich im Umfeld arabi­scher Wähler sehen zu lassen. Aus Angst, damit Stimmen von jüdischen Israelis zu verlieren, die Bibi nicht wollen, Araber aber auch nicht.

Doch die Wahrheit ist, dass das Mitte-Links-Lager in Israel längst keine Mehrheit mehr hat. Zumindest keine jüdische Mehrheit (wobei noch die Frage gestellt werden müßte, wie „mittig“ Benny Gantz‘ Bündnis tatsäch­lich ist). Wenn also das liberale Lager jemals wieder an die Macht kommen und sich als echte Alter­na­tive aufstellen will, wird es nicht umhin kommen, die arabi­schen Israelis endlich offen und ehrlich zu umarmen und sie in ihre Mitte aufzu­nehmen (und ebenso die frommen Parteien). Und damit in Kauf zu nehmen, dass die rechts­ra­di­kalen Zeloten sie endgültig als „Anti-Zionisten“ und „Verräter“ brand­marken – was sie ja jetzt schon tun.

Dass längst nicht alle arabi­schen Israelis „Liberale“ sind, dass viele von ihnen anti-israe­lisch und sogar isla­mis­tisch sind, ist klar. Dennoch gibt es genug, die endlich in „ihrem“ Staat Israel ankommen und gehört werden möchten. Das Problem für die jüdische Anti-Bibi-Lobby ist aller­dings, dass ein Zusam­men­gehen mit der arabi­schen Minder­heit kaum vermit­telbar und womöglich karriere- und erfolgs­schä­di­gend ist. Das alles ist auch eine Folge massiver demo­gra­phi­scher Verän­de­rungen in der israe­li­schen Gesell­schaft. Und dass die extre­mis­ti­sche Umgebung des Nahen Ostens die Menschen immer weniger zu Expe­ri­menten einlädt und immer weniger Mut macht, exis­ten­ti­elle Risiken einzu­gehen, ist klar. Vor diesem Hinter­grund war es von den Israelis geradezu vernünftig, Bibi zu wählen. Die zehn Jahre, die er nun schon an der Macht ist, waren die ruhigsten Jahre, die Israel je in seiner Geschichte gehabt hat.

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