Post aus Tel Aviv: Warum Frank­reichs Juden nach Israel auswandern

© Shutter­stock

Nach den Ausfällen gegen den Philo­sophen Alain Finkiel­kraut bei einer Demons­tration der Gelbwesten ist die Empörung über Antise­mi­tismus in Frank­reich groß. Doch dass Juden das Land verlassen, ist seit Jahren eine Realität. Unser Autor hat sich unter franzö­si­schen Juden in Israel umgehört.

So verstörend die Bilder von den antise­mi­ti­schen Attacken gegen den franzö­sisch-jüdischen Philo­sophen Alain Finkiel­kraut während einer Demons­tration der Gelbwesten auch sein mögen, für Juden in Frank­reich ist das nichts Neues mehr. Schon vor Wochen spannten Demons­tranten der Gilets jaunes Poster über eine franzö­sische Autobahn, auf denen Präsident Emmanuel Macron als Mario­nette „des jüdischen Kapitals“ und „der Rothschilds“ denun­ziert wurde. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Dokumen­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spondent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Doch es geht nicht nur um den Antise­mi­tismus unter den Demons­tranten. Auch in musli­mi­schen Kreisen in Frank­reich ist der Judenhass präsent und gerade aus islami­schen Kreisen hat es zahlreiche Angriffe und auch Morde auf und an Juden gegeben. Die Ermordung jüdischer Schüler in Toulouse 2012, die Ermordung von Sarah Halimi 2017 und zuletzt von Mireille Knoll, einer Holocaust-Überle­benden, im März 2018 sind nur die extremsten Beispiele antijü­di­scher Angriffe von musli­mi­schen Tätern.

Bereits 2014 machte das US-Magazin „Newsweek“ mit seiner Titel­ge­schichte „Exodus – Why Europe’s Jews are fleeing once again“ auf das Problem aufmerksam, das bis heute von vielen Europäern nicht ernst genommen wird und längst nicht nur franzö­sische Juden betrifft.

Frank­reich hat die größte jüdische Gemein­schaft innerhalb der Europäi­schen Union, rund 450.000 Juden leben dort. In Deutschland sind es – zum Vergleich – etwa 150.000 Menschen, die als Mitglieder in jüdischen Gemeinden gemeldet sind. Findet nun tatsächlich ein Exodus statt?

„Boulan­geries“ und „Patis­series“ an jeder Ecke

In Israel rechnete man vor allem nach dem Terror­an­schlag auf das Satire­ma­gazin „Charlie Hebdo“ 2015 und auf den koscheren Super­markt „Hyper Cacher“ zwei Tage später damit, daß franzö­sische Juden in großen Zahlen nach Israel auswandern würden. Tatsächlich sind seit 2014 aber nur etwa 20.000 franzö­sische Juden nach Israel emigriert. Schon viel früher aber begannen jüdische Franzosen, die es sich leisten konnten, Wohnungen in Israel zu kaufen, um „für alle Fälle“ eine Zuflucht zu haben. Diese Wohnungen befinden sich meist in neuge­bauten Hochhäusern, die das ganze Jahr, bis auf die jüdischen Feiertage, wenn die Wohnungs­be­sitzer hier Urlaub machen, leer stehen. Doch längst hört man das ganze Jahr über Franzö­sisch auf den Straßen von Jerusalem, Tel Aviv und vor allem Netanya. Waren die Angebote israe­li­scher Immobi­li­en­makler noch bis vor Kurzem überwiegend auf Russisch ausge­schrieben, so werden die „Immeubles“ neuer­dings auf Franzö­sisch angepriesen.

In Frank­reich macht sich, ganz besonders in Paris, das Gefühl breit, daß man als Jude im Land von „Liberté, Égalité, Fraternité“ nicht mehr sicher ist. Nach Angaben des Sozio­logen und Autors Danny Trom („La France sans Juifs“) verlassen jedes Jahr ein paar Tausend Juden ihre Heimat und gehen, neben Israel, vor allem in die USA oder noch lieber – der Sprache wegen – nach Kanada.

Tel Aviv profi­tiert inzwi­schen von den einge­wan­derten Franzosen. Die energe­tische Stadt am Mittelmeer, längst ein Mekka für kulina­risch inter­es­sierte Touristen, erlebt zum Beispiel einen Boom an „Boulan­geries“ und „Patis­series“, die an jeder Ecke aufmachen. Die Kinos zeigen zunehmend franzö­sische Filme und selbst das typische Tel Aviver Kaffeehaus, in dem dieser Artikel entsteht, spielt Musik der franzö­si­schen Sängerin Pauline Croze. Zahlreiche Boutiquen mit franzö­si­scher Mode eröffnen, franzö­sisch-israe­lische Unter­nehmens-Koope­ra­tionen entstehen, ein privater Fernseh­kanal sendet aus Tel Aviv sein Programm auf Französisch.

„Frank­reich ist am Arsch“

Spricht man hier mit Einwan­derern, so sind sich alle, wirklich alle, einig: Es ist vorbei in Frank­reich, es gibt keine Zukunft, nicht dort, nicht in Europa. Die Galeristin Valerie, die neben ihrer Galerie in Paris nun auch eine kleine Depen­dance in Tel Aviv eröffnet hat, ist froh, daß sie und ihr Mann Israel zum Zentrum ihres Lebens gemacht haben: „Hier fühle ich mich wieder frei, auch wenn ich nach wie vor in Frank­reich tätig bin. Zu wissen, daß der Staat mich hier beschützt, ist einfach ein gutes Gefühl.“ Valerie spricht etwas an, das viele Immigranten auch so empfunden haben: daß der franzö­sische Staat nicht mehr hinter ihnen steht, daß sie nicht mehr Bürger der „République“ sind, sondern einfach nur „Juden“. Bereits in den Neunzi­ger­jahren zeigte sich der jüdische Soziologe und Philosoph Shmuel Trigano im Rahmen einer Diskussion mit dem American Jewish Committee entsetzt darüber, plötzlich nicht mehr „Franzose“, sonder nur noch „Jude“ zu sein. Inzwi­schen ist auch Trigano nach Israel ausge­wandert, ebenso wie der berühmte Filmre­gisseur Elie Chouraqui.

Ein Professor für Stadt­planung an einer renom­mierten Univer­sität in Paris ist zusammen mit seiner Frau vor fünf Jahren nach Israel gekommen. Er möchte anonym bleiben, darum nennen wir ihn hier einfach „Marcel“. Er möchte sein Judentum nicht an die große Glocke hängen, hat Befürch­tungen wegen möglicher Reaktionen seiner Studenten, falls diese erfahren sollten, daß er im zionis­ti­schen Staat lebt. Denn er pendelt zwischen Frank­reich und Israel, wie das viele tun. Man kann seine wirtschaft­liche Existenz nicht so ohne Weiteres aufgeben, also muß man sich auf ein Leben im Flugzeug einrichten. Jüngere Paare lösen das häufig so, daß Frauen und Kinder durch­gehend in Israel leben, während die Ehemänner hin- und herjetten, um mit ihren Firmen und Unter­nehmen in Frank­reich weiterhin den Lebens­un­terhalt abzusichern.

Für Marcel war der Moment des Auswan­derns gekommen, als er von jüdischen Freunden erfuhr, daß sie von einem Quartier in Paris ins nächste gezogen waren, wo es „für Juden sicherer“ sei. Er nennt das eine „Emigration innerhalb von Paris“. Da war der Weg nach Israel vielleicht beschwer­licher, aber nicht so „absurd“, wie er sagt.

Für den aus Marseille stammenden Friseur Philippe, der seinen Salon in Tel Avivs Zentrum betreibt, war schon vor sieben Jahren klar, daß es keine Zukunft in seinem Heimatland für ihn gibt. „Frank­reich ist am Arsch“, sagt er lakonisch, ohne jegliche Senti­men­ta­lität. Ob er die Szene mit Finkiel­kraut im Netz gesehen habe? „Ja sicher“, antwortet er achsel­zu­ckend, „so geht’s doch seit Jahren. Und es wird nur schlimmer.“

Sie alle, ob Valerie, Marcel oder Philippe, sind sich sicher, daß in den nächsten Jahren noch mehr franzö­sische Juden nach Israel kommen werden, insbe­sondere jene, die als Juden auf der Straße erkenntlich sind, die also religiöse Insignien wie Kippa oder Schau­fäden tragen. Für sie sei der normale Spaziergang auf den Straßen von Paris und anderswo inzwi­schen lebens­ge­fährlich geworden.

Nach den letzten Ereig­nissen in Paris rief Israels Immigra­ti­ons­mi­nister Yoav Gallant die Juden in Frank­reich auf, „nach Hause“ zu kommen. Nein, der Massen­exodus aus Frank­reich hat noch nicht einge­setzt, doch wenn die Dinge in Frank­reich und Europa so weiter­gehen wie bisher, dann könnte sich das in Zukunft ändern. Und daß Juden Frank­reich verlassen, ist inzwi­schen eine Realität.

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