Polen: Robert Biedron will der PIS die Macht entreißen

Lukas Plewnia [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr und www.polen-heute.de

Der Stadt­prä­sident von Slupsk kehrt der Kommu­nal­po­litik den Rücken und gründet eine landes­weite Opposi­ti­ons­be­wegung. Die Bürger von Slupsk konnte Robert Biedron von sich überzeugen – obwohl er als Schwuler und Atheist bei den Natio­nal­kon­ser­va­tiven aneckt. Gelingt es Biedron bei den Parla­ments­wahlen im nächsten Jahr erneut, mit Reform­po­litik zu überzeugen, könnte er in Polen endlich die liberale Wende einleiten.

Am dritten und vierten September gab der zweiund­vier­zig­jährige Robert Biedroń in einem Facebook-Post und auf einer impro­vi­sierten Presse­kon­ferenz in Warschau seine politi­schen Zukunfts­pläne bekannt. Auf seine Entscheidung hatte man in Polen lange und mit großer Spannung gewartet. Biedroń kündigte die Gründung einer Sammlungs­be­wegung an und stellte in Aussicht, das aus ihr eine neue Opposi­ti­ons­partei hervor­gehen könnte, deren Ziel wäre, der rechts­na­tio­na­lis­ti­schen Regie­rungs­ko­alition um die Partei Recht und Gerech­tigkeit (PIS) bei den Parla­ments­wahlen im Herbst 2019 die Macht zu entreißen.

Biedron könnte auf einen günsti­geren Moment warten, könnte zunächst seine regionale Basis festigen. Doch Biedron prescht vor – warum? 

Unter dem Motto „ein anderes Polen, eine andere Politik ist möglich“ will Biedron in den kommenden Wochen und Monaten in dutzenden Städten und Orten Polens unterwegs sein, für sein Bündnis werben und im Dialog mit Bürgern ein Wahlpro­gramm erarbeiten. Eine Programm­kon­ferenz im Februar 2019 soll über das Papier entscheiden. Bis dahin sollen auch der Name der Bewegung und das Schat­ten­ka­binett für die kommenden Wahlkämpfe feststehen. Mit dem Sprung in die nationale Politik will Biedron auf eine erneute Kandi­datur als Stadt­prä­sident von Słupsk verzichten.

Sofort nach dieser Ankün­digung brandete eine heftige Diskussion auf. Neben Zustimmung, wurden auch Skepsis geäußert: Warum sollte einer der erfolg­reichsten links­al­ter­na­tiven Stadt­po­li­tiker Polens, dessen Wiederwahl so gut wie sicher war, seine Bühne vorzeitig verlassen? Sympa­thi­santen umtreibt die Sorge, dass Biedron über keinen organi­sa­to­ri­schen Unterbau und kein Perso­nen­ta­bleau für eine nationale Bewegung verfügt: Weder kann er sicher auf die zersplit­terte polnische Linke zählen, noch auf die politisch nicht organi­sierten Teilnehmer an den Protesten gegen die rechts­staatlich zweifel­haften Justiz­reform, auch nicht auf die Aktivisten der feminis­ti­schen Regen­schirm­pro­teste. Hinzu kommt, dass es in Gestalt der „Bürger­ko­alition“ bereits ein politi­sches Bündnis für liberale Kräfte gibt, die sich der PIS-Dominanz entgegenstellen.

Biedron könnte also auf einen günsti­geren Moment warten, könnte zunächst seine regionale Basis festigen. Doch Biedron prescht vor – warum?

Militante Rechte richten sich in Insti­tu­tionen ein

Vielleicht hat es schlicht mit der Ausnah­me­si­tuation zu tun, in der Polen sich befindet. Wenn es der PIS gelänge, die Wahlen in den nächsten Jahren zu gewinnen, würde sich der militante rechte Rand in den Insti­tu­tionen für viele Jahre einrichten. Polen würde in seiner Entwicklung zurück­ge­worfen, das Europäische Einigungswerk vielleicht unwie­der­bringlich beschädigt. Biedron dürfte sich seine Entscheidung nicht leicht­ge­macht haben. Es gibt eine Reihe biogra­phi­scher Erfah­rungen, die ihn getrieben haben könnten, die Heraus­for­derung anzunehmen.  Der langjährige LGBT-Aktivist, erfolg­reiche Parla­ments­ab­ge­ordnete, Tierschützer, beken­nende Homose­xuelle und erklärte Atheist hatte sich im November 2014 um das Amt des Stadt­prä­si­denten (Bürger­meister) in Słupsk beworben. Die 90.000 Einwohner zählende Stadt liegt in der polni­schen Woiwod­schaft Pommern, etwa 100 km von Danzig entfernt. Viele hielten es für unmöglich, dass er sich mit seiner Kandi­datur durch­setzen könnte. Doch Biedroń hatte Erfolg, weil er nicht nur seine Anhänger ansprach, sondern auch auf kommunale und regionale Politiker der PIS und Vertreter der Kirche zuging und ihnen sein  Konzept für eine erfolg­reiche Stadt­po­litik erläuterte. 

Portrait von Wolfgang Templin

Wolfgang Templin ist Publizist und war Bürger­rechtler in der DDR

Die meisten seiner Versprechen hielt er. Słupsk war eine der am höchsten verschul­deten Städte Polens, galt als Teil einer vernach­läs­sigten Region mit fehlender Infra­struktur und hohen sozialen Problemen. Biedroń senkte die Verschuldung durch die rigorose Senkung von Ausgaben und die Verbes­serung der Einnah­me­si­tuation. Er ließ sich die eigenen Bezüge um ein Drittel kürzen, senkte die Bezüge der Vorstände und Aufsichtsräte in den städti­schen Kommu­nal­be­trieben und die Zahl ihrer Mitglieder. Er sorgte für Indus­trie­an­sied­lungen. Revita­li­sierung von Grünflächen und Grünstreifen, ökolo­gische Busse und eine Moder­ni­sierung der Verkehrs­in­fra­struktur, Inves­ti­tionen in den Erhalt und die Rekon­struktion der histo­ri­schen Innen­stadt, eine Erwei­terung des Wohnungs­an­ge­botes und mehr Kita-Plätze ließen die Lebens­qua­lität der Stadt sprunghaft steigen. Die Arbeits­lo­sen­quote sank von elf Prozent im Jahre 2014 auf knapp vier Prozent 2018.

Biedron verknüpft Reform­pro­gramm mit Biografie

Eine ganze Reihe der sozialen und gesell­schaft­lichen Probleme, die Biedron als Stadt­prä­sident hartnäckig und erfolg­reich anging, hatte er selbst erlebt. Er wurde 1976 in der Nähe von Krosno, im südöst­lichen Vorkar­pa­tenland Polens geboren, einer tradi­tio­nellen Hochburg der Konser­va­tiven. In einer sehr offenen Schil­derung des eigenen Lebens, die als langer Inter­viewband unter dem Titel „Unter Strom“ (Pod Prąd) 2016 erschien, schildert er seine Erleb­nisse mit häuslicher Gewalt und Alkoho­lismus, seine Erfah­rungen der Ausgrenzung als Homose­xu­eller und die Jahre des wilden Kapita­lismus im Polen der Neunziger Jahre. Es ist diese Verknüpfung der eigenen Biografie mit einem politi­schen Reform­pro­gramm, das Biedron von anderen Politikern abhebt und seine Popula­rität stärkt, ihm aber auch unver­söhn­liche Gegner und Feinde beschert: Jede Woche versammelt sich auf dem Markt­platz von Słupsk eine Runde katho­li­scher Funda­men­ta­listen, welche für die Heilung des „Sodomiten“ beten.

So ungern Biedron sich program­ma­tisch festlegt, eine Reihe von Schwer­punkten wurden in seiner Arbeit im Justiz- und Menschen­rechts­aus­schuss als Parla­men­tarier und danach als Stadt­po­li­tiker deutlich. Sein langes Engagement für die postkom­mu­nis­tische SLD, von der er sich 2005 löste, die Nähe zur LGBT-Szene, den europäi­schen Grünen und der Grünen Polni­schen Partei, der er aller­dings nicht beitrat, prägen seine politi­schen Werte und Ziele. Wunsch­träumen eines linken funda­men­talen Systemumbaus, setzt er die Notwen­digkeit pragma­ti­scher Reform­po­litik entgegen, die Verbündete bis weit in die Mitte der Gesell­schaft sucht. Eine solche Reform­po­litik ist angewiesen auf einen handlungs- und inter­ven­ti­ons­fä­higen Staat, der weltan­schaulich neutral und kulturell tolerant ist.

Die markt­ra­di­kalen Tendenzen der bis 2015 regie­renden Bürger­plattform (PO) lehnt Biedron ab. Der damalige Minis­ter­prä­sident Donald Tusk erklärt seinerzeit, er sei kein Visionär und leite den Staat wie eine Firma. Notwendige Reformen der Sozial­systeme und des Gesund­heits­wesens blieben auf der Strecke, was die PIS für ihren General­an­griff auf die liberale Gesell­schaft nutzte.

Opposition strebt in die politische Mitte

Anders als die Linke grenzt sich Biedron nicht von der politi­schen Mitte ab.  Er scheut sich nicht, von einem modernen Patrio­tismus zu sprechen, den er dem geschichts­po­li­tisch aufge­la­denen pathe­ti­schen Patrio­tismus der PIS-Kräfte entge­gen­setzt. Danach gefragt, auf welche Tradi­tionen sich ein solcher Patrio­tismus stützen könne, verweist er auf die sozia­lis­ti­schen und liberalen Gründer­mütter und –Väter der im November 1918 gegrün­deten Zweiten Polni­schen Republik, die sich für die Unabhän­gigkeit, den sozialen Ausgleich und das Frauen­wahl­recht einsetzte. Biedron nennt außerdem die polnische Arbei­ter­tra­di­tionen, die in die Aufbau­jahre Volks­polens hinein­reichen und deren man sich nicht zu schämen brauche. Seiner Ansicht nach müsse man deutlich machen, welche Geschichte man im modernen Polen erzählen wolle, wenn es um die Vergan­genheit geht.

Am 21.Oktober 2018 finden die Wahlen zu den Organen der polni­schen Selbst­ver­waltung in Gemeinden, Städten, Kreisen und Regionen statt. Sie eröffnen einen Wahlma­rathon, der über die politische Zukunft Polens entscheiden wird. Im Mai 2019 folgen die Europa­wahlen, im Herbst 2019 die Parla­ments­wahlen und im Frühjahr 2020 wird der künftige polnische Staats­prä­sident gewählt.

Spätestens vor den Europa­wahlen im nächsten Mai wird sich die Sammlungs­be­wegung bewähren müssen. Mit seinem Realismus könnte Biedron als progressive Kraft links von der Mitte und zugleich weit in diese Mitte hinein­rei­chend genügend Unter­stützung gewinnen, um in allen folgenden Wahlkämpfen eine wichtige Rolle zu spielen.

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