Russland gehört zu uns

Kremlin.ru [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]

Die Annexion der Krim, die Einmi­schung in Wahlen im Westen, die Inter­ven­tion im syrischen Bürger­krieg: Russ­lands destruk­tives Verhalten ist Ausdruck einer Iden­ti­täts­krise. Europa sollte Moskau eine Lösung für diese Krise anbieten und so auf das Land schauen, wie Anhänger eines vereinten Europas während des Kalten Krieges auf das sowje­tisch domi­nierte Osteuropa schauten – als verlo­renes Schaf, das eines Tages zur Herde zurück­kehren wird.

In seinem im März veröf­fent­lichten Manifest hat Frank­reichs Präsident Emmanuel Macron dazu aufge­rufen, das Projekt eines vereinten Europas zu erneuern, eines Europas, das auf den Ideen von Freiheit, Schutz des Konti­nents und Fort­schritt beruht. In Bezug auf den globalen Wett­be­werb, in den die EU als poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Weltmacht verwi­ckelt ist, griff Macron auf euro­päi­schen Natio­na­lismus zurück, als er schrieb, dass „eine Bevor­zu­gung Europas bei stra­te­gi­schen Indus­trien und bei unseren öffent­li­chen Aufträgen vorge­nommen werden [sollte], wie das auch unsere ameri­ka­ni­schen und chine­si­schen Konkur­renten tun“. 

Portrait von Anton Shekhovtsov

Anton Shek­hovtsov forscht zu den Bezie­hungen des Kreml zu rechts­extremen Parteien im Westen und ist Dozent an der Univer­sität Wien.

Diese Worte sind auch deshalb bezeich­nend, weil die USA und China die einzigen Nicht­mit­glieder der EU sind, die in Macrons Manifest direkt genannt werden. Dies erlaubt wohl einen umfas­senden Einblick in seine Vorstel­lungen von einer zukünf­tigen Macht­kon­stel­la­tion: Für die EU stellen allein die USA und China eine reale Heraus­for­de­rung dar, alle anderen inter­na­tio­nalen Probleme sind kaum mehr als lästige Ärgernisse.

Macron schien denn auch die Vorstel­lung von einem lästigen Stör­faktor zu haben, als er auf Russland anspielte mit dem Hinweis, dass Wahlen in Europa vor „Cyber­at­ta­cken und Mani­pu­la­tion“ geschützt werden müssten, und mit dem Vorschlag, dass „die Finan­zie­rung euro­päi­scher Parteien durch fremde Mächte“ unter­bunden werden müsse. Vor dem Hinter­grund der aus Russland stam­menden Cyber­an­griffe und Desin­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen während des fran­zö­si­schen Präsi­dent­schafts­wahl­kampfes 2017 waren Macrons Anspie­lungen nicht allzu kryptisch. Aus seiner Sicht bedeutet Russland Cyber­at­ta­cken, Mani­pu­la­tion und auslän­di­sche Unter­stüt­zung für euro­päi­sche Parteien. Das Land stellt – anders als die USA und China – nicht eine globale Konkur­renz dar, sondern verur­sacht Kopf­schmerzen, die mit einem Schmerz­mittel wie der von Macron vorge­schla­genen „Euro­päi­schen Agentur zum Schutz der Demo­kratie“ zu beheben sind.

Russland ist nicht Stör­faktor, sondern Katalysator

Dieser Ansatz ist berech­tigt, doch wäre es politisch kurz­sichtig, Russland ausschließ­lich als Stör­faktor zu behandeln. Der einzige Grund, warum euro­päi­sche Liberale wie Macron wegen Cyber­at­ta­cken, Desin­for­ma­tion und Unter­stüt­zung für rechts­po­pu­lis­ti­sche Parteien besorgt sind, besteht darin, dass das Vorgehen Moskaus als etwas betrachtet wird, das die Geschlos­sen­heit Europas unter­gräbt. Aller­dings ist es nicht so, dass Russland diese Spal­tungen erzeugt; es zieht lediglich Nutzen aus bereits bestehenden Konflikten. In dieser Rolle ist Russland nicht selbst der Stör­faktor, sondern ein Katalysator.

In der Chemie ist ein Kata­ly­sator ein Stoff, der die Stärke einer chemi­schen Reaktion erhöht. Als Kata­ly­sator verschärft Russland soziale Span­nungen in Europa, indem poli­ti­sche Anliegen unter­stützt werden, die an sich bereits zerset­zend sind. Und Russland ist sich seiner Rolle bei der Desta­bi­li­sie­rung euro­päi­scher Gesell­schaften bewusst: Schließ­lich beschul­digt Moskau den Westen oft, in Russland soziale Span­nungen zu schüren. Der Kreml weiß genau, was er im Westen betreibt.

Putins Russland lediglich als Kata­ly­sator zu sehen, bringt uns – ganz wie seine Wahr­neh­mung als Ärgernis – aller­dings auch nicht weiter, wenn es darum geht, das größere Bild zu verstehen. Hier sei an den Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Paul Romer von der Univer­sität Stanford erinnert, der davor warnte, eine Krise ungenutzt zu lassen: Ich denke, dass Russland mit seiner Kata­ly­sa­tor­rolle als Stress­test für die poli­ti­sche, wirt­schaft­liche und soziale Stabi­lität Europas gesehen werden sollte. Daher sollte man sich beim Umgang mit der „Russland-Frage“ in Europa weniger darauf konzen­trieren, den Strom der Desin­for­ma­tionen zu entlarven. Vielmehr sollte man versuchen, jene Schwächen auszu­ma­chen, die es Russland erlauben, euro­päi­sche Gesell­schaften zu spalten. Diese besondere Perspek­tive ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil es – um zu Macrons Manifest zurück­zu­kehren – nicht Russland ist, das für Europa eine echte Heraus­for­de­rung darstellt.

Orwell hätte sich das Ausmaß der Über­wa­chung in China nicht vorstellen können

Im September 2018 schrieb Edward Lucas, ein führender briti­scher Experte für Sicher­heits­po­litik, in der „The Times“, dass Putins Russland bei all seiner geogra­phi­schen Größe und all seinem Atom­arsenal grund­sätz­lich schwach sei, und dass „die wirkliche Heraus­for­de­rung für Europas wackelige Sicher­heit eine Quelle [hat], die ernster zu nehmen [ist], nämlich China“. Der Mäzen und Investor George Soros äußerte am Rande des Welt­wirt­schafts­fo­rums in Davos eine ähnliche Ansicht, als er sagte, China sei das wohl­ha­bendste, stärkste und tech­no­lo­gisch fort­schritt­lichste auto­ri­täre Regime der Welt. Er fügte hinzu, dass Chinas Staats­chef Xi Jinping „der gefähr­lichste Gegner all jener [ist], die an die Idee einer offenen Gesell­schaft glauben“. Soros verwies hierbei auf das soge­nannte Sozi­al­kredit-System, ein Instru­ment, das von den chine­si­schen Behörden einge­setzt wird, um kritische Ansichten in China auszumerzen.

Die tech­no­lo­gi­schen Fort­schritte in China, mit denen Kontrolle über die Bevöl­ke­rung errichtet werden soll, sind tatsäch­lich erschre­ckend und gehen über das hinaus, was „Orwell sich je hätte vorstellen können“, wie es ein Jour­na­list formu­lierte. China kann nicht nur Millionen Leute im Live-Modus beob­achten, einzelne Menschen iden­ti­fi­zieren, sie aufspüren und Daten der Gesichts­er­ken­nung in Verbin­dung zu persön­li­chen Details wie Reisen, Gesund­heits­zu­stand oder der Kredit­ge­schichte in Verbin­dung setzen. Chine­si­sche Tech­no­logie kann darüber hinaus das Verhalten von Menschen vorher­sagen. Das führt uns dann schon in die dysto­pi­sche Welt der Kurz­ge­schichte „Minority Report“ von Philip K. Dick (die 1956 erschien und 2002 durch den gleich­na­migen Film von Steven Spielberg mit Tom Cruise bekannt wurde), in der eine Poli­zei­ab­tei­lung für „Prä-Verbre­chen“ Menschen wegen Taten verhaftet, die sie nicht begangen haben, aber in der Zukunft verüben werden.

Die tota­li­täre Unter­drü­ckung in Xi Jipings China ist nicht nur futu­ris­tisch, sie ist auch von archai­scher Grau­sam­keit. Seit 2014 unterhält China Konzen­tra­ti­ons­lager, in denen die Regierung versucht, die turk­spra­chige Minder­heit der Uiguren sowie Muslime aus anderen ethni­schen Gruppen „umzu­er­ziehen“; das Ziel sei die Abwehr von Extre­mismus und Terrorismus.

Dass China unge­straft bleibt, legi­ti­miert sein Vorgehen

Musli­mi­sche Führer in aller Welt haben es unter­lassen, die Konzen­tra­ti­ons­lager gegenüber China anzu­spre­chen, weil sie lieber Wirt­schafts­be­zie­hungen zu diesem Land unter­halten. Bezeich­nen­der­weise hat der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman (der von den Vereinten Nationen mit der Ermordung des Jour­na­listen Jamal Kaschoggi in Verbin­dung gebracht wird) sogar vertei­digt, dass China das „Recht [hat], Maßnahmen gegen Terro­rismus und Extre­mismus zu ergreifen, um seine nationale Sicher­heit zu gewähr­leisten“ – so geschehen, während er ein millio­nen­schweres Handels­ab­kommen mit China unter­zeich­nete. Nachdem Staaten des Westens eine Stel­lung­nahme abgegeben hatten, in der die massen­hafte Inhaf­tie­rung von Uiguren verur­teilt wurde, veröf­fent­lichten Saudi-Arabien, die Verei­nigten Arabi­schen Emirate, Ägypten, Katar, Bahrein, Pakistan, Oman und 30 weitere Staaten ihrer­seits eine Stel­lung­nahme. Dort wurde China für seine „bemer­kens­werten Leis­tungen im Bereich der Menschen­rechte“ gelobt. In derselben Stel­lung­nahme wurden die Konzen­tra­ti­ons­lager als „Berufs­bil­dungs­zen­tren“ bezeichnet.

Nicht alle Muslime werden in diesen „Berufs­bil­dungs­zen­tren“ neue Fertig­keiten erlernen: Viele von ihnen dürften wohl – wie chine­si­sche poli­ti­sche Gefangene – Opfer eine zwangs­weisen Entnahme von Organen werden. Der inves­ti­ga­tive Jour­na­list Ethan Gutan argu­men­tiert in seinen Artikeln, dass genau dies das Schicksal von Zehn­tau­senden Anhängern der Reli­gi­ons­be­we­gung Falun Gong war. Ihre Organe wurden auf dem lukra­tiven chine­si­schen Trans­plan­ta­ti­ons­markt verkauft.

Hierbei handelst es sich nicht nur um eine interne Abscheu­lich­keit Chinas: Das chine­si­sche Modell der gesell­schaft­li­chen Kontrolle, der Unter­drü­ckung abwei­chender Meinungen und der absoluten Miss­ach­tung von Menschen­rechten, um wirt­schaft­li­chen Nutzen zu erringen, ist expor­tierbar. Dass China für seine unge­heu­er­liche Verlet­zung von Menschen- und Persön­lich­keits­rechten und der Meinungs­frei­heit unge­straft bleibt, legi­ti­miert eine solche Miss­ach­tung in den Augen vieler auto­ri­tärer Führer dieser Welt. Hier genügt ein Blick auf die Liste der Länder, die China für die „Förderung der Menschen­rechte durch Entwick­lung“ gelobt haben.

Russ­land will zu einem Macht­zen­trum der neuen Multi­po­la­rität werden

Zu den finsteren Aspekten des China von heute kommt seine wachsende mili­tä­ri­sche Stärke. John Friedman, mitt­ler­weile verstor­bener Professor der Univer­sität Kali­for­nien, traf vor zehn Jahren die Vorher­sage, dass „Chinas wachsende wirt­schaft­liche Macht sich unwei­ger­lich auch in poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Macht verwan­deln“ werde. Seither sind die Mili­tär­aus­gaben des Landes real um 83 Prozent gestiegen und Xi Jinping hofft, dass die chine­si­sche Armee bis 2050 „Welt­klasse“ sein wird. „Welt­klasse“ impli­ziert eine Qualität, mit der „Amerika geschlagen“ werden kann. Tradi­tio­nelle Bewaff­nung wird gegen Mitte des Jahr­hun­derts eindeutig eine sehr viel geringere Rolle spielen. Es ist davon auszu­gehen, dass künst­liche Intel­li­genz, Big Data und maschi­nelles Lernen voll­ständig zu Waffen gemacht werden.

Friedmann war darüber hinaus zu dem Schluss gekommen, dass die Welt zukünftig von einem chine­sisch-ameri­ka­ni­schen Antago­nismus bestimmt sein werde, während die Euro­päi­sche Union und Indien poten­tiell in der Lage sein würden, in ihrer Konkur­renz eine begrenzte Zurück­hal­tung zu üben. Eine solche Situation impli­ziert das Ende der unipo­laren Welt, wie sie seit dem Untergang der Sowjet­union und dem Kollaps des sozia­lis­ti­schen Blocks in Osteuropa bestanden hat. Das Entstehen von Multi­po­la­rität scheint unum­kehrbar, und die einzige Frage besteht nun darin, wo die Zentren globaler Macht und ein zukünf­tiges Macht­gleich­ge­wicht zwischen diesen liegen werden. Auch Michael O’Sullivan schreibt in seinem jüngst erschie­nenen Buch „The Levelling: What’s Next After Globa­liza­tion“ von vier Polen, die die multi­po­lare Zukunft bestimmen werden: den USA, China, Europa und poten­tiell Indien. Auch wenn Russland bei bestimmten Aspekten der Multi­po­la­rität punkten könnte (etwa mili­tä­risch), dürfte es „in seinem gegen­wär­tigen Zustand […] kaum zu einem echten Pol werden“, schreibt O’Sullivan.

Die Erwar­tungen der russi­schen Führung – daran erinnern Anton Barba­schin und Alexander Graefin in ihrem bald erschei­nenden Bericht zur russi­schen Außen­po­litik – haben sich seit Mitte der Neun­zi­ger­jahre stets von derlei Vorstel­lungen unter­schieden: „Sämtliche Varianten von Multi­po­la­rität, die in Russland disku­tiert wurden und werden, gingen und gehen davon aus, dass Russland einer dieser Pole sein und somit seinen Groß­macht­status behalten werde.“ Nun aber, da sich schließ­lich eine Multi­po­la­rität entwi­ckelt, muss die geopo­li­ti­sche Land­schaft, so, wie sie Gestalt annimmt, für Russland beun­ru­hi­gend und schmerz­haft sein. O’Sullivan schreibt, dass Multi­po­la­rität bei Ländern wie Japan oder Austra­lien, die „sich nicht gänzlich innerhalb des Feldes eines der Pole befinden“ eine Iden­ti­täts­krise auslösen werde, während das Ende der unipo­laren Welt für Länder wie Russland eine Krise der Ambi­tionen erzeuge: Russland wolle zu einem der Pole werden, sei dazu aber nicht in der Lage.

Das Land ähnelt einem Blinden, der wild um sich schlägt

Diese Krise der Ambi­tionen führt aller­dings notwen­di­ger­weise auch zu einer Iden­ti­täts­krise. Das erklärt zum Teil Russlands Verhalten auf der inter­na­tio­nalen Bühne in den letzten Jahren – die Annexion der Krim und der Krieg gegen die Ukraine, die Einmi­schung in Wahlen im Westen, die Inter­ven­tion im syrischen Bürger­krieg unter dem Deck­mantel der Terro­ris­mus­be­kämp­fung und die mili­tä­ri­schen Abenteuer in Afrika. All diese Vorgehen können als etwas inter­pre­tiert werden, mit dem Russland das nach­zu­ahmen sucht, was die USA – in Moskaus Wahr­neh­mung – als Weltmacht unter­nehmen. Russland versucht, seine Iden­ti­täts­krise zu über­winden, indem es mit drauf­gän­ge­ri­schem Verhalten und den inter­na­tio­nalen Reak­tionen darauf expe­ri­men­tiert. Das Land ähnelt einer blinden Person, die des eigenen Körpers nicht durch ein behut­sames Ertasten gewahr wird, sondern dadurch, dass chaotisch getreten, geboxt und rundum alles zerschlagen wird.

Da Moskau seinen Platz in der entste­henden multi­po­laren Welt sucht, in der es wohl kaum zu einem der Pole werden wird, gerät es in eine Falle, und die heißt Peking. Im Zuge seines Konfliktes mit dem Westen, der sich nach der Annexion der Krim verschärft hat, ist Russland näher an China gerückt. Peking betrachtet Moskau nicht nur als Handels­partner, sondern auch als poten­ti­ellen Verbün­deten im Kampf gegen den Westen. Aller­dings bleibt Moskau gegenüber Peking argwöh­nisch. In Russland hegen einige immer noch die Hoffnung, dass das Land einer der Pole werden könne und sind voll Unbehagen, dass Russland eine „kleine Schwester“ des „großen Bruders“ aus China werden könne. Bruno Maçães, Portugals ehema­liger Staats­se­kretär für Euro­pa­fragen, schrieb in einem aufschluss­rei­chen Artikel über die russisch-chine­si­schen Bezie­hungen: „Russland will ein unab­hän­giger Pol in der neuen Welt­ord­nung sein. Ein unab­hän­giger Pol in enger Verbin­dung mit China zu sein, ist aber ange­sichts der Asym­me­trie der Wirt­schafts­kraft und Größe [der beiden Länder] schlichtweg unmöglich. Also wird Russland genötigt sein, einen gewissen Abstand zu seinem östlichen Nachbarn zu wahren.“

Aller­dings wird Russland nicht in der Lage sein, Abstand von China zu halten, solange es in einen Konflikt mit dem Westen steht. Es besteht eine beträcht­liche Wahr­schein­lich­keit, dass das von Denis Sokolov, einem Experten der Free Russia Foun­da­tion, vorge­legte düstere Szenario tatsäch­lich realis­tisch ist: „Russland könnte nicht nur die poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Kontrolle über die meisten seiner Gebiete und Ressourcen verlieren, sondern zu einer riesigen, atomar bewaff­neten Stell­ver­treter-Super­macht werden, die im Interesse Chinas und chine­si­scher Unter­nehmen agiert.“ Mit anderen Worten: China als wichtiger Pol in der multi­po­laren Welt kann durch Russland gestärkt werden, während Moskau in einem Bündnis nicht einmal eine „kleine Schwester“ wäre, sondern lediglich eine Zweig­stelle von Peking. Während Russland sein auto­ri­täres Expe­ri­ment fortsetzt, die Zivil­ge­sell­schaft zerstört und die Menschen­rechte ignoriert, bereitet es sich auf seine Rolle als ein Vertreter Chinas vor.

Wenn Russ­land Europa zurück­weist, beweist es, dass es zu Europa gehört

Liegt es in Europas Interesse, dass China, das von der EU als „syste­mi­scher Rivale“ bezeichnet wird, zu einer noch größeren Heraus­for­de­rung wird, indem es Russland wirt­schaft­lich in sein Macht­zen­trum inte­griert? Mir scheint, nur ein Verrückter würde hierin einen Nutzen für Europa erkennen. Es ist somit von entschei­dender Bedeutung, dass eine solche Entwick­lung verhin­dert wird. Europa sollte Russland nicht in die Arme Chinas entlassen, sondern überlegen, wie es sich dadurch stärkt, dass Russland in sein eigenes Zentrum globaler Macht inte­griert wird.

Ivan Krastev erklärt die unver­hält­nis­mä­ßige Beschäf­ti­gung des Westens mit Moskaus verstö­rendem Verhalten damit, dass der Westen deshalb von Russland besessen sei, weil er in ihm ein Schreck­bild einer möglichen Entwick­lung seiner selbst sehe, also eine Entwick­lung, die er selbst fürchtet. Aller­dings trifft auch das Umge­kehrte zu: Wenn Russland versucht, seine Iden­ti­täts­krise mittels äußerer Reak­tionen auf sein drauf­gän­ge­ri­sches Vorgehen zu über­winden, so ist der äußere Adressat, von dem Hilfe zur Selbst­be­stim­mung erwartet wird, nicht etwa China oder Indien, sondern der Westen. Wenn Russland Europa zurück­weist, kämpft es eigent­lich mit der Erkenntnis, dass es zu Europa gehört.

Europa kann und sollte Russland nicht dabei helfen, seine Krise der Ambi­tionen in puncto Multi­po­la­rität zu über­winden. Europa sollte Russland eine Lösung für seine Iden­ti­täts­krise anbieten. Es sollte so auf Russland schauen, wie Anhänger eines vereinten Europas während des Kalten Krieges auf das sowje­tisch domi­nierte Osteuropa schauten – als verlo­renes Schaf, das eines Tages zur Herde zurück­kehren wird, und zwar – das ist wichtig – zu Bedin­gungen des Westens. „Osteuropa gehört zu uns“ verkün­deten seiner­zeit west­eu­ro­päi­sche Idea­listen beharr­lich. Heute sollten wir insis­tieren: „Russland gehört zu uns“.

Die Bürger Europas müssen direkt mit den Men­schen in Russ­land sprechen

Gewiss ist das rück­schritt­liche und revan­chis­ti­sche Russland von heute kein Freund Europas, und jeder Versuch, mit der derzei­tigen Führung des Landes einen Dialog aufzu­nehmen, würde als Schwäche Europas inter­pre­tiert werden. Unter der russi­schen Elite gibt es praktisch niemanden, mit dem Europa vernünftig reden könnte, niemanden, mit dem Europa über die Zukunft sprechen könnte. Also muss Europa den richtigen Moment abwarten und dann Russlands insti­tu­tio­nelle Einbin­dung in den Westen einleiten. Andreas Umland hat in seinem wahrlich visio­nären Artikel über westliche Unter­stüt­zung für eine Demo­kra­ti­sie­rung Russlands gefordert, dass der Westen über einen umfas­senden Akti­ons­plan für jenen Moment verfügen müsse, wenn Russland „für eine neuer­liche Annährung mit dem Westen“ bereit sei. Dieser Plan sollte seinem Geiste nach der Haltung des Westens gegenüber dem post­fa­schis­ti­schen West­deutsch­land entsprechen.

Den richtigen Augen­blick abzu­warten bedeutet aber nicht, einfach untätig zu bleiben, im Gegenteil. Neben der Aufgabe, einen Plan zur Inte­gra­tion Russlands in das globale Macht­zen­trum Europas zu entwi­ckeln und diesen der Gesell­schaft in Russland zu vermit­teln, gibt es eine Reihe von Ideen, die die euro­päi­sche Führung berück­sich­tigen sollte.

Es hat zwar keinen Sinn, mit Russlands anma­ßenden, para­no­iden und moralisch korrum­pierten Eliten zu reden. Sie werden es nicht sein, die Russland reprä­sen­tieren, wenn der richtige Augen­blick für den Beginn der Inte­gra­tion Russlands in den Westen gekommen ist. Doch müssen die Führer und die Bürger Europas direkt mit den Menschen in Russland sprechen, besonders mit den jungen. Dies könnte über aktivere und ausge­wei­tete akade­mi­sche Austausch­pro­gramme erfolgen; über eine Unter­stüt­zung von Stif­tungen und Orga­ni­sa­tionen in der EU, die Studi­en­auf­ent­halte russi­scher Bürger in Europa fördern, wie auch von Orga­ni­sa­tionen, die gute Verbin­dungen zur russi­schen Diaspora im Westen haben; über eine Wieder­be­le­bung der bestehenden Netzwerke, an denen Russen beteiligt sind; über eine Ausrich­tung inter­na­tio­naler und vor allem euro­päi­scher Sport‑, Kultur‑, Unter­hal­tungs- und Bildungs­ver­an­stal­tungen in Russland; und über die Schaffung und Förderung euro­päi­scher russisch­spra­chiger Medien.

Europa sollte darüber hinaus behutsam den Versuchen Chinas entge­gen­treten, in EU-Staaten und in der geogra­phi­schen und kultu­rellen Nach­bar­schaft zu Russland eine wirt­schaft­liche Präsenz zu etablieren. Länder wie Georgien, die Ukraine und Moldau, die nach dem Untergang der Sowjet­union von einer Aggres­sion Russlands betroffen waren, mögen Chinas Präsenz als ein Gegen­ge­wicht zu Russlands Einfluss und als Ersatz für Wirt­schafts­be­zie­hungen mit Russland betrachten. Doch auch hier ist es eher China, und nicht Russland, das für Europa die größere Heraus­for­de­rung bedeutet. Die EU muss diesen Ländern deutlich machen, dass die Inte­gra­tion Russlands in den Westen ihre Sicher­heits­pro­bleme löst, während sie die Einbin­dung in den chine­si­schen Einfluss­be­reich zu poten­ti­ellen Gegnern Europas macht.

Der Aufbau eines großen Europa wird nicht nur das Problem der Grauzone zwischen der EU und Russland beheben. Er würde es auch möglich machen, die Sicher­heit des euro­päi­schen Macht­zen­trums zu erhöhen, der Gefahr des Isla­mismus besser zu begegnen, das Problem des Klima­schutzes effi­zi­enter anzugehen und schließ­lich die Position Europas gegenüber den anderen Polen der entste­henden multi­po­laren Welt zu konsolidieren.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel „Russia Is Ours“ auf der Inter­net­seite www.ridl.io

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