Was Kabuls Fall für Israel bedeutet
Für den Freien Westen sind die Bilder aus Afghanistan verheerend. Für den ganzen Freien Westen? Für die kleine, liberale jüdische Demokratie Israel ist die Machtübernahme der Taliban gar nicht so schlecht, analysiert Richard C. Schneider.
Ist es gut für uns oder schlecht für uns? So «lesen» Juden seit Jahrhunderten politische Entwicklungen und Nachrichten, denn man musste und muss ja immer vorbereitet sein für den Fall der Fälle. Und so blickt im Augenblick auch Israel aufmerksam auf die Entwicklungen in Afghanistan. Was bedeutet das komplette Scheitern westlicher Politik am Hindukusch für den jüdischen Staat? Was die Machtübernahme der islamistischen Taliban? Welche Auswirkungen wird das alles auf den Nahen Osten haben?
USA global auf dem Rückzug
Die wohl wichtigste und nahe liegende Erkenntnis: die USA werden sich wohl auf sehr lange Zeit militärisch nicht mehr im Ausland involvieren, schon gar nicht mit eigenen Truppen «on the ground». Das ist jetzt nicht wirklich eine neue Erkenntnis. Spätestens 2013, als der damalige Präsident Barack Obama seine „Rote Linie“-Politik konterkarierte, wusste man im Nahen Osten: Die USA sind nur noch ein Papiertiger. Obama hatte erklärt, sollte Präsident Assad im syrischen Bürgerkrieg Massenvernichtungswaffen einsetzen, sei für die USA eine „rote Linie“ überschritten, man werde dann militärisch eingreifen. Im Sommer 2013 war es eigentlich soweit. Der Beweis für den Einsatz von chemischen Waffen lag vor, die US-Marine wurde in Richtung Libanon-Syrien geschickt. Doch im letzten Moment stoppte Obama den geplanten Angriff. Es geschah: nichts.
Israel muss alleine agieren können
Für Jerusalem ist die aktuelle Entwicklung in Afghanistan vor allem im Hinblick auf den Iran wichtig. Sollte es zu einem Krieg zwischen Iran und Israel kommen, könnte der jüdische Staat selbst in der Luft allein bleiben. Schon vor dem Fall von Kabul deutete sich an, dass die «Lust» auf einen eventuellen Luftschlag gegen iranische Nuklearanlagen bei den USA nicht sehr ausgeprägt ist. Israels Premier Naftali Bennett erklärte daher bereits vor rund drei Wochen, dass Israel notfalls auch allein zuschlagen werde (müssen).
Doch da ist noch mehr. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass Islamisten immer dann, wenn sie irgendwo eine Machtbasis haben, sich schnell mit internationalen Anschlägen zu Wort melden. Viele Beobachter befürchten, die Taliban könnten sich jetzt wieder mit Al-Kaida verbünden. Das würden den Westen, das würde Israel, aber auch den Iran betreffen. Denn die Taliban haben schon vor 20 Jahren dem Nachbar Iran das Leben im Grenzgebiet schwer gemacht. Die sunnitischen Fundamentalisten haben ihre politischen und religiösen Probleme mit dem schiitischen Regime in Teheran, nicht nur mit Christen und Juden. Israel wird möglicherweise aufgrund seiner geographischen Abgeschlossenheit im eigenen Land nicht unmittelbar mit Terroranschlägen von Al-Kaida oder anderen bedroht sein, eher über israelische Institutionen, Botschaften und Konsulate im Ausland.
Allianz zwischen Hamas und Taliban
Allerdings: die radikal-islamische Hamas in Gaza steht den Taliban seit jeher nahe, sie hatte mit als eine der ersten ausländischen Machthaber den Taliban zur Eroberung von Kabul gratuliert. Mit anderen Worten: Israel wird sich mit der verstärkten Zusammenarbeit von Islamisten auseinandersetzen müssen, so wie das ja schon im letzten Gaza-Krieg im Mai zu sehen war. Da hatten Hamas und Hezbollah im Libanon eine Art «Operationszentrum» eingerichtet, um gemeinsam zu erwägen, wann man wo wie und wann Israel mit Raketen überzieht. Hinzu kommt, dass viele kleinere und lokale Islamistengruppen im Nahen Osten sich vom Erfolg der Taliban ermutigt fühlen könnten und ihren jeweiligen Regierungen das Leben zur Hölle machen werden, da sie intensiver mit großen Terror-Organisationen zusammenarbeiten werden.
Israel füllt einen Teil des US-Machtvakuums im Nahen Osten
Das aber könnte sich auch als Chance für Israel erweisen. Die Zusammenarbeit mit den sogenannten «moderateren» arabischen Staaten dürfte sich vertiefen. Nicht nur, wie schon jetzt, gegen den Iran, sondern auch gegen sunnitische Islamisten. Die VAE, Bahrain, Marokko sind sowieso schon ziemlich eng mit Israel assoziiert, ebenso, wenn es um Fundamentalismus geht, Jordanien und natürlich Ägypten, das seit Jahren unter al-Sissi die radikalen Muslimbrüder brutal verfolgt und unterdrückt. Jetzt könnten auch Oman und sogar Saudi-Arabien deutlicher den Schulterschluss mit Israel suchen. Man hat nun gleich zwei gemeinsame Feinde.
Vor allem: Mit dem militärischen Rückzug der USA könnte Israel als stärkste Militärmacht des Nahen Ostens eine Art von «Schutzfunktion» für diese arabischen Staaten übernehmen. Gemeinsame militärische Aktionen könnten von israelischen Strategen und Generälen geplant und überwacht werden, Operationen in Kooperation oder sogar von Israel allein durchgeführt werden. Was wiederum ein Vorteil für die israelisch-amerikanischen Beziehungen werden könnte. Washington, selbst das Washington der Demokraten, dürfte unter den neuen Bedingungen rasch begreifen, dass man Israel als loyalsten und treuesten Verbündeten in einer Region braucht, in der man sich zwar selbst nicht mehr blicken lassen will, aber dennoch dafür Sorge tragen muss, dass das sprichwörtliche «Pulverfass» nicht komplett explodiert. Sollte es zu Terroranschlägen in Europa oder in den USA selbst kommen, werden Pentagon und CIA mehr denn je auf israelische Gheimdiensterkenntnisse angewiesen sein, wird man das Wissen und das Können der Israelis und der assoziierten arabischen Staaten wohl noch häufiger abrufen müssen als bislang schon. Muss sich der jüdische Staat also Sorgen machen angesichts der Entwicklungen in Kabul? Ja, auf alle Fälle. Aber im Augenblick scheint es, als ob die Israelis mit solchen Entwicklungen besser umgehen können als die naiveren Amerikaner und Europäer. Über den Nahen Osten machte und macht man sich in Jerusalem zumindest keine Illusionen. Anders als in Washington oder Berlin.
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