Kann die EU das Rätsel Belarus lösen?
Das über vier Monate andauernde Patt zwischen dem belarusischen Herrscher Aljaksandr Lukaschenka und den demokratischen Demonstranten stellt eine ernste Herausforderung für die EU dar. Während die Gemeinschaft ihre Absicht erklärt, zum geopolitischen Akteur aufsteigen zu wollen, muss sie feststellen, dass sie nur wenig Einflussmöglichkeiten auf die Krise in ihrer direkten Nachbarschaft hat.
Brüssel war rhetorisch aktiv – und verurteilte Gewalt, Strafverfolgung und Folter gegen Demonstranten in Belarus. Nach anfänglicher Verzögerung folgten Sanktionen. Die ersten zwei Sanktionspakete setzten Lukaschenka und dutzende für Repressionen Verantwortlicher auf Sperrlisten. Das dritte Paket zielt nicht nur auf Funktionäre sondern auch auf neun Wirtschaftsleute, die dem Regime nahestehen. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und Europäische Investitionsbank (EIB) froren ihre Aktivitäten im Land ein, mit Ausnahme der noch abzuschließenden Projekte.
Weitere Maßnahmen waren größtenteils humanitären Charakters: Die EU versprach, Mittel, die als Hilfen für Minsk gedacht waren, auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien umzuleiten. Die baltischen Staaten und Polen erleichterten das Visa-Regime für Belarusen, die vor Verfolgung fliehen. Vilnius und Warschau beherbergen nun praktisch alle Anführer der belarusischen Opposition, die nicht in ihrer Heimat inhaftiert sind.
Es ist allerdings bittere Tatsache, dass die allermeisten wenn nicht alle dieser Maßnahmen nur geringen Einfluss auf den Entwicklungsverlauf der Krise in Belarus haben. Lukaschenka hat die Idee der Balance zwischen West und Ost aufgegeben, seine Reputation in der EU ist deshalb für ihn kaum von Bedeutung. Seine Entourage und hochrangige Funktionäre stehen zu Hause vor so gravierenden Risiken, dass die Unterdrückung der Proteste für sie ungleich wichtiger ist als die Aussicht, von der Sanktionsliste der EU ausgespart zu bleiben. Das gleiche gilt für die mit Lukaschenka verbunden Geschäftsleute; Sie würden eher ihre Profite und Vermögen aufgeben, als sich mit ihrem politischen Gönner anzulegen.
Sektorale Sanktionen, z.B. ein Importverbot für Ölprodukte, liegen momentan nicht auf dem Tisch. Selbst, wenn die Situation eskaliert, wären solche Maßnahmen in der EU kaum konsensfähig. Darüber hinaus würden solche Maßnahmen die belarusische Wirtschaft vollständig in die Abhängigkeit von Russland treiben und die Lage noch komplizierter machen.
Das Fehlen effektiver Hebel auf Seiten der EU spiegelt die tiefe geopolitische Asymmetrie – Belarus ist und wird immer deutlich abhängiger von Russland bleiben. Diese Abhängigkeit ist umfassend. Russland ist relevanter als die EU in Fragen des Außenhandels, Investitionen, militärischer Integration, der Präsenz im Bereich von Kultur und Information.
Angesichts dieses Defizits an Instrumenten zur kurzfristigen Einflussnahme auf die Entwicklungen in Belarus, sollte die EU sich auf ihre mittelfristigen Einflussmöglichkeiten konzentrieren. Es sollte keine Energie darauf verwendet werden, Lukaschenka zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Sollte er je sein Verhalten ändern, wird dies in erster Linie aufgrund einheimischen oder russischen Drucks geschehen. Die EU sollte stattdessen alles dafür tun, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass ein Wandel in Belarus, wann immer er kommt, in Richtung eines demokratischeren Systems abläuft und nicht die Unabhängigkeit des Landes gefährdet.
Für dieses Ziel sollte Brüssel die richtigen Ansatzpunkte finden, um Einfluss auszuüben. Es gibt drei Mächte, die Lukaschenka zu einer Machtübergabe drängen können: das Belarusische Volk, seine eigene Führungselite und Russland.
Es gibt kaum etwas, dass die EU tun kann, die Entschiedenheit des belarusischen Volks im Kampf für Demokratie zu erhöhen – sie tun bereits mehr, als irgendjemand erwartet hatte. Die EU kann allenfalls ein Sicherheitsnetz für diese mutigen Leute aufspannen. Es ergibt Sinn, die humanitäre und medizinische Hilfe für Opfer der Brutalität der Polizei fortzuführen und zu verstärken und substanzielle Mittel für die belarusischen Solidaritätsinitiativen zur Verfügung zu stellen. Diese Initiativen im Exil helfen den Menschen in Belarus, ihre Busgelder für politischen Aktivismus zu bezahlen und Kosten für streikende Arbeiter zu übernehmen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten können auch Bildungsmöglichkeiten und Stipendien für Studenten und Akademikerinnen ausweiten, die vor der Repression fliehen, sowie die Grenzen für Belarusen öffnen, soweit das während der Pandemie möglich ist.
Zwar werden diese Maßnahmen die Dynamik der Proste nicht direkt beeinflussen. Aber sie werden die Wahrnehmung der EU unter den Sympathisanten der Proste erheblich verbessern. Die Leute werden sich an diejenigen erinnern, die ihnen in harten Zeiten beistanden.
Zweitens sollte die Arbeit mit der belarusischen Bürokratie nicht abgebrochen werden. Der Fakt, dass die meisten Funktionäre zum Machthaber gehalten haben, bedeutet nicht, dass diese Unterstützung ewig anhalten wird. Viele der hochrangigen Funktionäre haben realisiert, dass das Land sich in die falsche Richtung entwickelt. Sie sind einfach noch nicht so weit, etwas dagegen zu unternehmen. Im wahrscheinlichen Szenario ausbleibender Reformen und wachsender Frustration Russlands mit Lukaschenka wird die belarusische Wirtschaft in freien Fall geraten.
Die EU sollte auf den Moment vorbereitet sein, wenn das Ausmaß der Probleme selbst die konservative belarusische Bürokratie dazu zwingt, nach einem Ausweg aus der Blockade zu suchen. Brüssel sollte mit einer Option für diejenigen Mitglieder der Eliten zur Stelle sein, die immer noch Gutes für ihr Land wollen. Wenn sie einen realistischen Anreiz am Horizont erkennen, werden sie eher geneigt sein, eine Demokratisierung des Landes voranzubringen.
Ein wirtschaftlicher Unterstützungsplan für ein demokratisches Belarus wird bereits in der EU diskutiert. Damit dieses Instrument effektiv sein kann, muss das Angebot überzeugend sein. Nach der ukrainischen Erfahrung mit westlicher Unterstützung, die in Minsk als unzureichend und mit strenger Konditionalität überladen wahrgenommen wurde, misstrauen belarusische Funktionäre solchen Instrumenten generell und haben ihre Zweifel an deren Mehrwert. Deshalb sollte das Angebot sehr klar und konkret sein: Wenn das Land einen demokratischen Wandel vollzieht – eine von der OSZE anerkannte Wahl – bekommt es Geld. Zusätzliche Konditionen, komplizierte Instrumente, vage Versprechen wie „Hilfe für den Beitritt von Belarus zur WHO“ und zu viel diplomatischer Jargon um dieses Angebot würden es in den Augen der potenziellen Adressaten nur aushöhlen. Die Summe der angebotenen Unterstützung sollte auch erheblich sein – wenigstens 3 Mrd. Euro, in etwa die Größenordnung ausländischer Unterstützung, die die belarusischen Wirtschaft jedes Jahr benötigt, um aufrechterhalten zu werden.
Um der Botschaft Gehör zu verschaffen sollte die EU die maximal mögliche diplomatische Präsenz in Belarus aufrecht erhalten. Sollten die belarussischer Funktionäre Hintertürgespräche führen wollen, sollten sie hierzu in Minsk die Möglichkeit haben.
Schließlich muss die EU mit Russland umgehen. Das heißt nicht, über die Köpfe der Belarusen hinweg über das Schicksal von Belarus zu entscheiden. Das ist ohnehin kaum möglich. Stattdessen kann Brüssel eine Reihe klarer Botschaften an Moskau senden, die Anreize für eine konstruktive Rolle in der belarusischen Krisen schaffen. Letztlich wollen weder Russland noch der Westen ein weiteres Problem nach Art der Ukraine schaffen, mit dem sie für Jahre zu tun haben.
Die erste Botschaft sollte sein, dass niemand die beabsichtigt, Belarus aus den von Russland angeführten Integrationsallianzen herauszuziehen. Allen verfügbaren Umfragen zufolge wollen die Belarusen selbst die Grenze zu Russland offenhalten und die wirtschaftliche Integration fortsetzen. In Belarus ist die Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft gering. Trotz der allgegenwärtigen Vertrauenskrise zwischen der EU und Moskau sollten diese Versicherungen gegenüber russischen Entscheidungsträgern bei jeder Gelegenheit bekräftigt werden.
Die EU sollte klar machen, dass sie jede Entscheidung akzeptieren wird, die von den Belarusen in freien Wahlen getroffenen wird – auch wenn sie auf einen russlandfreundlichen Politiker fällt (was sie nach dem aktuellen Stand der öffentlichen Meinung vermutlich tun würde). Das Hauptproblem, das der Westen mit Lukaschenka hat, ist dessen Brutalität und die Verwehrung von Grundrechten für sein Volk, nicht seine Orientierung nach Moskau. Interessanterweise legen die letzten Umfragen nahe, dass die Belarusen zunehmend über die Unterstützung Russlands für Lukaschenko frustriert sind und ihre Sympathien für Russland sich abkühlen, was für beide Seiten gefährlich ist. Dieses Argument sollte gegenüber Moskau betont werden.
Zweitens muss Moskau zu verstehen gegeben werden, dass es einen Preis zahlen wird, sollte es die Schwäche von Lukaschenka kapitalisieren wollen. So könnte Moskau es darauf anlegen, ihn in eine tiefere Integration zu zwingen oder andere wirtschaftliche oder militärische Zugeständnisse aus ihm herauszupressen. In einem ersten Schritt könnte die EU die Idee möglicher belarusbezogener Sanktionen in Umlauf setzen, die sich gegen russische Entitäten richten, die von der Unterstützung des Lukaschenka-Regimes direkt profitieren. Die EU sollte auch klarmachen, dass sie keine Abkommen zwischen Moskau und der illegitimen Führung von Belarus anerkennen wird, die die staatliche Souveränität des Landes einschränken.
Die Belaruskrise kann zu einem wichtigen Lackmustest für die Fähigkeit der EU werden, mit Problemen in ihrer Nachbarschaft umzugehen. Benötigt werden adäquate politische und finanzielle Ressourcen, Hingabe, Geduld und Flexibilität. All dies mag in diesen turbulenten Tagen Mangelware sein. Aber das braucht es, um ein erfolgreicher geopolitischer Akteur zu sein.
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