Stalinistische Verbrechen: Die Deportation der Krimtataren
Am 18. Mai 1944 wurden die Krimtataren als vermeintliche “Landesverräter”, “Kollaborateure” und “antisowjetische Propagandisten” aus ihrem Heimatgebiet Krim in entlegene Gegenden Zentralasiens, nach Sibirien und in den Ural verschleppt. Kurz nach dem 76. Jahrestag erinnert Viktoria Savchuk an das sowjetische Verbrechen.
In der Geschichte der Ukraine gibt es viele Ereignisse, die im Ausland weitgehend unbekannt sind. Die sowjetische Epoche bis zur Proklamierung der Unabhängigkeit 1991 war für das Land besonders tragisch. Dieser Zeitraum war eine Ära der massiven Repressionen, der politisch motivierten Verfolgungen Andersdenkender und der sogenannten “ethnischen Säuberungen” von Volksgruppen, die dem sowjetischen Régime gegenüber nicht loyal waren. An eines dieser von der sowjetischen Macht begangenen Verbrechen erinnern sich Krimtataren, das indigene Volk auf der ukrainischen Halbinsel Krim, immer noch sehr gut. Die Rede ist von der Deportation von über 200.000 Krimtataren vor fast genau 75 Jahren. Im Jahre 2015 wurde diese Deportation vom ukrainischen Parlament sogar als Genozid am krimtatarischen Volk anerkannt.
Am 18. Mai 1944 wurden die Krimtataren als angebliche “Landesverräter”, “Kollaborateure” und “antisowjetische Propagandisten” entsprechend der Verordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR zur “dringenden Aussiedlung der Krimtataren” aus ihrem Heimatgebiet Krim in entlegene Gegenden Zentralasiens, nach Sibirien und in den Ural verschleppt. Vertrieben wurden alle Krim-Einwohner krimtatarischer Herkunft: Frauen, Kinder und alte Menschen bildeten dabei keine Ausnahme.
Die aktive Phase der gezielten Verschleppung war außerordentlich kurz: An einem einzigen Tag wurde die Verordnung durch gewaltsame Maßnahmen durch sowjetische NKWD-Truppen vollzogen. Bewaffnete Soldaten stürmten zumeist in der Nacht oder am frühen Morgen die Häuser der Krimtataren, durchsuchten sie, erzwangen die Räumung und beschlagnahmten verbliebenes Vermögen. Erinnerungen der Überlebenden zufolge fürchteten viele Menschen damals erschossen zu werden.
“Nachts weckten uns die Soldaten mit Waffen und befahlen, das Haus zu verlassen. Mein Vater dachte, wir würden erschossen. Unter Bewachung wurden wir zu einem Güterzug gebracht.” – Munire, 96 Jahre alt, Bachtschissaraj, Krim, Ukraine.
Die Deportierten wurden in unmenschlicher Weise in überfüllten Güterwaggons transportiert. Sie litten unter Hunger, Durst und unhygienischen Bedingungen. Insgesamt starben etwa 46 Prozent der krimtatarischen Bevölkerung bei der Vertreibung selbst und in den ersten Jahren danach.
“Wir wurden in Güterwagen geworfen, überall war es sehr dreckig. Zwei Menschen starben neben uns. Wir sahen, wie die Leichen aus anderen Wagen auf dem Weg liegen gelassen wurden. Am 6. Juni 1944 wurden wir zur Hakulabad Station im Namangan Oblast gebracht. Es war sonst niemand in der Nähe, als ob das Dorf ausgestorben wäre.” – Khalide, 92 Jahre alt, Jalta, Krim, Ukraine.
1956 wurden viele Krimtataren vom „Sondersiedlerstatus“ befreit und durften innerhalb der Sowjetunion umziehen, allerdings nicht in die ursprüngliche Heimat. Erst 1988 wurde das Verbot, sich wieder auf der Krim anzusiedeln, aufgehoben. Nur einige krimtatarische AktivistInnen hatten es trotzdem geschafft vor 1988 auf die Krim zurückzukehren .
“Meine Eltern wurden im Exil geboren. Sie hätten wie ich auf der Krim geboren werden sollen, aber im Jahre 1968, dem Geburtsjahr meiner Eltern, gab es noch keine offiziellen Möglichkeiten zur Rückkehr. Nur einem kleinen Prozentsatz der Krimtataren gelang es, trotz der Schwierigkeiten früher nach Hause zurückzukommen. Dies waren im Grunde genommen aktive Mitglieder der krimtatarischen Nationalbewegung.” – Muslim, 25 Jahre alt, Kyjiw, Ukraine.
Auch nach der erträumten Rückkehr in die Heimat blieben die Zeiten mehr als turbulent. Die Immobilien der Krimtataren, die sie vor der Deportation besessen hatten, waren vom Staat beschlagnahmt worden oder sie waren von neuen Eigentümern besetzt. Als sogenannte Kompensation wurden von der sowjetischen Regierung leere und unfruchtbare Steppengebiete bereitgestellt, wo die Rückkehrer versuchen mussten, sich ohne Finanzmittel, Gas, Strom und Wasser irgendwie niederzulassen. Die schwierigste Herausforderung bestand zudem in einem jahrelangen Kampf der Krimtataren gegen die sowjetische Propaganda.
Nach der Deportation wurden Krimtataren ausschließlich als Landesverräter und Feinde des großen sowjetischen Volkes wahrgenommen. Das von der Sowjetunion geschaffene negative Bild des krimtatarischen Volkes wurde in der Gesellschaft innerhalb und außerhalb der Krim so tief verwurzelt, dass es auch noch nach Jahrzehnten das Schicksal der Qirimli [Ursprünglicher Name der Krimtataren auf Krimtatarisch – Anm. der Redaktion] bestimmt. Ein Beispiel muss man nicht lange suchen – es reicht, die aktuellen Nachrichten über die repressiven Maßnahmen der Okkupationsmacht gegen die krimtatarische Bevölkerung auf der von Russland widerrechtlich besetzen Halbinsel Krim zu verfolgen.
Das, was mit dem krimtatarischen Volk jetzt auf der besetzten Krim passiert, bezeichnen viele ukrainische Historiker als latente Deportation. Dies ist der Beginn einer neuen Runde der Verfolgung des Volkes der Krimtataren.
Mit der Annexion der Krim im Jahre 2014 und dem ersten Mord an einem Krimtataren, Reschat Ametow, hat Russland sich in die Kontinuität mit den vorher begangenen sowjetischen Verbrechen begeben. Es bleibt zu hoffen, dass die internationale Gemeinschaft nicht wegsieht sondern das Unrecht offen benennt. Vertreibung – auch die subversive – ist und bleibt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
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