Landtagswahl 2019 in Sachsen: Regiert die AfD bald mit?
Zwar hat die AfD die randalierende Menge von Chemnitz nicht selbst mobilisiert, doch sie könnte die Vorfälle nutzen, Sachsen noch tiefer zu spalten. Nach der Landtagswahl werden CDU und SPD aller Wahrscheinlichkeit nach keine Mehrheit mehr haben. Wird sich die CDU dann in einem Vierparteienbündnis quälen – oder lieber mit der AfD koalieren? Eine Analyse von Tino Moritz, Landeskorrespondent der Freien Presse in Dresden.
Zu den Besonderheiten Sachsens gehört, dass das südöstlichste Bundesland der Republik seit der deutschen Einheit 1990 fortwährend von derselben Partei regiert wird – der CDU, die sich im Freistaat nicht ohne Grund „Sächsische Union“ nennt. Als Wegbereiter ihrer inzwischen 28 Jahre währenden Dauerbesetzung der Staatskanzlei gilt „König Kurt“ Biedenkopf. Dass der rhetorisch versierte Professor aus Nordrhein-Westfalen, bis 2002 für immerhin elfeinhalb Jahre Ministerpräsident, sofort nach seiner Ankunft im Osten 1990 die Herzen vieler Bürger eroberte, wird auch seiner Strategie zugeschrieben, den Sachsen von Beginn an einen ganz besonderen Stolz auf ihre Heimat einzuimpfen. Dreimal holte die CDU mit Biedenkopf die absolute Mehrheit, zuletzt 1999 mit knapp 57 Prozent und mehr als 1,2 Millionen Wählerstimmen.
20 Jahre später geht es für die Sachsen-Union – die sich seit 2004 die Macht mit SPD und dazwischen auch einmal mit der FDP teilen musste – aber längst nicht mehr um die absolute Mehrheit. Einer Umfrage zufolge lag sie im Juni 2018 bei 32 Prozent, worüber die Parteispitze schon deshalb froh war, weil dies nach dem desaströsen Landesergebnis zur Bundestagswahl einen Aufwärtstrend bedeutete. Im September 2017 hatte die CDU im Freistaat nur 26,9 Prozent erhalten.
Wenn der Hoffnungsträger Michael Kretschmer scheitert und sich der CDU-Abwärtstrend der vergangenen Landtagswahlen zugunsten der neuen AfD-Konkurrenz fortsetzt, steht alles auf dem Prüfstand – nicht nur das Spitzenpersonal der Partei, sondern auch das Nein zu Schwarzblau.
Mit knapp 666.000 Zweitstimmen waren das zwar 21.000 mehr als zur Landtagswahl 2014. Der Unterschied jedoch besteht darin, dass dies vor vier Jahren angesichts der seinerzeit erstmals auf unter 50 Prozent gesunkenen Wahlbeteiligung noch zu 39,4 Prozent für die Union reichte. Vor allem aber: Nun war die CDU erstmals bei einer landesweiten Abstimmung im Freistaat nicht mehr die Nummer 1.
Diesen Status eroberte, wenn auch mit 27,0 Prozent und 4189 Zweitstimmen mehr als die CDU nur hauchdünn, die AfD. Eine erst 2013 gegründete Partei, deren bundesweiter Triumphzug 2014 ausgerechnet in Sachsen begonnen hatte. Bei allen Landtagswahlen seither gelang ihr der erstmalige Einzug ins jeweilige Landesparlament, zur Premiere in Sachsen mit der schon damals populären Parteichefin Frauke Petry an der Spitze noch mit vergleichsweise bescheidenen 9,7 Prozent.
Der Aufstieg der AfD hat bekanntlich viele Gründe. Eine besondere Rolle spielt die Flüchtlingskrise sowie der eher gemäßigte Mitte-Kurs der Bundes-CDU unter Kanzlerin Angela Merkel. Auch über den besonderen Erfolg der AfD in Ostdeutschland und speziell in Sachsen wurden schon ganze Bücher verfasst, in denen an die Ängste älterer Generationen, nach 1989/90 vor einem zweiten existenzbedrohenden „Systemwechsel“ zu stehen, als auch an das historisch bedingte Fehlen ausgeprägter Stammwählerschaften erinnert wird. Hinzuzufügen wäre noch der Einfluss der sozialen Netzwerke, die der lange schweigenden Masse zu neuen Artikulationsmöglichkeiten verhalfen und parallele Informationswelten im Internet entstehen ließen.
Zusammen ergibt sich dadurch eine einmalige Ausgangssituation: In einem jahrzehntelang durch die hiesige CDU besonders konservativ geführten Bundesland erfährt eine neue, noch erheblich nationalkonservativer ausgerichtete politische Kraft viel Zustimmung – und zwar so viel, dass nach aktuellen Umfragen eine Regierungsbildung nach der Wahl 2019 ohne sie erheblich erschwert wird. Das Ergebnis einer Umfrage des Institut Insa im Auftrag der „Bild-Zeitung“ sah nämlich nicht nur die CDU bei 32 Prozent, sondern auch ihren aktuellen Regierungspartner SPD bei nur 9 Prozent.
Um weiter zu regieren, bräuchte Schwarz-Rot demnach nicht nur noch die derzeit außerparlamentarische FDP (6 Prozent), sondern parallel auch noch die Grünen (6 Prozent) – was freilich eine hierzulande noch nie dagewesene Vierparteienkoalition wäre. Mit einem Partner allein würde es rechnerisch für die CDU hingegen nur für zwei Alternativen reichen: für ein Bündnis mit dem bei 19 Prozent liegenden bisherigen Oppositionsführer, der Linken (die dies genauso wie die Union als unvorstellbar ausschließt), oder eben eines mit der jetzt auf 24 Prozent verbesserten AfD. Dass das die Debatte um das Szenario „Schwarzblau“ anheizt, war zu erwarten. Mit jeder weiteren Umfrage, deren Ergebnis instabile Mehrheitsverhältnisse ohne AfD-Regierungsbeteiligung voraussagt, dürfte sie noch stärker werden.
Grüne sagen CDU-AfD Bündnis voraus
Zu denjenigen, die vom Zustandekommen der ersten Landesregierung aus CDU und AfD ab 2019 überzeugt sind, zählt Johannes Lichdi. Dass die CDU-Landesspitze um den im Dezember 2017 zum Ministerpräsident gewählten Ministerpräsidenten Michael Kretschmer ein solches Bündnis kategorisch ausschließt, hält der langjährige Grünen-Landtagsabgeordnete für taktisch bedingt. In seinem Anfang Juli 2017 veröffentlichten Aufsatz „Sachsen wird schwarzblau“ schreibt Lichdi: „Solange strategisches Ziel die Rückgewinnung der Wählerinnen und Wähler der AfD ist, will man diesen natürlich die Hoffnung nehmen, die AfD in eine Koalition mit der CDU wählen zu können. Trotzdem laufen die voraussichtlichen Mehrheiten, die strategischen Ziele der CDU und gemeinsame ideologische Grundannahmen auf eine schwarzblaue Koalition als Lieblingsoption der ‚Sächsischen Union‘ hinaus.“
Tatsächlich ist die Argumentation auf den ersten Blick nicht völlig von der Hand zu weisen. In vielen Positionen stehen sich CDU und AfD politisch durchaus nahe. Dies lässt sich auch – und im Gegensatz zu Äußerungen Kretschmers – im Landtag ablesen, wo die AfD-Fraktion eben keinesfalls nur populistisch agiert. Vornehmlich beim Thema Innere Sicherheit hat sie seit 2014 Forderungen erhoben, denen die CDU/SPD-Koalition später zumindest in abgeschwächter Form nachkam – als Beispiele seien die (auch von Linken und Grünen verlangte) Aufstockung der Polizeianwärter-Stellen oder der Zuschlag für ältere Polizeibeamte genannt.
Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die AfD-Landtagsfraktion in ihrer bisherigen Zusammensetzung nicht die Kräfteverhältnisse des Landesverbandes widerspiegelt, der inzwischen deutlich radikaler aufgestellt ist. Darüber vermag auch die Doppelfunktion von Fraktions- und Landeschef Jörg Urban – ein ehemaliger Geschäftsführer der Grünen Liga in Sachsen – als Nachfolger von Petry nicht hinwegtäuschen.
Die Aufgabe, die renitente Basis der jungen Partei einzufangen, kommt ganz offensichtlich Generalsekretär Jan Zwerg zu. Auf die Nachricht, dass Flüchtlinge gewaltsam in die spanische Exklave Ceuta eingedrungen sind, reagierte er Ende Juli 2018 wie folgt: „Nun sickern die Asylbegehrer über das sozialistisch regierte Spanien ein. Für Deutschland kann das nur heißen: Grenzen dicht und in letzter Konsequenz auch von der Schusswaffe Gebrauch machen.“
Die Sprache der Pressemitteilungen – als Fraktions- und Parteisprecher fungiert mit Andreas Harlaß ein früherer „Bild“-Redakteur – ist viel provokanter als die Äußerungen der AfD-Abgeordneten im Plenum. Ganz offensichtlich fällt nicht jedem der Spagat, im Landtag ernst genommen zu werden, aber an der eigenen Basis immer noch als ausreichend „unangepasst“ durchzugehen, besonders leicht. Letzteres ist aber entscheidend für die Wiederaufstellung als Kandidat.
Inhaltliche Verwandschaft
Fernab der rhetorischen Aufrüstung, die im Wahlkampf auch zur scharfen Abgrenzung der AfD von der CDU (und umgekehrt) führen wird, ist eine inhaltliche Verwandtschaft beider Parteien nicht zu leugnen. Genau das spricht aber eher dagegen, dass es sich bei Schwarzblau um die von Lichdi behauptete „Lieblingsoption“ der Union nach der Landtagswahl 2019 handeln würde.
Sie hat den Anspruch, die sächsische Volkspartei zu bleiben – erst recht angesichts der durch Biedenkopf begründeten Vorgeschichte mit 14 Jahren absoluter Mehrheit in Sachsen. Deshalb wird sie vor allem daran interessiert sein, die schärfste Konkurrenz auf Abstand zu halten. Bei aller Kritik, die von einflussreichen CDU-Funktionären wie Fraktionschef Frank Kupfer regelmäßig am aktuellen Juniorpartner SPD geübt wird, bleibt dieser doch der erste Ansprechpartner für die Union – und damit die „Lieblingsoption“. Dass auf Bundesebene gern vorgebrachte Argument gegen Große Koalitionen, dass ihnen eine Stärkung der politischen Ränder folgt, trifft in Sachsen aufgrund der bescheidenen Größe der Sozialdemokraten schon seit geraumer Zeit nicht zu.
Womit auch ein weiterer wichtiger Punkt anzusprechen wäre: die enorme Schwäche der (linken) Opposition in Sachsen. Anders als im Nachbarland Thüringen, wo Bodo Ramelow nach jahrelanger Vorarbeit als Oppositionsführer Ende 2014 zum Ministerpräsidenten eines rot-rot-grünen Bündnisses gewählt wurde, das die dortige CDU erstmals in die Opposition verbannte, gibt es zumindest bislang keine populäre Personalalternative der Linken zu CDU-Amtsinhaber Kretschmer.
Dessen Herangehensweise nötigt sogar der Linken-Chefin Antje Feiks Respekt ab: „Bürgernah, empathisch, kommunikativ und mit einer ‚Wir haben verstanden‘-Haltung krempelt er die sächsische Politik vermeintlich auf konservativ-links um“, stellte sie gemeinsam mit einer Parteifreundin in einem Papier fest, in dem sie zugleich den Kampf um die Verteidigung der Position als zweitstärkste politische Kraft in Sachsen ausrief – also nur um die Vizemeisterschaft, gegen die AfD.
Zuletzt fiel Feiks mit dem Vorschlag auf, dass es keiner Koalition bedürfe, sondern auch eine „Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten“ ein „beispielhaftes Modell“ sei. Der selbstgewählte Verzicht auf eine wirkliche Machtoption 2019 – gleichbedeutend mit der vorfristigen Anerkennung, dass die Union auch 29 Jahre nach Wiedergründung des Freistaats weiter den Ministerpräsidenten stellen darf – muss als Zeichen der Schwäche gewertet werden. Ob die mit der fehlenden Aussicht auf Rot-Rot-Grün einhergehende Beförderung der Diskussion um Schwarzblau der Linken weiter schadet, bleibt abzuwarten.
Ohnehin lässt sich schwer vorhersagen, wie Lichdis „voraussichtliche Mehrheiten“ in Sachsen 2019 genau aussehen. Sonderfaktoren wie der Antritt von Frauke Petrys Blauer Partei, die Auswirkung möglicher Personaländerungen an der Spitze von Bundesparteien, das Echo auf Sahra Wagenknechts angekündigte „Aufstehen“-Sammlungsbewegung oder Problemstände in landespolitischen Kernbereichen wie Bildung oder Polizei sind derzeit schlichtweg unkalkulierbar – und auch nicht die Wirkung des unermüdlich durchs Land tourenden und fast keinem Streitgespräch aus dem Weg gehenden Regierungschefs Kretschmer.
CDU-AfD-Bündnis nur ohne Kretschmer denkbar
Niemand weiß, ob der nächste Sächsische Landtag aus vier Fraktionen (CDU, AfD, Linke und SPD) oder sogar aus sieben (Grüne, FDP und Blaue Partei) besteht. Dafür, dass die AfD mit ihrem derzeit deutlich über 20 Prozent liegenden Stimmenanteil eher am oberen Limit angelangt ist, während die versammelte Konkurrenz noch Reserven hat, spricht ein anderes Umfragedetail von Insa. Weil die AfD dabei auch auf einstige Protestwähler der Linken bauen kann, erscheint es unwahrscheinlich, dass beide Parteien zusammen im nächsten Parlament mehr als die Hälfte der Plätze besetzen. Nur in einem solchen Fall aber gerät die CDU-Führung wirklich unter Druck, ein Bündnis mit der AfD in Erwägung zu ziehen – die in Sachsen, so viel ist bereits erkennbar, ganz offensichtlich eher auf eine zweite Legislaturperiode in der Opposition setzt und eine Juniorpartnerschaft an der Seite der Union ausschließt.
Je mehr Parteien es in den nächsten Landtag schaffen, umso komplizierter dürfte die Mehrheitsbildung werden. Bislang gilt ein „Modell Haseloff“ – also jener Koalition aus CDU, SPD und Grünen in Sachsen-Anhalt, wo seit der Landtagswahl 2016 nur noch Linke (16,3 Prozent) und AfD (24,3 Prozent) in der Opposition sitzen – an der Unionsbasis als schwer vermittelbar. Dennoch würde Kretschmer, zu dessen einflussreichen Unterstützern etwa Kultusminister Christian Piwarz, Innenminister Roland Wöller und Generalsekretär Alexander Dierks zählen, im Ernstfall wohl selbst ein solches Dreierbündnis (eventuell auch eines mit FDP und Blauer Partei) durchsetzen können. Eine Liaison mit der AfD wäre hingegen nur ohne Kretschmer denkbar.
Wenn es dem 43-jährigen Görlitzer, der zwar als wendig gilt, in seinem Landesverband aber nicht zum konservativen Flügel gehört, sondern über gute Kontakte zu Koalitionspartner SPD und seit den 2014 gescheiterten Sondierungen auch zu den Grünen verfügt, am 1. September 2019 gelingt, die CDU zur unangefochtenen Nummer 1 zu machen, wird sie seinem Kurs gern weiter folgen. Nur wenn der Hoffnungsträger scheitert und sich der CDU-Abwärtstrend der vergangenen Landtagswahlen (2004: 41 Prozent mit 855.000 Stimmen; 2009: 40 Prozent mit 723.000 Stimmen; 2014: 39 Prozent mit 645.000 Stimmen) zugunsten der neuen AfD-Konkurrenz fortsetzt, steht alles auf dem Prüfstand – nicht nur das Spitzenpersonal der Partei, sondern auch das Nein zu Schwarzblau. Aber das wird die Union, der es an wirklichen Personalalternativen zu Kretschmer fehlt, frühestens am 2. September 2019 entscheiden. Wenn sie es überhaupt muss.
Von Tino Moritz erschien im Sammelband „Unter Sachsen – zwischen Wut und Willkommen“ der Beitrag „Rechtsaußen, mittendrin: Anders als zehn Jahre lang die NPD wird die AfD im Sächsischen Landtag nicht ausgegrenzt“.
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