„Über Freiheit” – Interview mit Timothy Snyder

Ange­sichts multipler Krisen und einer depri­mie­renden Weltlage ist es nicht erstaun­lich, dass viele Sach­bü­cher aus den Herbst­pro­grammen sehr pessi­mis­tisch sind. Nicht so das gerade erschie­nene Buch des US-ameri­ka­ni­schen Histo­ri­kers Timothy Snyder: „Über Freiheit“. Unser Autor Till Schmidt hat mit ihm über sein aktuelles Werk gesprochen.

Zur Person: Timothy Snyder ist US-ameri­ka­ni­scher Histo­riker, Autor zahl­rei­cher viel­be­ach­teter Bücher und Professor der Yale Univer­sity. Er ist Permanent Fellow am „Wiener Institut für die Wissen­schaft am Menschen“ und forscht schwer­punkt­mäßig zu osteu­ro­päi­scher Geschichte und dem Holocaust. Snyder gilt als einer der wich­tigsten Denker der Gegenwart.

Die Weltlage ist düster, doch Sie haben gerade ein Buch zu einem Thema veröf­fent­licht, mit dem viele Menschen Hoffnung, Vertrauen und Opti­mismus verbinden: Freiheit. Herr Snyder, was hat Sie dazu bewogen, „Über Freiheit“ zu schreiben?

Ohne Konzepte können wir die vielen schreck­li­chen Dinge, die aktuell passieren, nicht wirklich angehen. Darüber hinaus können wir auch nicht einfach immer nur auf Krisen reagieren. Ein großer Teil unseres Problems in den letzten 35 Jahren war die Konzept­lo­sig­keit – der Mangel an Ideen oder, schlimmer noch, die Vorstel­lung, ohne Ideen auskommen zu können. Ich glaube, die richtige Defi­ni­tion von Freiheit öffnet den Weg zu einer besseren Politik, und sie öffnet die Fantasie für die Zukunft.

„Über Freiheit“ ist auch ein persön­li­ches Buch. Welchem Genre würden Sie es zuordnen?

 „Freiheit“ ist kein Thema, das wir ex cathedra oder rein logisch-argu­men­tativ und abstrakt behandeln können. Freiheit ist der Wert der Werte, das heißt, sie ist die Voraus­set­zung dafür, dass wir andere Werte wählen können. Diese anderen Werte sind jedoch viel­fältig und manchmal auch wider­sprüch­lich. Wenn wir also frei sind, sind wir unbe­re­chenbar. Mein Buch handelt auch davon, Fehler zu machen und daraus zu lernen. „Über Freiheit“ ist eine Mischung aus Memoir, Geschichte und Philo­so­phie und befasst sich zudem mit Musik und Literatur.

Das Buch ist in gewisser Weise aber auch eine Antwort auf Fragen, die mir die Leute seit fünfzehn Jahren stellen. Wenn ich also mit „Blood­lands“ oder „Black Earth“ zeige, wie und warum die Dinge falsch gelaufen sind, sollte ich dann nicht auch etwas über gute Politik sagen können? Leser von „Über Tyrannei“ haben zu Recht gefragt: Wenn wir etwas vertei­digen, was genau ist das, was wir vertei­digen? Diese Intuition ist richtig, denn man kann Probleme nicht ewig aufschieben. Irgend­wann muss man kreativ werden.

... was zu dem Haupt­ar­gu­ment in Ihrem Buch führt: die Unter­schei­dung zwischen negativer und positiver Freiheit. Warum machen Sie sich so sehr für Letztere stark?

Negative Freiheit ist keine Freiheit. Sie ist besten­falls eine in die falsche Richtung zielende Tradition, über Freiheit zu sprechen, oder eine Vorbe­din­gung für Freiheit. In der Tradition der negativen Freiheit geht es um die Freiheit von. Aber der einzige Grund, sich mit der „Freiheit von“ zu beschäf­tigen, liegt darin, zur „Freiheit zu“ zu gelangen. Um ein Beispiel zu nennen: Es mag schlecht sein, Sie ins Gefängnis zu stecken, aber es ist nur schlecht, weil Sie eine Person sind. Es stellt sich also die Frage: Was brauchen wir außer der Abwe­sen­heit eines Gefäng­nisses, damit wir frei sind?

Die Antwort lautet eindeutig: nicht nichts.

Ganz genau. Die Abwe­sen­heit von Gefäng­nissen ist also nicht genug. Das Fehlen einer schlechten Regierung ist nicht genug. Die Abwe­sen­heit von Unter­drü­ckung ist nicht genug. Die Besei­ti­gung dieser und ähnlicher Hinder­nisse ist notwendig. Eines der Probleme der negativen Freiheit ist jedoch, dass sie sich nicht auf die Person, sondern auf das Hindernis konzen­triert. Am Ende blicken wir auf uns selbst wie auf physische Objekte, so wie wir auch die Barrieren als physische Objekte betrachten. Wir enden mit einem Verständnis von Freiheit, in der wir unseren Inter­essen folgen und gele­gent­lich gegen Dinge stoßen. Aber der Punkt ist: ohne die Barrieren können wir nicht wachsen, uns verändern und werden (to become).

Es gibt viele gute Dinge auf der Welt, und das Besondere an uns Menschen ist unsere Fähigkeit, sie zu kombi­nieren. Freiheit ist die Bedingung, unter der wir das tun können. Als Menschen sind wir Geschöpfe, die in der Lage sind, an Werte zu glauben und diese in der Welt zu verwirk­li­chen. Werte folgen jedoch keinen physi­ka­li­schen Gesetzen. Mathe­ma­ti­sche und logische Sätze gelten für sie nicht auf die gleiche Weise. Es ist nicht möglich, einen Durch­schnitt von Loyalität und Ehrlich­keit zu bilden. Man kann nicht sagen, Loyalität ist besser als Ehrlich­keit. Wann man loyal ist und wann man ehrlich ist, ist letztlich eine mensch­liche Entschei­dung. Freiheit ist also der Zustand, in dem wir die Dinge bejahen können, von denen wir glauben, dass sie unseren eigenen Vorstel­lungen entsprechen.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wann über die Idee der positiven Freiheit eine bemer­kens­werte poli­ti­sche Wirkung erreicht werden konnte?

Ich kann nicht behaupten, dass sie zu irgend­einem Zeitpunkt in der Vergan­gen­heit perfekt verstanden wurde. Aber denken Sie an John Maynard Keynes. Sein Grund­ge­danke war: Die Menschen werden zu ihrem schlimmsten Selbst, wenn sie mit wirt­schaft­li­cher Insta­bi­lität konfron­tiert sind. Ihm zufolge sind sie daher freier, wenn die Regierung die Bedin­gungen für ökono­mi­sche Stabi­lität schafft. Oder denken Sie an Franklin D. Roosevelt. Die Ameri­kaner traten in den Zweiten Weltkrieg mit der Vorstel­lung ein, Freiheit bedeute die Schaffung einer anderen Art von Gesell­schaft. Die gesamte Rhetorik von Roosevelt bezog sich auf das, was wir heute als positive Freiheit bezeichnen würden. Das Gleiche könnte man über viele der Wider­stands­be­we­gungen in Europa während des Krieges sagen.

In Ihrem Buch beziehen Sie sich auf euro­päi­sche Denker wie Simone Weil und Edith Stein, um Ideen vor allem für den US-ameri­ka­ni­schen Kontext zu entwi­ckeln. Welche Wirkung hat dort die Idee der negativen Freiheit?

Den Ameri­ka­nern hat sie beigebracht, die eigene Regierung sei das einzige Hindernis auf dem Weg zu Reali­sie­rung von Freiheit. Dadurch wurde die Regierung so weit einge­schränkt, dass sie sich nicht mehr in der Lage befindet, einige der grund­le­genden Bedin­gungen der Freiheit zu gewähr­leisten. An diesem Punkt fangen Ameri­kaner dann an, sich gegen­seitig als Hindernis zu betrachten, und die Politik wird zu einer Ange­le­gen­heit von „wir“ und „sie“. Die geschwächte Regierung war bislang auch nicht in der Lage, Monopole einzu­schränken, insbe­son­dere in den Medien und den sozialen Medien, was auch die ameri­ka­ni­sche Politik in Richtung Faschismus getrieben hat.

Bei den Europäern hat das ameri­ka­ni­sche Verständnis von Freiheit als negativer Freiheit die Idee der Freiheit diskre­di­tiert. Aus diesen beiden Gründen wird der Wohl­fahrts­staat fast nie unter dem Gesichts­punkt der Freiheit disku­tiert, sondern nur im Sinne von Gerech­tig­keit, Gleich­heit oder gesundem Menschen­ver­stand. Tatsäch­lich aber lässt sich der Wohl­fahrts­staat am besten damit begründen, dass er die Voraus­set­zungen dafür schafft, dass wir freie Menschen werden können.

In anderen Worten: Ihr Verständnis von Freiheit, das Sie in ihrem Buch vertreten, kann als Korrektur der Fehler vorherr­schender Konzepte des Libe­ra­lismus gesehen werden, die eine Idee von Freiheit eintreten, ohne Soli­da­rität und inter­sub­jek­tive Begeg­nungen zu berücksichtigen.

Man kann nicht frei sein ohne andere Menschen. Die gesamte liberale Tradition, die von einem abstrakten mensch­li­chen Wesen ausgeht, kann daher nicht funk­tio­nieren. Ein sinn­voller Ausgangs­punkt ist die Geburt. Das Baby sollte frei sein, aber die Freiheit hängt von den Fähig­keiten ab, die das Baby nicht allein aufbringen kann. Auch die Menschen, die das Kind aufziehen und erziehen, brauchen Unter­stüt­zung. Mit anderen Worten: Um zur Indi­vi­dua­lität zu gelangen, braucht man kollek­tives Handeln. Das Wort „inter­sub­jektiv“ ist hier sehr passend, weil man ohne Inter­sub­jek­ti­vität nicht subjektiv werden kann. Man weiß nicht, wer man ist, wenn man anderen Menschen nicht zuhören kann. Und wenn du nicht weißt, wer du bist, dann wirst du definitiv nicht frei sein. Denn dann wirst du anfällig für Menschen sein, die deine Schwächen sehen.

In ihrem Gesamt­werk scheinen mir sowohl offene als auch eher implizite Vorstel­lungen von mensch­li­cher Hand­lungs­macht (agency) eine große Rolle zu spielen. In „Über Tyrannei“ zum Beispiel haben Sie diese der Idee einer „Politik der Ewigkeit“ und einer „Politik der Unver­meid­lich­keit“ gegen­über­ge­stellt. Auf welche Weise ist der Begriff der Hand­lungs­macht in ihren Vorstel­lungen von Freiheit eingebettet?

Er ist sehr wichtig, obwohl ich statt­dessen das Wort „Souve­rä­nität“ verwenden würde. Im ersten Kapitel meines Buches befasse ich mich mit den Struk­turen, die notwendig sind, um souveräne Menschen zu erziehen, das heißt Menschen, die frei sein können. Ein Neuge­bo­renes hat das Potenzial, ein handelnder Akteur (agent) zu werden, aber nur, wenn wir dieses Potenzial wert­schätzen und fördern. Wir können eine Vorstel­lung davon haben, was gut ist, und wir haben die Macht, zusammen mit anderen Menschen die Welt zu verändern. Dies zu leugnen, bedeutet, einen anderen Weg einzu­schlagen, eine Art poli­ti­sches Denken in Richtung Auto­ri­ta­rismus oder Faschismus.

Es stellt sich die Frage, wie wir unsere Hand­lungs­fä­hig­keit nutzen können. Nicht alles, was wie ein Hindernis aussieht, ist ein Hindernis. Wie gesagt: Im Verständnis der negativen Freiheit werden andere Menschen zu Barrieren. Aller­dings ermög­li­chen es uns nur andere Menschen, frei zu sein. Das bedeutet, wenn wir die Freiheit ernst nehmen, müssen wir Soli­da­rität zeigen. Und wenn wir Akteure (agents) sind, dann sind manche der Beschrän­kungen Werkzeuge. So ist Tanzen ohne Schwer­kraft nicht möglich. Zudem erweitert histo­ri­sches Wissen über die Welt und andere Menschen unseren Sinn für das Mögliche: einige Dinge sind möglich. Nicht alles, nicht nichts, aber doch einiges.

In der heutigen poli­ti­schen Kultur gibt es kaum Utopien oder überhaupt opti­mis­ti­sche Visionen für die Zukunft, sondern sehr viel nost­al­gi­sche Sehnsucht oder „Retro­topie“, um einen Begriff von Zygmunt Bauman zu verwenden, also den Glauben an eine gute Zukunft durch eine Hinwen­dung zu einer roman­ti­sierten Vergan­gen­heit. Warum ist das so?

Wenn es weder eine vorstell­bare Zukunft noch eine histo­ri­sche Vergan­gen­heit gibt, wird die Politik zu einer Schleife zurück zum Mythos – so wie bei Putin und Trump. Negative Freiheit löscht die Zukunft aus. Wenn das Problem immer im Außen liegt, immer die Barriere ist, dann muss ich nie fragen: Wer bin ich und wohin soll ich gehen? In der Praxis begüns­tigt die negative Freiheit die Ungleich­heit des Reichtums, was wiederum die Zukunft erstickt.

Einige wenige Menschen mono­po­li­sieren unsere gemein­same Zukunft mit dummen Ideen. So etwa die Idee, dass wir alle auf den Mars fliegen oder ewig leben werden. Negative Freiheit begüns­tigt die globale Erwärmung, die ohnehin das Gefühl erzeugt, dass die Zukunft auf eine sehr schlechte Art und Weise auf uns zukommt, weil offen­sicht­liche Lösungen, die Milli­arden von Menschen ein Überleben und ein Leben in Freiheit ermög­li­chen würden, als Verlet­zung der Rechte einer Handvoll von Kohlen­was­ser­stoff-Olig­ar­chen gelten.

Wie kann die Idee von einer positiven Freiheit konkret dazu beitragen, positive Visionen für eine bessere und demo­kra­ti­sche Zukunft zu entwi­ckeln und zu nähren?

Wer Freiheit als positive Freiheit versteht, stellt sich eine Zukunft vor, in der sehr viel möglich ist, und vieles davon ist gut. Wenn wir als freie Menschen denken, dann entstehen positive Rück­kopp­lungs­schleifen, in denen die Zukunft offener und weniger bedrängt erscheint. Wenn es uns gelingt, Kinder zu souve­ränen, hand­lungs­fä­higen Menschen zu erziehen, dann stärken sie als Erwach­sene die Freiheit. Wenn wir die sozialen Medien in den Griff bekommen und den Menschen mehr von ihrer Unbe­re­chen­bar­keit zurück­geben, können wir besser mitein­ander umgehen.

Wenn wir soziale Mobilität verspre­chen können, dann werden die Menschen besser in der Lage sein, an eine persön­liche Zukunft zu denken, und damit auch an eine nationale oder poli­ti­sche. Positive Freiheit bedeutet auch, die kleinen Wahr­heiten des Lokal­jour­na­lismus und die großen Wahr­heiten der Wissen­schaft zu kennen: nämlich, dass wir Probleme gemeinsam lösen können. Und Soli­da­rität als wichtiger Bestand­teil von positiver Freiheit setzt voraus, dass wir uns mit den Unter­schieden bei Wohlstand und Einkommen ausein­an­der­setzen. Das wiederum würde zahllose positive Auswir­kungen auf die Freiheit haben.

Timothy Snyder: Über Freiheit“ ist im September im C.H. Beck-Verlag erschienen.

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