Wer spielt hier warum mit dem Feuer? Zum Wirklich­keits­gehalt der Gefahr eines Polexits

Foto: Shutter­stock, wjarek

Die Ausein­an­der­setzung um die Entscheidung des polni­schen Verfas­sungs­tri­bunals zum Vorrang polni-schen Rechts über EU-Recht, erneute Massen­pro­teste zum Jahrestag der Verschärfung der polni­schen Abtrei­bungs­ge­setz­gebung, die Migra­ti­ons­krise an der Grenze zu Belarus – auch ohne die erneut kata-strophale Coronalage scheint Polen fast den Status eines EU-Krisen­ge­biets einzu­nehmen. Angeheizt durch das kompro­misslose Auftreten der PiS-Regierung gegenüber dem Europäi­schen Gerichtshof hat das Schlagwort vom Polexit jüngst an Virulenz gewonnen. Ob es sich dabei um eine Schein­de­batte oder eine reale Gefahr handelt, beleuchten die Politik­wis­sen­schaftler und Polen­ex­perten Irene Hahn-Fuhr und Gert Röhrborn.

Nach mehr als 15 Jahren profi­tabler Mitglied­schaft Polens in der Europäi­schen Union wird neuer­dings über einen „Polexit“ speku­liert – also über einen möglichen Austritt unseres östlichen Nachbarn aus der europäi­schen Staaten­ge­mein­schaft, die neben der NATO seit dem Ende des Kommu­nismus ein unver­rück­barer Teil der polni­schen Staats­raison gewesen ist. Doch angesichts der jüngsten Eskalation zwischen der polni­schen Regierung der Partei Recht und Gerech­tigkeit (PiS) und den EU-Insti­tu­tionen in der Ausein­an­der­setzung um die Umsetzung des Rechts­staat­lich­keits­prinzips ist dieses Stichwort schlag­artig zur Beschreibung einer akuten Bedro­hungslage avanciert.

Das Urteil des polni­schen Verfas­sungs­tri­bunals vom 7. Oktober 2021 ist von manchen Kreisen im In- und Ausland als erster (de jure) Schritt auf dem Weg Polens aus der EU hinaus wahrge­nommen worden. Es wirft die Frage auf, ob es sich die PiS-Regierung mit Verweis auf den angeb­lichen Vorrang polni­schen Rechts erlauben würde, in einer abgespeckten Form in der EU zu funktio­nieren – also sich schlicht nicht an alle Vorgaben aus den Verträgen zu halten, indem sie einfach jedes ihr nicht genehme Urteil des EUGH über das von ihr kontrol­lierte Verfas­sungs­tri­bunal für ungültig erklären lässt. Am Ende dieses Weges einer so eklatanten Missachtung der EU-Rechts­ordnung, so die Befürchtung, könnte dann mittel­fristig ein tatsäch­licher Austritt aus der Staaten­ge­mein­schaft stehen. Dies hat nicht nur in den Medien, sondern auch in der polni­schen Gesell­schaft deutliche Spuren hinter­lassen. Die Zahl derje­nigen, die einen Polexit als reales Szenario betrachten, stieg im Laufe weniger Wochen von 30 auf 42 %.[1] Angenommen, sie hätten Recht: Wie würde ein Austritt Polens aus der EU formal überhaupt vonstattengehen?

Zunächst ein Blick auf die recht­lichen Grundlagen

Die Verfassung der Republik Polen regelt in den Art. 89–91 ausführlich den Beitritt zu und die Ausführung von inter­na­tio­nalen Verträgen einschließlich deren Vorrang vor natio­nalen Gesetzen im Falle der Unver­ein­barkeit mit letzteren. Eine entspre­chende Kündigung wird hingegen lediglich als möglich erwähnt.[2] Die entspre­chenden Modali­täten sind im Gesetz über inter­na­tionale Verträge vom 14. April 2000 festgelegt. Dessen Art. 22 gibt die Möglichkeit, über ein einfaches Gesetz die Kündigung eines inter­na­tio­nalen Vertrags im Parlament zu beschließen, die aller­dings anschließend genauso wie zuvor der Beitritt vom Präsi­denten ratifi­ziert werden muss.[3] Unter Bezug­nahme auf Art. 125 der polni­schen Verfassung wäre auch die Anordnung eines Austritts­re­fe­rendums mit einfacher Mehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeord­neten durch den Sejm oder über eine Anordnung des Präsi­denten bei entspre­chender Unter­stützung durch den Senat (wiederum einfache Mehrheit bei Anwesenheit der Hälfte der Senatoren) vorstellbar.[4] Aus diesem Grunde hat der im Sommer in die polnische Politik zurück­ge­kehrte ehemalige Premier­mi­nister und EU-Ratsvor­sit­zende Donald Tusk jüngst mit drama­ti­schem Ton eine Verfas­sungs­än­derung vorge­schlagen, die die Kriterien eines poten­zi­ellen EU-Austritts denen des Beitritts (2/​3‑Mehrheit in beiden Parla­ments­kammern bei Anwesenheit mindestens der Hälfte der Abgeord­neten) gleich­stellen würde.[5]

Wer hat eigentlich warum ein Interesse an einem Polexit – bzw. der Debatte darum?

Beim genaueren Hinsehen lassen sich drei Gruppen identi­fi­zieren, die den Diskurs um einen Polexit aus unter­schied­lichen und wider­sprüch­lichen Beweg­gründen anführen:

1. Die Opposition

Inter­es­san­ter­weise sind es vor allem die Opposi­ti­ons­par­teien, allen voran Donald Tusk und die von ihm geführte Bürger­plattform, die die gegen­wärtige Polexit-Debatte befeuern. Zwar ist das Schüren der Befürch­tungen, die PiS führe Polen aus der EU, nichts Neues. Sie wurden seit Jahren von verschie­dener Seite, u. a. mit Blick auf die Justiz­re­formen, die Hetzkam­pagnen gegen Migranten und LGBT-Commu­nities sowie das brüske Auftreten einiger Regie­rungs­ver­treter gegenüber wichtigen Partnern wie Deutschland oder Frank­reich geäußert. Nach der Entscheidung des polni­schen Verfas­sungs­tri­bunals scheint die stärkste Opposi­ti­ons­grup­pierung nun aber alles auf diese Karte zu setzen – die Mobili­sierung der generell mehrheitlich pro-europäisch einge­stellten Bevöl­kerung rund um die Angst vor einem Verlust von Sicherheit und Wohlstand. Das politische Kalkül ist also die Rückge­winnung der zuvor an die PiS gegan­genen Wähler­stimmen, ohne dafür innovative Ideen etwa im Bereich Sozial- und Wirtschafts­po­litik präsen­tieren zu müssen. Dass die EU-Kommission in der Ausein­an­der­setzung um die Rechts­staats­frage den polni­schen Anteil am EU-Wieder­auf­bau­fonds bisher nicht ausge­zahlt hat, kommt Tusk in seiner Argumen­tation des drohenden Polexits gelegen – die PiS unter­stellt wiederum, Tusk stecke persönlich hinter dieser „erpres­se­ri­schen“ Situation.

Dies offenbart die Risiken dieser Strategie, erhält die Regierung so doch Material für die Bestä­tigung ihrer These von der antipol­ni­schen Einstellung der „Brüsseler und Berliner Eliten“ geliefert, als deren willfäh­riger Vollstrecker Tusk vom Staats­fern­sehen gebrand­markt wird. Auch Akteure (zumeist aus der politi­schen progres­siven Linken), die die radikale Einschränkung des Abtrei­bungs­rechts rückgängig machen wollen und darüber hinaus auf dessen grund­le­gende Libera­li­sierung drängen, setzen mitunter auf eine Verbindung dieser beiden unter­schied­lichen Angele­gen­heiten. Die EU wird hier als ein ideelles und werte­ge­lei­tetes Gesamt­paket verstanden, in dem struk­tu­relle Aspekte des Funktio­nierens der Union wie Rechts­staat­lichkeit, zwischen­staat­liche Koope­ration etc. mit norma­tiven Aspekten wie sexuellen und repro­duk­tiven Rechte und Rechten sexueller Minder­heiten zusam­men­ge­dacht werden. In dieser Sicht­weise, der zufolge sich Polen bereits seit Jahren auf dem Pfad eines schlei­chenden Ausstiegs aus der EU befindet, fühlen sie sich durch eine ganze Reihe von politi­schen Forde­rungen des Europa­par­la­ments gestärkt. Mit dem Angst­schrei „Achtung: Polexit“ wird nicht nur, wie bei Tusks Bürger­ko­alition, die Hoffnung verbunden, die PiS aus der Regierung zu verdrängen, sondern überdies auch die genannten norma­tiven Postulate über die supra­na­tio­nalen Struk­turen der EU an den politi­schen oder sogar den gesell­schaft­lichen Mehrheiten im Mitgliedsland Polen vorbei durch­setzen zu können.

2. Die Regie­rungs­partei PiS

Auf der einen Seite weist die PiS den Vorwurf eines angeblich bewussten Kurses auf einen Polexit weit von sich. In seiner Rede vor dem Europa­par­lament am 19.10.2021 betonte Premier­mi­nister Mateusz Morawiecki: „Die europäische Integration stellt für uns eine zivili­sa­to­rische und strate­gische Entscheidung dar. Wir sind in Europa, hier ist unser Platz und das wird sich auch nicht ändern. Wir möchten Europa wieder zu einer starken, ambitio­nierten mutigen Gemein­schaft machen. Deshalb beschränken wir uns nicht auf kurzfristige Vorteile, sondern sehen auch das, was wir Europa geben können.“[6] Aber auf der anderen Seite spielt auch die Regierung mit dem Polexit-Feuer, aus drei verschie­denen Gründen:

Erstens aus takti­schem Kalkül, kann sie eine Furcht vor dem Polexit doch gegenüber den europäi­schen Partnern als Druck­mittel zur Abwehr von weitrei­chenden „Straf­maß­nahmen“ der EU einsetzen.[7] In den Worten von PiS-Frakti­onschef Ryszard Terlecki auf dem Wirtschafts­forum in Karpacz: „Wir sollten darüber nachdenken, wie wir so gut wie möglich zusam­men­ar­beiten können, damit wir alle in der Union sein können, aber in einer Union, die für uns akzep­tabel ist – denn wenn es so weiter­läuft, wie es derzeit aussieht, dann müssen wir nach drasti­schen Lösungen suchen [. . .] wir wollen nicht austreten [...] aber wir können uns nicht in etwas hinein­treiben lassen, das unsere Freiheit und Entwicklung einschränkt”.[8] Dies passt zur ideolo­gi­schen Ausrichtung der polni­schen Natio­nal­kon­ser­va­tiven, die sich als europäische Rechts­gaul­listen verstehen. Als solche betrachten sie die EU als wirksames wirtschafts- und sicher­heits­po­li­ti­sches Instrument zur Entwicklung des Landes,[9] nicht aber als eine weiter­ge­hende (Rechts-)Gemeinschaft souve­räner Natio­nal­staaten. Daher verbitten sie sich jegliche „Einmi­schung“ außerhalb von Binnen­markt und Vertei­di­gungs­po­litik und spielen in der Hoffnung auf eine ihnen genehmere politische Großwet­terlage in Europa auf Zeit.

Zweitens hat das Anheizen der Polexit-Debatte durch die PiS auch innen­po­li­tische Gründe. Die polni­schen Natio­nal­kon­ser­va­tiven haben sich immer wieder als Natio­na­listen hervor­getan, die in geistiger Verbun­denheit mit Carl Schmitt im Zweifel die Politik über das Recht stellen und Demokratie als die Diktatur einer – eher beschwo­renen als realen – Mehrheit verstehen.[10] Die von ihnen auf vielen Feldern erfolg­reich betriebene Politik mit der Angst (z. B. hinsichtlich Migration, LGBTIQ, Famili­en­po­litik)[11] könnte langfristig auch den Boden für eine verän­derte Einstellung zur EU bereiten, wenn die Folgen ihrer konfron­ta­tiven Politik nicht nur politische, sondern auch wirtschaft­liche Kosten verur­sachen. Aus diesem Grunde hat etwa das Europa­par­lament gefordert, dass die Sanktio­nierung Polens nicht die Bevöl­kerung treffen dürfe. Angesichts der Tatsache, dass die PiS die nächste Runde ihrer sozialen Wohltaten zum Großteil aus dem Geld des EU-Corona-Wieder­auf­bau­fonds gegen­fi­nan­zieren will, dürfte dies aber reines Wunsch­denken bleiben. Jeden­falls wird die PiS nicht müde, ihre Ausein­an­der­setzung mit EU-Kommission und Europäi­schem Gerichtshof als einen „europäi­schen Freiheits­kampf“ gegen die „neokom­mu­nis­tische Bevor­mundung aus Brüssel und Berlin“ darzu­stellen und dadurch die bisher in überwäl­ti­gender Mehrheit die EU-Mitglied­schaft unter­stüt­zende Bevöl­kerung sukzessive auf ihre Seite zu ziehen.[12] Die Chancen dafür stehen besser als manche vermuten oder hoffen, denn die Rechts­staats­ma­terie ist enorm komplex, und angesichts des tatsächlich histo­risch negativen Images des polni­schen Justiz­wesens bleibt bei nicht wenigen polni­schen Bürgern dann doch der Eindruck hängen: Was die PiS macht, ist zwar in Teilen fragwürdig, aber wenigstens machen sie irgend­etwas – in anderen Bereichen wie etwa der Sozial- und Wirtschafts­po­litik haben sie ja schließlich auch geliefert.

3. Richtungs­streit innerhalb der Regierung – die Rolle der Solidarna Polska

Kaczyński, Morawiecki, Duda & Co. streben für Polen einen der politi­schen und der ökono­mi­schen Bedeutung entspre­chenden Regio­nal­macht­status an. Zudem wird aber deutlich, dass es auch innerhalb des natio­nal­kon­ser­va­tiven Lagers mächtig gärt und wir, drittens, damit Zeugen eines Richtungs­streits sind. Nach dem Rauswurf der vergleichs­weise „libera­leren“ Koali­ti­ons­partei Porozu­mienie von Jarosław Gowin, aber auch unter dem Konkur­renz­druck vonseiten der rechts­ra­di­kalen Gruppierung Konfe­deracja, scheint nunmehr im natio­nal­kon­ser­va­tiven Lager zunehmend die natio­na­lis­tisch ausge­richtete Klein­partei Solidarna Polska den Ton anzugeben. Unter der Führung des Justiz­mi­nister-in-Perso­nal­union-General­staats­an­walts Zbigniew Ziobro waren deren Vertreter bereits als maßgeb­liche Trieb­kräfte hinter der seit 2019 laufenden Anti-LGBT-Kampagne in Erscheinung getreten. Diese Gruppierung steht für einen kompro­miss­losen Kurs in der Frage der Justiz­re­formen sowie einen dumpfen Kleri­ka­lismus in gesell­schafts­po­li­ti­schen Fragen und hat den Verhand­lungs­spielraum von Premier­mi­nister Mateusz Morawiecki gegenüber der EU wiederholt massiv zu beschränken gewusst.

Einer ihrer populärsten Vertreter, Ziobros ehema­liger Stell­ver­treter im Justiz­mi­nis­terium und heutiger Europa­par­la­men­tarier Patryk Jaki, hat unlängst einen nach ihm benannten Bericht vorge­stellt, der die angeblich horrenden Verluste der polni­schen Wirtschaft durch die EU-Mitglied­schaft beweisen soll.[13] Eine der Haupt­thesen: Die Förder­mittel aus den europäi­schen Fonds seien eine Ausgleichs­zahlung der EU für den Zugang zum polni­schen Markt und als solche völlig unzurei­chend, denn inter­na­tionale Konzerne würden horrende Summen aus Polen abfließen lassen, aber in jedem Fall seien sie Polen auch nicht entziehbar.[14] Die Aufnahme des Jaki-Berichts in Medien ganz unter­schied­licher Prove­nienz ist verheerend.[15] Postwendend erschien zudem ein detail­lierter (von der Konrad-Adenauer-Stiftung finan­zierter) Gegen­be­richt der Polni­schen Robert-Schuman-Stiftung[16], der die tenden­ziösen und in Teilen metho­do­lo­gisch unhalt­baren Berech­nungen mit eigenen Berech­nungen gerade­zu­rücken versuchte. Aber auch wenn hochrangige Vertreter der PiS und des Finanz­mi­nis­te­riums sich diese Großerzählung von der Vasal­li­sierung des wider­spens­tigen Polens in dieser Form nicht zu eigen machen wollen, sollte die Langzeit­wirkung dieser Propa­ganda, die getrost als Beta-Version einer Polexit-Lüge bezeichnet werden kann, nicht unter­schätzt werden.

Der Sejm-Abgeordnete und ehemalige Vizemi­nister Janusz Kowalski sinnierte schon einmal in den Medien über einen passenden Termin für ein Austritts­re­fe­rendum – 2027, zum Ende des laufenden Mehrjäh­rigen Finanz­rahmens der EU.[17] Dazu passt das Verhalten der Gewerk­schaft Solidarność, die in Luxemburg wegen der Entscheidung des EuGH zum Kohle­kraftwerk in Turowa gegen die angeb­liche energie­po­li­tische Knebelung Polens protes­tierte, ebenso wie die enorme staat­liche Finan­zierung für ultra­rechte Gruppie­rungen, die auch nach polni­schem Recht eigentlich vom Verfas­sungs­schutz beobachtet werden müssten. In der Gesamt­sicht entsteht der Eindruck, dass hier ein Teil des Regie­rungs­lagers bereits an einer politi­schen Neuaus­richtung für die Zeit nach dem Abgang des ohnehin schon zutiefst euroskep­ti­schen Jarosław Kaczyński arbeitet, der in den kommenden fünf Jahren immer wahrschein­licher wird. Zwar passt ein EU-Austritt ideolo­gisch tatsächlich am ehesten zu Solidarna Polska, aber auch bei dieser Gruppierung sollte eher strate­gi­sches Kalkül vermutet werden. Ziobro & Co. geht es um die Kreierung einer politi­schen Welle, auf der sie an die Macht surfen können, egal, ob (finan­ziell notge­drungen weiter) innerhalb oder (lieber) außerhalb der EU.

Auf dem Weg in den EWR?

Aber es gibt durchaus auch ökono­mische Bedin­gungen, die in der Zukunft weiteres Material für die von den oben beschrie­benen Akteuren losge­tretene Polexit-Debatte bieten könnten. Die polnische Wirtschaft hat dank ihrer Teilnahme am EU-Binnen­markt einen enormen Aufstieg vollzogen. Zwar liegt Polen mit Blick auf das Brutto­in­lands­produkt pro Kopf noch deutlich hinter seinem Nachbarn Tsche­chien, aber Portugal wurde bereits eingeholt, und das Aufschließen zu Ländern wie Spanien oder Italien liegt im Laufe dieses Jahrzehnts durchaus im Bereich des Möglichen.[18] Dem Brexit vergleichbare oder ihn gar übertref­fende Verwer­fungen dürften daher keines­falls im Interesse der polni­schen Wirtschafts­ka­pitäne und Staats­len­kenden sein. Anderer­seits ist da das ewige Thema der von Polen aus makro­öko­no­mi­schen (Abwer­tungs­spiel­räume), identi­täts­po­li­ti­schen (Symbol der Staat­lichkeit) und psycho­lo­gi­schen (gefühlt geschrumpftes Porte­monnaie) Gründen auf den Sankt Nimmer­leinstag verscho­benen Euro-Einführung sowie die Prognose, dass Polen dank seiner Wirtschafts­leistung in nicht allzu ferner Zukunft zum EU-Netto­zahler werden dürfte. Inter­es­san­ter­weise mag dies für einen Teil der Bevöl­kerung nicht etwa einen Grund von Stolz darstellen, sondern durchaus Anlass zu kühlen Kalku­la­tionen bieten.

Wenn nämlich die europäi­schen Fonds, wie der erwähnte Gegen­be­richt der Polni­schen Robert-Schuman-Stiftung unter­streicht, tatsächlich lediglich eine Unter­stüt­zungs­funktion bei der wirtschaft­lichen Entwicklung haben und die Auswir­kungen der Teilnahme am europäi­schen Binnen­markt um ein Dreifaches höher anzusetzen sind, dann könnte sich für bestimmte Kräfte auf der politi­schen Rechten Polens, für die die EU zunehmend mehr lästige Notwen­digkeit statt Herzens­an­ge­le­genheit zu sein scheint, durchaus die Frage stellen, was man nach Ende der Förder­mit­tel­zah­lungen eigentlich noch „substan­ziell“ von der EU-Mitglied­schaft hat, wenn man ohnehin geschätztes Mitglied der NATO ist. Vielleicht schwebt einigen „Polexi­to­logen“ ja ein Polen als ultra­kon­ser­va­tives Pendant der Schweiz oder Norwegens vor. Also eines wirtschaftlich für globale Liefer­ketten und Produk­ti­ons­pro­zesse wichtigen Landes mit direktem Zugang zum europäi­schen Binnen­markt, das sich von jeglicher „Brüsseler Einmi­schung in seine inneren Angele­gen­heiten“ befreit hat? Professor Zbigniew Krysiak, einer der beiden Autoren des Jaki-Berichts, beschrieb die Lage nach dem Urteil des polni­schen Verfas­sungs­tri­bunals folgen­der­maßen: „Es wird ein Krieg geführt, in dem wir nicht aufgeben dürfen. Das Schlimmste [an dieser Situation, Anm. d. Aut.] sind die Folgen des Verlusts des christ­lichen Geistes und des Freiheits­ge­fühls“.[19]

Die Gefahr eines Polexits: viel Lärm um nichts?

Der Blick auf die Gemütslage der polni­schen Gesell­schaft ist ambivalent. Zwar sind die Zustim­mungs­werte für die EU-Mitglied­schaft weiterhin an der europäi­schen Spitze, aber der Wandel in den Ansichten zur Flücht­lings­po­litik im Jahre 2015 hat deutlich die poten­zielle Manipu­lier­barkeit und Umkehr­barkeit der öffent­lichen Meinung vor Augen geführt. Zudem dürfen allge­meine Bekennt­nisse zur EU-Mitglied­schaft keineswegs mit einer Zustimmung zu allen zentralen Politik­be­reichen oder zum Funktio­nieren der Europäi­schen Union gleich­ge­setzt werden. So steht in einer aktuellen reprä­sen­ta­tiven Umfrage zur Zusam­men­arbeit Polens, Deutsch­lands und Frank­reichs im Weimarer Dreieck zu lesen, dass bereits heute in allen drei Ländern relative Mehrheiten für eine Rücknahme von an die EU überge­benen Souve­rä­ni­täts­rechten zugunsten ihrer Länder sind.[20] Zwar würde, wie eine Studie des Instituts für Öffent­liche Angele­gen­heiten aufzeigt, die übergroße Mehrheit (79 %) der polni­schen Bevöl­kerung heute gegen einen Polexit stimmen, aber deutlich wird in den Umfragen auch: die Botschaft von der kulturell-ideolo­gi­schen „Diktatur“ der EU kommt gerade bei konser­va­tiven Kreisen gut an.[21]

Das Neue an der gegen­wär­tigen Debatte um Polexit ist, dass sich bisher sogar in durchaus EU-kriti­schen Kreisen nie wirklich ein tatsäch­liches Austritts­sze­nario wahrnehmen ließ, sondern stets nur von der oben erwähnten Umstruk­tu­rierung der EU zurück zu mehr natio­nal­staat­licher Souve­rä­nität die Rede war. Die Verwendung des Begriffs sugge­riert also eine gewisse neue Dring­lichkeit. Überdies besteht natürlich die Gefahr, dass sich bestimmte polnische Akteure bei der PiS mit ihrer unrea­lis­ti­schen Argumen­tation in eine Sackgasse manövrieren, aus der sie ohne Gesichts­verlust nicht mehr heraus­finden können. So könnte wie beim Brexit ein gewisser Automa­tismus zum Stellen der Gretchen­frage entstehen. In jedem Fall ist bei einer weiteren Eskalation des Rechts­staats­kon­flikts davon auszu­gehen, dass sich in Polen mittel­fristig ein Wähler­po­tenzial von EU-Unzufrie­denen aufbaut, das von radika­leren Strömungen angezapft werden kann. Gleich­zeitig kann nicht ausge­schlossen werden, dass – genügend Renitenz von Seiten der PiS voraus­ge­setzt – entschei­dende politische Akteure in der EU irgendwann genug vom erwart­baren Pingpong bei den Polen aufer­legten Straf­zah­lungen oder von neuer­lichen recht­lichen Täuschungs­ma­növern der PiS-Regierung haben. Dann könnte eine Situation entstehen, in der hochrangige Vertreter von EU-Mitglieds­staaten ein innen- oder außen­po­li­ti­sches Interesse daran haben, Polens Politik als inakzep­tabel und unver­einbar mit EU-Kriterien zu dekla­rieren und es damit trotz der erwartbar verhee­renden Auswir­kungen für den europäi­schen Zusam­menhalt und das Funktio­nieren des europäi­schen Binnen­markts heraus­zu­treiben. Der Verlust Polens könnte für die Anhänger einer stärkeren politi­schen Integration der EU in Richtung eines föderalen Bundes­staats leichter wiegen als ein Dauer­kon­flikt mit einem renitenten, auf seiner natio­nalen Souve­rä­nität pochenden Mitgliedsstaat.

Die neue deutsche Regierung steht hier vor einer schwie­rigen Aufgabe. Sie sollte sich einer­seits nicht auf den Polexit-Alarmismus einlassen und der PiS nicht das Gefühl geben, Deutschland wolle einen Austritt Polens unter allen Umständen vermeiden, um sich nicht erpressbar zu machen. Gleich­zeitig darf die PiS mit ihrer Unter­höhlung des Rechts­staats nicht durch­kommen. Die neue deutsche Regierung wäre gut beraten – so wie jüngst von Reinhard Bütikofer (Grüne), Michael Link (FDP) und Dietmar Nietan (SPD) in einem gemein­samen Beitrag für den Tages­spiegel gefordert[22] – endlich substan­ziell auf bilaterale und europäische Anliegen Polens (wie etwa bei der Entsen­de­richt­linie, Energie- und Sicher­heits­po­litik, Nordstream II, Wieder­gut­ma­chung etc.) einzu­gehen. Sie könnte so der polni­schen Bevöl­kerung signa­li­sieren, dass die PiS-Propa­ganda von der angeblich antipol­ni­schen Haltung Berlins und Brüssels keine Grundlage hat, sondern berech­tigte nationale Inter­essen auf faire Weise im Rahmen der EU und ihrer Insti­tu­tionen verhandelt werden können.


[1] Vgl. https://www.rmf24.pl/raporty/raport-batalia-o-sady/fakty/news-polexit-to-realny-scenariusz-coraz-wiecej-polakow-tak-uwaza,nId,5573292#crp_state=1 (abgerufen am 15.11.2021).

[2] Vgl. https://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/polski/3.htm (abgerufen am 15.11.2021).

[3] „Der Antrag an den Präsi­denten der Republik Polen zur Kündigung eines mit Zustimmung nach Art. 89 Abs. 1 und Art. 90 der Verfassung der Republik Polen ratifi­zierten Vertrags erfolgt nach Einholung der in einem Gesetz zum Ausdruck gebrachten Zustimmung“ [des Parla­ments] (Übers. & Erläut. d. Aut., vgl. https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20000390443/T/D20000443L.pdf (abgerufen am 15.11.2021).

[4] Vgl. https://sip.lex.pl/akty-prawne/dzu-dziennik-ustaw/konstytucja-rzeczypospolitej-polskiej-16798613/art-125 (abgerufen am 15.11.2021).

[5] Vgl. https://oko.press/tusk-aby-wyprowadzic-polske-z-ue-wystarczy-jedno-glosowanie-zwykla-wiekszoscia-przesadza/ (abgerufen am 15.11.2021).

[6] Rede von Premier­mi­nister Mateusz Morawiecki vor dem Europäi­schen Parlament (https://www.gov.pl/web/primeminister/rede-von-premierminister-mateusz-morawiecki-vor-dem-europischen-parlament, abgerufen am 15.11.2021).

[7] Vgl. https://www.fr.de/politik/folgen-eines-moeglichen-polexit-am-ende-verlieren-alle-91066778.html (abgerufen am 15.11.2021).

[8] https://www.rp.pl/polityka/art18933931-terlecki-bron-boze-nie-chcemy-zeby-europa-byla-jednym-panstwem (Übers. d. Aut., abgerufen am 15.10.2021).

[9] Vgl. Sławomir Siera­kowski, The Possi­bility of Polexit (https://dgap.org/en/research/publications/possibility-polexit, abgerufen am 15.11.2021).

[10] Wie die Sprecherin der PiS, Anita Czerwińska, es bei der Vorstellung eines weiteren kriti­schen Berichts der EU-Kommission durch Kommissar Didier Reynders in Warschau ausdrückte: „Das Justiz­system ist voller Patho­logien, es braucht Reformen. Das Recht dazu haben uns die Wähler gegeben. Die Bürger wollen Gerech­tigkeit, und wir werden die in unserem Wahlpro­gramm aufge­lis­teten Aufgaben erfüllen.“ (Übers. d. Aut., https://wiadomosci.onet.pl/kraj/komisarz-ue-ds-sprawiedliwosci-przedstawia-krytyczny-wobec-polski-raport-ke/tgmpj3e, abgerufen am 18.11.2021). Zur Erinnerung, die PiS hatte mit ihrer Koalition der sogenannten „Verei­nigten Rechten“ 2019 43,5 % der Stimmen erzielt, nicht etwa eine verfas­sungs­än­dernde Mehrheit.

[11] Vgl. etwa Przemysław Sadura, „Migra­ti­ons­krise als Strategie zur Macht­er­greifung. Der Fall Polen“ (https://www.boell.de/de/2021/11/12/migrationskrise-als-strategie-zur-machtergreifung-der-fall-polen, abgerufen am 15.11.2021).

[12] 70–80 % der Opposi­ti­ons­an­hänger sehen die PiS-Regierung als Schuldige der gegen­wär­tigen Eskalation, aber mehr 56 % der Regie­rungs­an­hänger sehen die Verant­wortung in Brüssel, 23 % auf beiden Seiten. Vgl. Vgl. Jacek Kucharczyk, Widmo Polexitu? Społeczne postawy wobec człon­kostwa Polski w Unii Europe­jskiej, Warszawa 2021 (https://www.isp.org.pl/pl/publikacje/widmo-polexitu-spoleczne-postawy-wobec-czlonkostwa-polski-w-unii-europejskiej, abgerufen 28.11.2021).

[13] Vgl. den Mitschnitt der Presse­kon­ferenz zur Präsen­tation „Saldo trans­ferów finan­sowych między Unią Europejską a Polską“ (https://www.facebook.com/PatrykJaki/videos/836873620525409, abgerufen am 15.11.2021).

[14] Vgl. https://www.fronda.pl/a/wideo-szokujace-calkowity-bilans-strat-finansowych-polski-w-reklacjach-z-ue-w-latach-2004–2020,167030.html (abgerufen am 15.11.2021).

[15] Vgl. etwa https://oko.press/raport-jaki-ue/; https://krytykapolityczna.pl/gospodarka/patryk-jaki-raport-unia-europejska-inwestycje-podatki/; https://businessinsider.com.pl/finanse/polska-zielona-wyspa-dzieki-ue-byli-ministrowie-finansow-demoluja-raport-jakiego/8hsw85r; https://www.rp.pl/komentarze/art18941271-artur-bartkiewicz-wyliczenia-patryka-jakiego-czyli-jak-biedniejemy-bogacac-sie-w-ue (abgerufen am 15.11.2021).

[16] Vgl. Polnische Robert-Schuman-Stiftung, „Gdzie naprawdę są konfitury? Najważ­niejsze gospodarcze korzyści człon­kostwa Polski w Unii Europe­jskiej” (www.schuman.pl/bilansPL, abgerufen am 15.11.2021).

[17] Vgl. https://wiadomosci.onet.pl/kraj/polexit-janusz-kowalski-zaproponowal-termin-referendum-burza-w-sieci/4c1j3xe (abgerufen am 15.11.2021).

[18] Vgl. https://300gospodarka.pl/news/mfw-czechy-pkb-per-capita (abgerufen am 15.11.2021).

[19] Vgl. https://www.rp.pl/polityka/art19000721-autor-raportu-jakiego-polska-ostatnim-bastionem-na-przeszkodzie-do-wprowadzenia-neokomunizmu-w-europie (Übers. d. Aut., abgerufen am 15.11.2021).

[20] 38 % der befragten Polen, 33 % der Franzosen, 46 % der Deutschen (für einen weiteren Souve­rä­ni­täts­gewinn der EU sprachen sich hingegen entspre­chend PL 36 %, FR 28 % und DE 29 % aus). Vgl. Jacek Kucharczyk, Respect the past but look towards the future. Polish, French and German percep­tions of the Weimar Triangle and its role in the EU (https://www.isp.org.pl/pl/publikacje/respect-the-past-but-look-towards-the-future-polish-french-and-german-perceptions-of-the-weimar-triangle-and-its-role-in-the-eu, abgerufen am 23.11.2021), S. 13.

[21] Vgl. Kucharczyk, Widmo Polexitu?, Fussnote 12.

[22] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/drei-ampel-politiker-fordern-mehr-verstaendnis-fuer-polen-und-mehr-dialog/27807178.html (abgerufen am 17.11.2021).

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