Ausnah­me­zu­stand – Notizen zur Corona-Krise

Weshalb wir aus der Not der Corona-Epidemie keine ökolo­gische Tugend machen sollten.

Wir erleben eine Situation, die für meine Generation – die Nachkriegs­kinder – und die folgenden Jahrgänge unbekannt ist: eine drama­tische Unter­bre­chung aller Routinen, eine weitge­hende Still­legung des gesell­schaft­lichen Lebens und eine aufkei­mende Furcht, dass unser Gesund­heits­system unter der Last einer galop­pie­renden Epidemie kolla­bieren könnte. Bis heute haben wir es für selbst­ver­ständlich gehalten, dass jede/​r Kranke eine angemessene Behandlung finden wird. Dass Inten­siv­sta­tionen aus den Nähten platzen und keine hinrei­chende Zahl von Beatmungs­ge­räten verfügbar sein könnte, kam in unserer Vorstel­lungswelt nicht vor. Die Phantasie, mit hohem Fieber und Atemnot auf dem Flur einer überfüllten Klinik zu landen, ist der Horror. Bisher dachten wir: Das mag Alltag in Entwick­lungs­ländern sein, vielleicht auch in Russland, aber doch nicht bei uns! Vielleicht haben wir viele Errun­gen­schaften des modernen Sozial­staats für zu selbst­ver­ständlich genommen – jetzt entdecken wir, wie elementar sie für eine zivile Gesell­schaft sind. Es rächt sich, wenn wir Kliniken und andere öffent­liche Einrich­tungen finan­ziell und personell zur Ader lassen.

Wer konnte sich vorstellen, dass eine Landes­re­gierung verbietet, seine Angehö­rigen im Altersheim zu besuchen? Dass Großeltern abgeraten wird, ihre Enkel zu betreuen? Dass jede Verab­redung zu einem Risiko wird, das man besser bleiben lässt? „Social Distancing“, der maximale Abstand zwischen Individuen, ist eine brutale Angele­genheit. Sie macht uns zu Monaden. Sie führt nicht nur zur Schließung von Theatern und leeren Restau­rants, sie trennt uns in einer Zeit, in der wir doch auf Nähe, Austausch, Freund­schaft stärker angewiesen sind als je.

Gleich­zeitig haben längst nicht alle das Privileg, alle Verpflich­tungen zu streichen und sich in die Quarantäne der eigenen vier Wände zurück­ziehen zu können. Es gibt Millionen und Abermil­lionen Leute, die kein „Homeoffice“ prakti­zieren können. Sie müssen weiter arbeiten gehen, weil ohne sie die Gesell­schaft zusam­men­brechen würde: Ärzte und Kranken­schwestern, Alten­pfleger, Polizisten, Bauern, Eisen­bahner, Feuer­wehr­leute, Liefer­wa­gen­fahrer, Kraft­werks­tech­niker. Plötzlich wird die Verkäu­ferin im Super­markt wichtiger für die Aufrecht­erhaltung der Zivili­sation als der Steuer­be­rater oder die Hochschul­leh­rerin. Die Unent­behr­lichen sind zugleich die eher schlecht bezahlten. Da stimmt etwas nicht.

Auch die Indus­trie­ar­beiter fragt niemand, ob sie nicht lieber von zuhause arbeiten wollen. Solange es irgend geht, müssen sie weiter antreten, damit die Wertschöp­fungs­kette nicht vollends zerreißt. Wir rutschen ohnehin schon in eine Weltwirt­schafts­krise mit unabseh­baren Folgen für das Finanz­system, die Beschäf­tigung und die Sozial­kassen. Die schwarze Null war gestern. Aber wie soll Deficit Spending funktio­nieren, wenn den Konsu­menten gleich­zeitig empfohlen wird, die Geschäfte zu meiden oder alles außer Super­märkten und Apotheken ganz geschlossen wird, von Urlaubs­reisen ganz zu schweigen?
Und wie soll das Abbrechen von Liefer- und Handels­ketten in einer weltweit vernetzten Ökonomie kompen­siert werden? Der Rückzug in die nationale Isolier­station mag geboten sein, um die Pandemie einzu­dämmen. Ökono­misch sind die Folgen fatal.

Aus der Not keine ökolo­gische Tugend machen

Es soll tatsächlich Leute geben, die das Corona-Notstands­regime als Modell für die Klima­po­litik empfehlen: Deglo­ba­li­sierung, Einstellung des Luftver­kehrs, drastische Einschränkung des Konsums, weshalb nicht auch die Schließung von besonders CO2-inten­siven Betrieben? China hat schließlich auch zahlreiche Fabriken im Zuge der Corona-Krise still­gelegt. Angesichts der Epidemie sind wir bereit, uns selbst einzu­schränken und massive staat­liche Eingriffe in unseren Alltag hinzu­nehmen – weshalb nicht auch angesichts des Klima­wandels? Solche Phantasien von einem ökolo­gi­schen Notstands­regime sind nicht nur zutiefst autoritär. Die Analogie zwischen Corona-Krise und Klima­wandel ist auch in der Sache unhaltbar. Eine Viren­epi­demie ist monokausal. Dagegen ist der Klima­wandel eine hoch komplexe Angele­genheit. Er speist sich aus vielen Quellen: Energie­pro­duktion und Verkehr, Landwirt­schaft und Industrie, Wohnen und Städtebau. Zu glauben, er ließe sich durch einige grobe ordnungs­recht­liche Eingriffe aufhalten, ist besten­falls naiv.

Dazu kommt ein völlig unter­schied­licher Zeitho­rizont: Die Einschrän­kungen zur Bekämpfung der Virus-Epidemie sind temporär. Wir akzep­tieren sie in der Hoffnung auf Rückkehr zur Norma­lität des modernen Lebens. Angewandt auf den Klima­wandel müssten sie auf Dauer gestellt werden: nicht für Monate, sondern für immer. Wer das als mehrheits­fähige Vision verkaufen will, ist nicht von dieser Welt.

Kurzfristig reduziert der Rückgang wirtschaft­licher Aktivität und die Unter­bre­chung des Reise­ver­kehrs die CO2-Emissionen. Aller­dings bei weitem nicht in dem Ausmaß, das nötig wäre, um den Klima­wandel zu stoppen. Eine Reduktion auf Null ist durch die Senkung von Produktion und Konsum schlicht unmöglich, es sei denn, man wollte die Weltbe­völ­kerung drastisch dezimieren und ihren Lebens­standard auf vorin­dus­tri­elles Niveau senken.

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Um den Klima­wandel zu stoppen, brauchen wir ein Mehr an Innova­tionen und höhere Inves­ti­tionen zur Erneuerung des Produk­ti­ons­ap­parats, des Energie­systems und des Verkehrs. Eine Virus-Epidemie erfordert Still­legung, die ökolo­gische Trans­for­mation der Indus­trie­ge­sell­schaft hingegen eine Dynami­sierung des Wandels. Wenn das öffent­liche Leben erstirbt und die Wirtschaft schrumpft, bleibt auch der ökolo­gische Fortschritt auf der Strecke. Wir sollten uns hüten, aus der Not einer Pandemie eine ökolo­gische Tugend zu machen.

Textende

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