Wer spielt hier warum mit dem Feuer? Zum Wirklichkeitsgehalt der Gefahr eines Polexits
Die Auseinandersetzung um die Entscheidung des polnischen Verfassungstribunals zum Vorrang polni-schen Rechts über EU-Recht, erneute Massenproteste zum Jahrestag der Verschärfung der polnischen Abtreibungsgesetzgebung, die Migrationskrise an der Grenze zu Belarus – auch ohne die erneut kata-strophale Coronalage scheint Polen fast den Status eines EU-Krisengebiets einzunehmen. Angeheizt durch das kompromisslose Auftreten der PiS-Regierung gegenüber dem Europäischen Gerichtshof hat das Schlagwort vom Polexit jüngst an Virulenz gewonnen. Ob es sich dabei um eine Scheindebatte oder eine reale Gefahr handelt, beleuchten die Politikwissenschaftler und Polenexperten Irene Hahn-Fuhr und Gert Röhrborn.
Nach mehr als 15 Jahren profitabler Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union wird neuerdings über einen „Polexit“ spekuliert – also über einen möglichen Austritt unseres östlichen Nachbarn aus der europäischen Staatengemeinschaft, die neben der NATO seit dem Ende des Kommunismus ein unverrückbarer Teil der polnischen Staatsraison gewesen ist. Doch angesichts der jüngsten Eskalation zwischen der polnischen Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und den EU-Institutionen in der Auseinandersetzung um die Umsetzung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips ist dieses Stichwort schlagartig zur Beschreibung einer akuten Bedrohungslage avanciert.
Das Urteil des polnischen Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021 ist von manchen Kreisen im In- und Ausland als erster (de jure) Schritt auf dem Weg Polens aus der EU hinaus wahrgenommen worden. Es wirft die Frage auf, ob es sich die PiS-Regierung mit Verweis auf den angeblichen Vorrang polnischen Rechts erlauben würde, in einer abgespeckten Form in der EU zu funktionieren – also sich schlicht nicht an alle Vorgaben aus den Verträgen zu halten, indem sie einfach jedes ihr nicht genehme Urteil des EUGH über das von ihr kontrollierte Verfassungstribunal für ungültig erklären lässt. Am Ende dieses Weges einer so eklatanten Missachtung der EU-Rechtsordnung, so die Befürchtung, könnte dann mittelfristig ein tatsächlicher Austritt aus der Staatengemeinschaft stehen. Dies hat nicht nur in den Medien, sondern auch in der polnischen Gesellschaft deutliche Spuren hinterlassen. Die Zahl derjenigen, die einen Polexit als reales Szenario betrachten, stieg im Laufe weniger Wochen von 30 auf 42 %.[1] Angenommen, sie hätten Recht: Wie würde ein Austritt Polens aus der EU formal überhaupt vonstattengehen?
Zunächst ein Blick auf die rechtlichen Grundlagen
Die Verfassung der Republik Polen regelt in den Art. 89–91 ausführlich den Beitritt zu und die Ausführung von internationalen Verträgen einschließlich deren Vorrang vor nationalen Gesetzen im Falle der Unvereinbarkeit mit letzteren. Eine entsprechende Kündigung wird hingegen lediglich als möglich erwähnt.[2] Die entsprechenden Modalitäten sind im Gesetz über internationale Verträge vom 14. April 2000 festgelegt. Dessen Art. 22 gibt die Möglichkeit, über ein einfaches Gesetz die Kündigung eines internationalen Vertrags im Parlament zu beschließen, die allerdings anschließend genauso wie zuvor der Beitritt vom Präsidenten ratifiziert werden muss.[3] Unter Bezugnahme auf Art. 125 der polnischen Verfassung wäre auch die Anordnung eines Austrittsreferendums mit einfacher Mehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten durch den Sejm oder über eine Anordnung des Präsidenten bei entsprechender Unterstützung durch den Senat (wiederum einfache Mehrheit bei Anwesenheit der Hälfte der Senatoren) vorstellbar.[4] Aus diesem Grunde hat der im Sommer in die polnische Politik zurückgekehrte ehemalige Premierminister und EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk jüngst mit dramatischem Ton eine Verfassungsänderung vorgeschlagen, die die Kriterien eines potenziellen EU-Austritts denen des Beitritts (2/3‑Mehrheit in beiden Parlamentskammern bei Anwesenheit mindestens der Hälfte der Abgeordneten) gleichstellen würde.[5]
Wer hat eigentlich warum ein Interesse an einem Polexit – bzw. der Debatte darum?
Beim genaueren Hinsehen lassen sich drei Gruppen identifizieren, die den Diskurs um einen Polexit aus unterschiedlichen und widersprüchlichen Beweggründen anführen:
1. Die Opposition
Interessanterweise sind es vor allem die Oppositionsparteien, allen voran Donald Tusk und die von ihm geführte Bürgerplattform, die die gegenwärtige Polexit-Debatte befeuern. Zwar ist das Schüren der Befürchtungen, die PiS führe Polen aus der EU, nichts Neues. Sie wurden seit Jahren von verschiedener Seite, u. a. mit Blick auf die Justizreformen, die Hetzkampagnen gegen Migranten und LGBT-Communities sowie das brüske Auftreten einiger Regierungsvertreter gegenüber wichtigen Partnern wie Deutschland oder Frankreich geäußert. Nach der Entscheidung des polnischen Verfassungstribunals scheint die stärkste Oppositionsgruppierung nun aber alles auf diese Karte zu setzen – die Mobilisierung der generell mehrheitlich pro-europäisch eingestellten Bevölkerung rund um die Angst vor einem Verlust von Sicherheit und Wohlstand. Das politische Kalkül ist also die Rückgewinnung der zuvor an die PiS gegangenen Wählerstimmen, ohne dafür innovative Ideen etwa im Bereich Sozial- und Wirtschaftspolitik präsentieren zu müssen. Dass die EU-Kommission in der Auseinandersetzung um die Rechtsstaatsfrage den polnischen Anteil am EU-Wiederaufbaufonds bisher nicht ausgezahlt hat, kommt Tusk in seiner Argumentation des drohenden Polexits gelegen – die PiS unterstellt wiederum, Tusk stecke persönlich hinter dieser „erpresserischen“ Situation.
Dies offenbart die Risiken dieser Strategie, erhält die Regierung so doch Material für die Bestätigung ihrer These von der antipolnischen Einstellung der „Brüsseler und Berliner Eliten“ geliefert, als deren willfähriger Vollstrecker Tusk vom Staatsfernsehen gebrandmarkt wird. Auch Akteure (zumeist aus der politischen progressiven Linken), die die radikale Einschränkung des Abtreibungsrechts rückgängig machen wollen und darüber hinaus auf dessen grundlegende Liberalisierung drängen, setzen mitunter auf eine Verbindung dieser beiden unterschiedlichen Angelegenheiten. Die EU wird hier als ein ideelles und wertegeleitetes Gesamtpaket verstanden, in dem strukturelle Aspekte des Funktionierens der Union wie Rechtsstaatlichkeit, zwischenstaatliche Kooperation etc. mit normativen Aspekten wie sexuellen und reproduktiven Rechte und Rechten sexueller Minderheiten zusammengedacht werden. In dieser Sichtweise, der zufolge sich Polen bereits seit Jahren auf dem Pfad eines schleichenden Ausstiegs aus der EU befindet, fühlen sie sich durch eine ganze Reihe von politischen Forderungen des Europaparlaments gestärkt. Mit dem Angstschrei „Achtung: Polexit“ wird nicht nur, wie bei Tusks Bürgerkoalition, die Hoffnung verbunden, die PiS aus der Regierung zu verdrängen, sondern überdies auch die genannten normativen Postulate über die supranationalen Strukturen der EU an den politischen oder sogar den gesellschaftlichen Mehrheiten im Mitgliedsland Polen vorbei durchsetzen zu können.
2. Die Regierungspartei PiS
Auf der einen Seite weist die PiS den Vorwurf eines angeblich bewussten Kurses auf einen Polexit weit von sich. In seiner Rede vor dem Europaparlament am 19.10.2021 betonte Premierminister Mateusz Morawiecki: „Die europäische Integration stellt für uns eine zivilisatorische und strategische Entscheidung dar. Wir sind in Europa, hier ist unser Platz und das wird sich auch nicht ändern. Wir möchten Europa wieder zu einer starken, ambitionierten mutigen Gemeinschaft machen. Deshalb beschränken wir uns nicht auf kurzfristige Vorteile, sondern sehen auch das, was wir Europa geben können.“[6] Aber auf der anderen Seite spielt auch die Regierung mit dem Polexit-Feuer, aus drei verschiedenen Gründen:
Erstens aus taktischem Kalkül, kann sie eine Furcht vor dem Polexit doch gegenüber den europäischen Partnern als Druckmittel zur Abwehr von weitreichenden „Strafmaßnahmen“ der EU einsetzen.[7] In den Worten von PiS-Fraktionschef Ryszard Terlecki auf dem Wirtschaftsforum in Karpacz: „Wir sollten darüber nachdenken, wie wir so gut wie möglich zusammenarbeiten können, damit wir alle in der Union sein können, aber in einer Union, die für uns akzeptabel ist – denn wenn es so weiterläuft, wie es derzeit aussieht, dann müssen wir nach drastischen Lösungen suchen [. . .] wir wollen nicht austreten [...] aber wir können uns nicht in etwas hineintreiben lassen, das unsere Freiheit und Entwicklung einschränkt”.[8] Dies passt zur ideologischen Ausrichtung der polnischen Nationalkonservativen, die sich als europäische Rechtsgaullisten verstehen. Als solche betrachten sie die EU als wirksames wirtschafts- und sicherheitspolitisches Instrument zur Entwicklung des Landes,[9] nicht aber als eine weitergehende (Rechts-)Gemeinschaft souveräner Nationalstaaten. Daher verbitten sie sich jegliche „Einmischung“ außerhalb von Binnenmarkt und Verteidigungspolitik und spielen in der Hoffnung auf eine ihnen genehmere politische Großwetterlage in Europa auf Zeit.
Zweitens hat das Anheizen der Polexit-Debatte durch die PiS auch innenpolitische Gründe. Die polnischen Nationalkonservativen haben sich immer wieder als Nationalisten hervorgetan, die in geistiger Verbundenheit mit Carl Schmitt im Zweifel die Politik über das Recht stellen und Demokratie als die Diktatur einer – eher beschworenen als realen – Mehrheit verstehen.[10] Die von ihnen auf vielen Feldern erfolgreich betriebene Politik mit der Angst (z. B. hinsichtlich Migration, LGBTIQ, Familienpolitik)[11] könnte langfristig auch den Boden für eine veränderte Einstellung zur EU bereiten, wenn die Folgen ihrer konfrontativen Politik nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Kosten verursachen. Aus diesem Grunde hat etwa das Europaparlament gefordert, dass die Sanktionierung Polens nicht die Bevölkerung treffen dürfe. Angesichts der Tatsache, dass die PiS die nächste Runde ihrer sozialen Wohltaten zum Großteil aus dem Geld des EU-Corona-Wiederaufbaufonds gegenfinanzieren will, dürfte dies aber reines Wunschdenken bleiben. Jedenfalls wird die PiS nicht müde, ihre Auseinandersetzung mit EU-Kommission und Europäischem Gerichtshof als einen „europäischen Freiheitskampf“ gegen die „neokommunistische Bevormundung aus Brüssel und Berlin“ darzustellen und dadurch die bisher in überwältigender Mehrheit die EU-Mitgliedschaft unterstützende Bevölkerung sukzessive auf ihre Seite zu ziehen.[12] Die Chancen dafür stehen besser als manche vermuten oder hoffen, denn die Rechtsstaatsmaterie ist enorm komplex, und angesichts des tatsächlich historisch negativen Images des polnischen Justizwesens bleibt bei nicht wenigen polnischen Bürgern dann doch der Eindruck hängen: Was die PiS macht, ist zwar in Teilen fragwürdig, aber wenigstens machen sie irgendetwas – in anderen Bereichen wie etwa der Sozial- und Wirtschaftspolitik haben sie ja schließlich auch geliefert.
3. Richtungsstreit innerhalb der Regierung – die Rolle der Solidarna Polska
Kaczyński, Morawiecki, Duda & Co. streben für Polen einen der politischen und der ökonomischen Bedeutung entsprechenden Regionalmachtstatus an. Zudem wird aber deutlich, dass es auch innerhalb des nationalkonservativen Lagers mächtig gärt und wir, drittens, damit Zeugen eines Richtungsstreits sind. Nach dem Rauswurf der vergleichsweise „liberaleren“ Koalitionspartei Porozumienie von Jarosław Gowin, aber auch unter dem Konkurrenzdruck vonseiten der rechtsradikalen Gruppierung Konfederacja, scheint nunmehr im nationalkonservativen Lager zunehmend die nationalistisch ausgerichtete Kleinpartei Solidarna Polska den Ton anzugeben. Unter der Führung des Justizminister-in-Personalunion-Generalstaatsanwalts Zbigniew Ziobro waren deren Vertreter bereits als maßgebliche Triebkräfte hinter der seit 2019 laufenden Anti-LGBT-Kampagne in Erscheinung getreten. Diese Gruppierung steht für einen kompromisslosen Kurs in der Frage der Justizreformen sowie einen dumpfen Klerikalismus in gesellschaftspolitischen Fragen und hat den Verhandlungsspielraum von Premierminister Mateusz Morawiecki gegenüber der EU wiederholt massiv zu beschränken gewusst.
Einer ihrer populärsten Vertreter, Ziobros ehemaliger Stellvertreter im Justizministerium und heutiger Europaparlamentarier Patryk Jaki, hat unlängst einen nach ihm benannten Bericht vorgestellt, der die angeblich horrenden Verluste der polnischen Wirtschaft durch die EU-Mitgliedschaft beweisen soll.[13] Eine der Hauptthesen: Die Fördermittel aus den europäischen Fonds seien eine Ausgleichszahlung der EU für den Zugang zum polnischen Markt und als solche völlig unzureichend, denn internationale Konzerne würden horrende Summen aus Polen abfließen lassen, aber in jedem Fall seien sie Polen auch nicht entziehbar.[14] Die Aufnahme des Jaki-Berichts in Medien ganz unterschiedlicher Provenienz ist verheerend.[15] Postwendend erschien zudem ein detaillierter (von der Konrad-Adenauer-Stiftung finanzierter) Gegenbericht der Polnischen Robert-Schuman-Stiftung[16], der die tendenziösen und in Teilen methodologisch unhaltbaren Berechnungen mit eigenen Berechnungen geradezurücken versuchte. Aber auch wenn hochrangige Vertreter der PiS und des Finanzministeriums sich diese Großerzählung von der Vasallisierung des widerspenstigen Polens in dieser Form nicht zu eigen machen wollen, sollte die Langzeitwirkung dieser Propaganda, die getrost als Beta-Version einer Polexit-Lüge bezeichnet werden kann, nicht unterschätzt werden.
Der Sejm-Abgeordnete und ehemalige Vizeminister Janusz Kowalski sinnierte schon einmal in den Medien über einen passenden Termin für ein Austrittsreferendum – 2027, zum Ende des laufenden Mehrjährigen Finanzrahmens der EU.[17] Dazu passt das Verhalten der Gewerkschaft Solidarność, die in Luxemburg wegen der Entscheidung des EuGH zum Kohlekraftwerk in Turowa gegen die angebliche energiepolitische Knebelung Polens protestierte, ebenso wie die enorme staatliche Finanzierung für ultrarechte Gruppierungen, die auch nach polnischem Recht eigentlich vom Verfassungsschutz beobachtet werden müssten. In der Gesamtsicht entsteht der Eindruck, dass hier ein Teil des Regierungslagers bereits an einer politischen Neuausrichtung für die Zeit nach dem Abgang des ohnehin schon zutiefst euroskeptischen Jarosław Kaczyński arbeitet, der in den kommenden fünf Jahren immer wahrscheinlicher wird. Zwar passt ein EU-Austritt ideologisch tatsächlich am ehesten zu Solidarna Polska, aber auch bei dieser Gruppierung sollte eher strategisches Kalkül vermutet werden. Ziobro & Co. geht es um die Kreierung einer politischen Welle, auf der sie an die Macht surfen können, egal, ob (finanziell notgedrungen weiter) innerhalb oder (lieber) außerhalb der EU.
Auf dem Weg in den EWR?
Aber es gibt durchaus auch ökonomische Bedingungen, die in der Zukunft weiteres Material für die von den oben beschriebenen Akteuren losgetretene Polexit-Debatte bieten könnten. Die polnische Wirtschaft hat dank ihrer Teilnahme am EU-Binnenmarkt einen enormen Aufstieg vollzogen. Zwar liegt Polen mit Blick auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf noch deutlich hinter seinem Nachbarn Tschechien, aber Portugal wurde bereits eingeholt, und das Aufschließen zu Ländern wie Spanien oder Italien liegt im Laufe dieses Jahrzehnts durchaus im Bereich des Möglichen.[18] Dem Brexit vergleichbare oder ihn gar übertreffende Verwerfungen dürften daher keinesfalls im Interesse der polnischen Wirtschaftskapitäne und Staatslenkenden sein. Andererseits ist da das ewige Thema der von Polen aus makroökonomischen (Abwertungsspielräume), identitätspolitischen (Symbol der Staatlichkeit) und psychologischen (gefühlt geschrumpftes Portemonnaie) Gründen auf den Sankt Nimmerleinstag verschobenen Euro-Einführung sowie die Prognose, dass Polen dank seiner Wirtschaftsleistung in nicht allzu ferner Zukunft zum EU-Nettozahler werden dürfte. Interessanterweise mag dies für einen Teil der Bevölkerung nicht etwa einen Grund von Stolz darstellen, sondern durchaus Anlass zu kühlen Kalkulationen bieten.
Wenn nämlich die europäischen Fonds, wie der erwähnte Gegenbericht der Polnischen Robert-Schuman-Stiftung unterstreicht, tatsächlich lediglich eine Unterstützungsfunktion bei der wirtschaftlichen Entwicklung haben und die Auswirkungen der Teilnahme am europäischen Binnenmarkt um ein Dreifaches höher anzusetzen sind, dann könnte sich für bestimmte Kräfte auf der politischen Rechten Polens, für die die EU zunehmend mehr lästige Notwendigkeit statt Herzensangelegenheit zu sein scheint, durchaus die Frage stellen, was man nach Ende der Fördermittelzahlungen eigentlich noch „substanziell“ von der EU-Mitgliedschaft hat, wenn man ohnehin geschätztes Mitglied der NATO ist. Vielleicht schwebt einigen „Polexitologen“ ja ein Polen als ultrakonservatives Pendant der Schweiz oder Norwegens vor. Also eines wirtschaftlich für globale Lieferketten und Produktionsprozesse wichtigen Landes mit direktem Zugang zum europäischen Binnenmarkt, das sich von jeglicher „Brüsseler Einmischung in seine inneren Angelegenheiten“ befreit hat? Professor Zbigniew Krysiak, einer der beiden Autoren des Jaki-Berichts, beschrieb die Lage nach dem Urteil des polnischen Verfassungstribunals folgendermaßen: „Es wird ein Krieg geführt, in dem wir nicht aufgeben dürfen. Das Schlimmste [an dieser Situation, Anm. d. Aut.] sind die Folgen des Verlusts des christlichen Geistes und des Freiheitsgefühls“.[19]
Die Gefahr eines Polexits: viel Lärm um nichts?
Der Blick auf die Gemütslage der polnischen Gesellschaft ist ambivalent. Zwar sind die Zustimmungswerte für die EU-Mitgliedschaft weiterhin an der europäischen Spitze, aber der Wandel in den Ansichten zur Flüchtlingspolitik im Jahre 2015 hat deutlich die potenzielle Manipulierbarkeit und Umkehrbarkeit der öffentlichen Meinung vor Augen geführt. Zudem dürfen allgemeine Bekenntnisse zur EU-Mitgliedschaft keineswegs mit einer Zustimmung zu allen zentralen Politikbereichen oder zum Funktionieren der Europäischen Union gleichgesetzt werden. So steht in einer aktuellen repräsentativen Umfrage zur Zusammenarbeit Polens, Deutschlands und Frankreichs im Weimarer Dreieck zu lesen, dass bereits heute in allen drei Ländern relative Mehrheiten für eine Rücknahme von an die EU übergebenen Souveränitätsrechten zugunsten ihrer Länder sind.[20] Zwar würde, wie eine Studie des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten aufzeigt, die übergroße Mehrheit (79 %) der polnischen Bevölkerung heute gegen einen Polexit stimmen, aber deutlich wird in den Umfragen auch: die Botschaft von der kulturell-ideologischen „Diktatur“ der EU kommt gerade bei konservativen Kreisen gut an.[21]
Das Neue an der gegenwärtigen Debatte um Polexit ist, dass sich bisher sogar in durchaus EU-kritischen Kreisen nie wirklich ein tatsächliches Austrittsszenario wahrnehmen ließ, sondern stets nur von der oben erwähnten Umstrukturierung der EU zurück zu mehr nationalstaatlicher Souveränität die Rede war. Die Verwendung des Begriffs suggeriert also eine gewisse neue Dringlichkeit. Überdies besteht natürlich die Gefahr, dass sich bestimmte polnische Akteure bei der PiS mit ihrer unrealistischen Argumentation in eine Sackgasse manövrieren, aus der sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr herausfinden können. So könnte wie beim Brexit ein gewisser Automatismus zum Stellen der Gretchenfrage entstehen. In jedem Fall ist bei einer weiteren Eskalation des Rechtsstaatskonflikts davon auszugehen, dass sich in Polen mittelfristig ein Wählerpotenzial von EU-Unzufriedenen aufbaut, das von radikaleren Strömungen angezapft werden kann. Gleichzeitig kann nicht ausgeschlossen werden, dass – genügend Renitenz von Seiten der PiS vorausgesetzt – entscheidende politische Akteure in der EU irgendwann genug vom erwartbaren Pingpong bei den Polen auferlegten Strafzahlungen oder von neuerlichen rechtlichen Täuschungsmanövern der PiS-Regierung haben. Dann könnte eine Situation entstehen, in der hochrangige Vertreter von EU-Mitgliedsstaaten ein innen- oder außenpolitisches Interesse daran haben, Polens Politik als inakzeptabel und unvereinbar mit EU-Kriterien zu deklarieren und es damit trotz der erwartbar verheerenden Auswirkungen für den europäischen Zusammenhalt und das Funktionieren des europäischen Binnenmarkts herauszutreiben. Der Verlust Polens könnte für die Anhänger einer stärkeren politischen Integration der EU in Richtung eines föderalen Bundesstaats leichter wiegen als ein Dauerkonflikt mit einem renitenten, auf seiner nationalen Souveränität pochenden Mitgliedsstaat.
Die neue deutsche Regierung steht hier vor einer schwierigen Aufgabe. Sie sollte sich einerseits nicht auf den Polexit-Alarmismus einlassen und der PiS nicht das Gefühl geben, Deutschland wolle einen Austritt Polens unter allen Umständen vermeiden, um sich nicht erpressbar zu machen. Gleichzeitig darf die PiS mit ihrer Unterhöhlung des Rechtsstaats nicht durchkommen. Die neue deutsche Regierung wäre gut beraten – so wie jüngst von Reinhard Bütikofer (Grüne), Michael Link (FDP) und Dietmar Nietan (SPD) in einem gemeinsamen Beitrag für den Tagesspiegel gefordert[22] – endlich substanziell auf bilaterale und europäische Anliegen Polens (wie etwa bei der Entsenderichtlinie, Energie- und Sicherheitspolitik, Nordstream II, Wiedergutmachung etc.) einzugehen. Sie könnte so der polnischen Bevölkerung signalisieren, dass die PiS-Propaganda von der angeblich antipolnischen Haltung Berlins und Brüssels keine Grundlage hat, sondern berechtigte nationale Interessen auf faire Weise im Rahmen der EU und ihrer Institutionen verhandelt werden können.
[1] Vgl. https://www.rmf24.pl/raporty/raport-batalia-o-sady/fakty/news-polexit-to-realny-scenariusz-coraz-wiecej-polakow-tak-uwaza,nId,5573292#crp_state=1 (abgerufen am 15.11.2021).
[2] Vgl. https://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/polski/3.htm (abgerufen am 15.11.2021).
[3] „Der Antrag an den Präsidenten der Republik Polen zur Kündigung eines mit Zustimmung nach Art. 89 Abs. 1 und Art. 90 der Verfassung der Republik Polen ratifizierten Vertrags erfolgt nach Einholung der in einem Gesetz zum Ausdruck gebrachten Zustimmung“ [des Parlaments] (Übers. & Erläut. d. Aut., vgl. https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20000390443/T/D20000443L.pdf (abgerufen am 15.11.2021).
[4] Vgl. https://sip.lex.pl/akty-prawne/dzu-dziennik-ustaw/konstytucja-rzeczypospolitej-polskiej-16798613/art-125 (abgerufen am 15.11.2021).
[5] Vgl. https://oko.press/tusk-aby-wyprowadzic-polske-z-ue-wystarczy-jedno-glosowanie-zwykla-wiekszoscia-przesadza/ (abgerufen am 15.11.2021).
[6] Rede von Premierminister Mateusz Morawiecki vor dem Europäischen Parlament (https://www.gov.pl/web/primeminister/rede-von-premierminister-mateusz-morawiecki-vor-dem-europischen-parlament, abgerufen am 15.11.2021).
[7] Vgl. https://www.fr.de/politik/folgen-eines-moeglichen-polexit-am-ende-verlieren-alle-91066778.html (abgerufen am 15.11.2021).
[8] https://www.rp.pl/polityka/art18933931-terlecki-bron-boze-nie-chcemy-zeby-europa-byla-jednym-panstwem (Übers. d. Aut., abgerufen am 15.10.2021).
[9] Vgl. Sławomir Sierakowski, The Possibility of Polexit (https://dgap.org/en/research/publications/possibility-polexit, abgerufen am 15.11.2021).
[10] Wie die Sprecherin der PiS, Anita Czerwińska, es bei der Vorstellung eines weiteren kritischen Berichts der EU-Kommission durch Kommissar Didier Reynders in Warschau ausdrückte: „Das Justizsystem ist voller Pathologien, es braucht Reformen. Das Recht dazu haben uns die Wähler gegeben. Die Bürger wollen Gerechtigkeit, und wir werden die in unserem Wahlprogramm aufgelisteten Aufgaben erfüllen.“ (Übers. d. Aut., https://wiadomosci.onet.pl/kraj/komisarz-ue-ds-sprawiedliwosci-przedstawia-krytyczny-wobec-polski-raport-ke/tgmpj3e, abgerufen am 18.11.2021). Zur Erinnerung, die PiS hatte mit ihrer Koalition der sogenannten „Vereinigten Rechten“ 2019 43,5 % der Stimmen erzielt, nicht etwa eine verfassungsändernde Mehrheit.
[11] Vgl. etwa Przemysław Sadura, „Migrationskrise als Strategie zur Machtergreifung. Der Fall Polen“ (https://www.boell.de/de/2021/11/12/migrationskrise-als-strategie-zur-machtergreifung-der-fall-polen, abgerufen am 15.11.2021).
[12] 70–80 % der Oppositionsanhänger sehen die PiS-Regierung als Schuldige der gegenwärtigen Eskalation, aber mehr 56 % der Regierungsanhänger sehen die Verantwortung in Brüssel, 23 % auf beiden Seiten. Vgl. Vgl. Jacek Kucharczyk, Widmo Polexitu? Społeczne postawy wobec członkostwa Polski w Unii Europejskiej, Warszawa 2021 (https://www.isp.org.pl/pl/publikacje/widmo-polexitu-spoleczne-postawy-wobec-czlonkostwa-polski-w-unii-europejskiej, abgerufen 28.11.2021).
[13] Vgl. den Mitschnitt der Pressekonferenz zur Präsentation „Saldo transferów finansowych między Unią Europejską a Polską“ (https://www.facebook.com/PatrykJaki/videos/836873620525409, abgerufen am 15.11.2021).
[14] Vgl. https://www.fronda.pl/a/wideo-szokujace-calkowity-bilans-strat-finansowych-polski-w-reklacjach-z-ue-w-latach-2004–2020,167030.html (abgerufen am 15.11.2021).
[15] Vgl. etwa https://oko.press/raport-jaki-ue/; https://krytykapolityczna.pl/gospodarka/patryk-jaki-raport-unia-europejska-inwestycje-podatki/; https://businessinsider.com.pl/finanse/polska-zielona-wyspa-dzieki-ue-byli-ministrowie-finansow-demoluja-raport-jakiego/8hsw85r; https://www.rp.pl/komentarze/art18941271-artur-bartkiewicz-wyliczenia-patryka-jakiego-czyli-jak-biedniejemy-bogacac-sie-w-ue (abgerufen am 15.11.2021).
[16] Vgl. Polnische Robert-Schuman-Stiftung, „Gdzie naprawdę są konfitury? Najważniejsze gospodarcze korzyści członkostwa Polski w Unii Europejskiej” (www.schuman.pl/bilansPL, abgerufen am 15.11.2021).
[17] Vgl. https://wiadomosci.onet.pl/kraj/polexit-janusz-kowalski-zaproponowal-termin-referendum-burza-w-sieci/4c1j3xe (abgerufen am 15.11.2021).
[18] Vgl. https://300gospodarka.pl/news/mfw-czechy-pkb-per-capita (abgerufen am 15.11.2021).
[19] Vgl. https://www.rp.pl/polityka/art19000721-autor-raportu-jakiego-polska-ostatnim-bastionem-na-przeszkodzie-do-wprowadzenia-neokomunizmu-w-europie (Übers. d. Aut., abgerufen am 15.11.2021).
[20] 38 % der befragten Polen, 33 % der Franzosen, 46 % der Deutschen (für einen weiteren Souveränitätsgewinn der EU sprachen sich hingegen entsprechend PL 36 %, FR 28 % und DE 29 % aus). Vgl. Jacek Kucharczyk, Respect the past but look towards the future. Polish, French and German perceptions of the Weimar Triangle and its role in the EU (https://www.isp.org.pl/pl/publikacje/respect-the-past-but-look-towards-the-future-polish-french-and-german-perceptions-of-the-weimar-triangle-and-its-role-in-the-eu, abgerufen am 23.11.2021), S. 13.
[21] Vgl. Kucharczyk, Widmo Polexitu?, Fussnote 12.
[22] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/drei-ampel-politiker-fordern-mehr-verstaendnis-fuer-polen-und-mehr-dialog/27807178.html (abgerufen am 17.11.2021).
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