Post aus Tel Aviv: Warum Frankreichs Juden nach Israel auswandern
Nach den Ausfällen gegen den Philosophen Alain Finkielkraut bei einer Demonstration der Gelbwesten ist die Empörung über Antisemitismus in Frankreich groß. Doch dass Juden das Land verlassen, ist seit Jahren eine Realität. Unser Autor hat sich unter französischen Juden in Israel umgehört.
So verstörend die Bilder von den antisemitischen Attacken gegen den französisch-jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut während einer Demonstration der Gelbwesten auch sein mögen, für Juden in Frankreich ist das nichts Neues mehr. Schon vor Wochen spannten Demonstranten der Gilets jaunes Poster über eine französische Autobahn, auf denen Präsident Emmanuel Macron als Marionette „des jüdischen Kapitals“ und „der Rothschilds“ denunziert wurde.
Doch es geht nicht nur um den Antisemitismus unter den Demonstranten. Auch in muslimischen Kreisen in Frankreich ist der Judenhass präsent und gerade aus islamischen Kreisen hat es zahlreiche Angriffe und auch Morde auf und an Juden gegeben. Die Ermordung jüdischer Schüler in Toulouse 2012, die Ermordung von Sarah Halimi 2017 und zuletzt von Mireille Knoll, einer Holocaust-Überlebenden, im März 2018 sind nur die extremsten Beispiele antijüdischer Angriffe von muslimischen Tätern.
Bereits 2014 machte das US-Magazin „Newsweek“ mit seiner Titelgeschichte „Exodus – Why Europe’s Jews are fleeing once again“ auf das Problem aufmerksam, das bis heute von vielen Europäern nicht ernst genommen wird und längst nicht nur französische Juden betrifft.
Frankreich hat die größte jüdische Gemeinschaft innerhalb der Europäischen Union, rund 450.000 Juden leben dort. In Deutschland sind es – zum Vergleich – etwa 150.000 Menschen, die als Mitglieder in jüdischen Gemeinden gemeldet sind. Findet nun tatsächlich ein Exodus statt?
„Boulangeries“ und „Patisseries“ an jeder Ecke
In Israel rechnete man vor allem nach dem Terroranschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ 2015 und auf den koscheren Supermarkt „Hyper Cacher“ zwei Tage später damit, daß französische Juden in großen Zahlen nach Israel auswandern würden. Tatsächlich sind seit 2014 aber nur etwa 20.000 französische Juden nach Israel emigriert. Schon viel früher aber begannen jüdische Franzosen, die es sich leisten konnten, Wohnungen in Israel zu kaufen, um „für alle Fälle“ eine Zuflucht zu haben. Diese Wohnungen befinden sich meist in neugebauten Hochhäusern, die das ganze Jahr, bis auf die jüdischen Feiertage, wenn die Wohnungsbesitzer hier Urlaub machen, leer stehen. Doch längst hört man das ganze Jahr über Französisch auf den Straßen von Jerusalem, Tel Aviv und vor allem Netanya. Waren die Angebote israelischer Immobilienmakler noch bis vor Kurzem überwiegend auf Russisch ausgeschrieben, so werden die „Immeubles“ neuerdings auf Französisch angepriesen.
In Frankreich macht sich, ganz besonders in Paris, das Gefühl breit, daß man als Jude im Land von „Liberté, Égalité, Fraternité“ nicht mehr sicher ist. Nach Angaben des Soziologen und Autors Danny Trom („La France sans Juifs“) verlassen jedes Jahr ein paar Tausend Juden ihre Heimat und gehen, neben Israel, vor allem in die USA oder noch lieber – der Sprache wegen – nach Kanada.
Tel Aviv profitiert inzwischen von den eingewanderten Franzosen. Die energetische Stadt am Mittelmeer, längst ein Mekka für kulinarisch interessierte Touristen, erlebt zum Beispiel einen Boom an „Boulangeries“ und „Patisseries“, die an jeder Ecke aufmachen. Die Kinos zeigen zunehmend französische Filme und selbst das typische Tel Aviver Kaffeehaus, in dem dieser Artikel entsteht, spielt Musik der französischen Sängerin Pauline Croze. Zahlreiche Boutiquen mit französischer Mode eröffnen, französisch-israelische Unternehmens-Kooperationen entstehen, ein privater Fernsehkanal sendet aus Tel Aviv sein Programm auf Französisch.
„Frankreich ist am Arsch“
Spricht man hier mit Einwanderern, so sind sich alle, wirklich alle, einig: Es ist vorbei in Frankreich, es gibt keine Zukunft, nicht dort, nicht in Europa. Die Galeristin Valerie, die neben ihrer Galerie in Paris nun auch eine kleine Dependance in Tel Aviv eröffnet hat, ist froh, daß sie und ihr Mann Israel zum Zentrum ihres Lebens gemacht haben: „Hier fühle ich mich wieder frei, auch wenn ich nach wie vor in Frankreich tätig bin. Zu wissen, daß der Staat mich hier beschützt, ist einfach ein gutes Gefühl.“ Valerie spricht etwas an, das viele Immigranten auch so empfunden haben: daß der französische Staat nicht mehr hinter ihnen steht, daß sie nicht mehr Bürger der „République“ sind, sondern einfach nur „Juden“. Bereits in den Neunzigerjahren zeigte sich der jüdische Soziologe und Philosoph Shmuel Trigano im Rahmen einer Diskussion mit dem American Jewish Committee entsetzt darüber, plötzlich nicht mehr „Franzose“, sonder nur noch „Jude“ zu sein. Inzwischen ist auch Trigano nach Israel ausgewandert, ebenso wie der berühmte Filmregisseur Elie Chouraqui.
Ein Professor für Stadtplanung an einer renommierten Universität in Paris ist zusammen mit seiner Frau vor fünf Jahren nach Israel gekommen. Er möchte anonym bleiben, darum nennen wir ihn hier einfach „Marcel“. Er möchte sein Judentum nicht an die große Glocke hängen, hat Befürchtungen wegen möglicher Reaktionen seiner Studenten, falls diese erfahren sollten, daß er im zionistischen Staat lebt. Denn er pendelt zwischen Frankreich und Israel, wie das viele tun. Man kann seine wirtschaftliche Existenz nicht so ohne Weiteres aufgeben, also muß man sich auf ein Leben im Flugzeug einrichten. Jüngere Paare lösen das häufig so, daß Frauen und Kinder durchgehend in Israel leben, während die Ehemänner hin- und herjetten, um mit ihren Firmen und Unternehmen in Frankreich weiterhin den Lebensunterhalt abzusichern.
Für Marcel war der Moment des Auswanderns gekommen, als er von jüdischen Freunden erfuhr, daß sie von einem Quartier in Paris ins nächste gezogen waren, wo es „für Juden sicherer“ sei. Er nennt das eine „Emigration innerhalb von Paris“. Da war der Weg nach Israel vielleicht beschwerlicher, aber nicht so „absurd“, wie er sagt.
Für den aus Marseille stammenden Friseur Philippe, der seinen Salon in Tel Avivs Zentrum betreibt, war schon vor sieben Jahren klar, daß es keine Zukunft in seinem Heimatland für ihn gibt. „Frankreich ist am Arsch“, sagt er lakonisch, ohne jegliche Sentimentalität. Ob er die Szene mit Finkielkraut im Netz gesehen habe? „Ja sicher“, antwortet er achselzuckend, „so geht’s doch seit Jahren. Und es wird nur schlimmer.“
Sie alle, ob Valerie, Marcel oder Philippe, sind sich sicher, daß in den nächsten Jahren noch mehr französische Juden nach Israel kommen werden, insbesondere jene, die als Juden auf der Straße erkenntlich sind, die also religiöse Insignien wie Kippa oder Schaufäden tragen. Für sie sei der normale Spaziergang auf den Straßen von Paris und anderswo inzwischen lebensgefährlich geworden.
Nach den letzten Ereignissen in Paris rief Israels Immigrationsminister Yoav Gallant die Juden in Frankreich auf, „nach Hause“ zu kommen. Nein, der Massenexodus aus Frankreich hat noch nicht eingesetzt, doch wenn die Dinge in Frankreich und Europa so weitergehen wie bisher, dann könnte sich das in Zukunft ändern. Und daß Juden Frankreich verlassen, ist inzwischen eine Realität.
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