Histo­ri­sches Gedenken auf dem Weg der Versöhnung

By Edward N. Jackson (US Army Signal Corps) (U.S. Signal Corps photo) [Public domain], via Wikimedia Commons

100 Jahre Unabhän­gigkeit Polens – eine gedenk­po­li­tische Heraus­for­derung.

Die Geschichte sollte ein Tor in die Zukunft sein. Was wollen wir als Symbole für die Zukunft wählen…?
Jan Józef Lipski
(Zwei Vater­länder – zwei Patrio­tismen) – 1981 

Im November 2018 wird Polen – wie manch anderer Staat in Europa – den 100. Jahrestag seiner Unabhän­gigkeit begehen. Im Gefolge des Ersten Weltkrieges errang Polen erstmals nach der 3. Teilung im Jahr 1795 wieder seine Staat­lichkeit zurück. Die kaiser­lichen Teilungs­mächte Russland, das Habsburger und das Deutsche Reich zerfielen, hatten verloren oder waren – wie das russische Reich – mitten im Bürger­krieg. Während des Weltkrieges hatten Polen jeweils in den Armeen dieser Teilungs­mächte gekämpft – gegen­ein­ander. Nun aber wurde Polen von den Sieger­mächten in Paris als neuer Natio­nal­staat anerkannt, wenn auch anfangs noch ohne Verfassung und klare Grenzen. Grund­le­gende Fragen waren zwischen den beiden führenden Persön­lich­keiten und den von ihnen geführten politi­schen Kräften lange umstritten gewesen und blieben es lange. Roman Dmowski, Führer der natio­na­lis­ti­schen Rechten, der „Natio­nal­de­mo­kraten“ hatte sich gegen die Deutschen gestellt und war eher dem zaris­ti­schen Russland zugeneigt. Józef Pilsudski dagegen war Führer der Sozia­lis­ti­schen Partei gewesen, hatte seit 1910 parami­li­tä­rische Organi­sa­tionen aufgebaut, die den bewaff­neten Kampf gegen Russland vorbe­rei­teten und im Weltkrieg an der Seite der Habsburger kämpften. Während Dmowski seit 1917 mit dem „Polni­schen Natio­nal­ko­mitee“ in Paris gegenüber den Alliierten die polnische Sache vertrat, kämpfte Pilsudski nach der Staats­gründung gegen die Nachbarn in verschie­denen kriege­ri­schen Konflikten um die polni­schen Grenzen – und schuf Tatsachen. So kamen Lemberg und Ostga­lizien unter polnische Kontrolle, ebenso das Wilnaer Gebiet und schließlich blieb auch nach dem Konflikt mit der Tsche­cho­slo­wakei ein Teil des Teschener Gebiets bei Polen (der andere wurde dann 1938 besetzt, als die Tsche­cho­slo­wakei durch das Münchener Abkommen unter Druck gekommen war). Die wichtigsten und schwie­rigsten Kämpfe aber wurden mit der Roten Armee ausge­tragen, die Polen in eine Sowjet­re­publik verwandeln wollte. In der Schlacht bei Warschau 1920 gelang es Pilsudski in heikler militä­ri­scher Lage überra­schend, im „Wunder an der Weichsel“ die Rote Armee zu schlagen und die Bolschewiki damit weit nach Osten abzudrängen.

Mit dem „Frieden von Riga“ 1921 waren die Grenzen Polens dann im Wesent­lichen abgesteckt. Die siegreichen Alliierten hatten die Grenzen Polens zu Deutschland bestimmt und Polen im sogenannten Korridor einen Zugang zur Ostsee geschaffen. Zum Osten hin aber waren die Grenzen nicht wie im Westen in Paris von den Alliierten, sondern durch eigene militä­rische Kraft festgelegt worden, was Józef Pilsudski zum mächtigsten Führer werden ließ und seinen Ruf als Staats­gründer bis heute ausmacht. Für den Westen aber hatte sich Polen als erfolg­reiches Bollwerk gegen die Bolschewiki und den Kommu­nismus erwiesen.

Polen war nun ein europäi­scher Natio­nal­staat und als parla­men­ta­rische Demokratie gegründet. Doch waren von den 27 Mill. Einwohnern nur 19 Mill. Polen, die anderen waren Ukrainer, Belarussen, Deutsche, Litauer und Tschechen – dazu kamen etwa 3 Mill. Juden. Während letztere dem polni­schen Staat gegenüber in hohem Maße loyal waren, kann man dies von den anderen Minder­heiten nicht behaupten, da sie sich den jewei­ligen Nachbarn, ihren „Mutter­ländern“ besonders verbunden fühlten. Das erschwerte die innen­po­li­tische und gesell­schaft­liche Situation des jungen Staates, zumal die politische Stimmung in den benach­barten Staaten wie Deutschland auch nicht gerade stabil war. Die Nachkriegs­ordnung war hier schwer umstritten, der Versailler Vertrag wurde weithin abgelehnt und das „Heimholen verlo­rener Volks­gruppen und Gebiete“ gehörte zur politi­schen Zielstellung wichtiger gesell­schaft­licher Gruppen und Parteien.

Das Ende des Ersten Weltkrieges führte nicht nur zum Wieder­erstehen Polens, sondern zur Gründung einer ganzen Reihe neuer Natio­nal­staaten. Die von den europäi­schen Fürsten­ge­schlechtern geführten Reiche brachen zusammen, dazu das Osmanische Reich – und aus ihrer Verfü­gungs­masse entstanden mehr als zehn neue Natio­nal­staaten, die meisten von ihnen als parla­men­ta­rische Demokratien. Europa erhielt ein neues Gesicht und musste sich neu (er)finden.

Im Jahr 1917 waren die USA in den Weltkrieg einge­treten und Präsident Wilson hatte Demokratie und Selbst­be­stimmung für Europa als Kriegs­ziele benannt. Mit der sogenannten Oktober­re­vo­lution in Russland und der Macht­über­nahme der Bolschewiki war die erste totalitäre Diktatur des Kommu­nismus errichtet worden – mit dem Willen, sich auf ganz Europa auszu­breiten. Europa steht nunmehr seit einhundert Jahren vor diesen Alter­na­tiven: Demokratie oder totalitäre Diktatur. Letztere zeigte sich als Kommu­nismus, wenig später auf der anderen Seite des politi­schen Spektrums in Italien als Faschismus, dann in Deutschland als Natio­nal­so­zia­lismus. In den meisten europäi­schen Ländern gab es gesell­schaft­liche Gruppen, die sich diesen verbunden fühlten. Die kommu­nis­ti­schen Parteien den Bolschewiki, doch war ein radikaler und oft antise­mi­ti­scher Natio­na­lismus, der sich gegen Minder­heiten und alles Fremde wandte, ebenfalls weit verbreitet.

In Paris waren die siegreichen Westmächte seit dem Kriegsende dabei, ihre Ordnungs­vor­stel­lungen unter­ein­ander auszu­handeln und in den verschie­denen „Pariser Vorort­ver­trägen“ umzusetzen. Polen hatte unter ihnen einen guten Stand – es gab vonseiten der Alliierten schon länger die Zusage, Polen wieder­erstehen zu lassen und ihm Zugang zur Ostsee zu verschaffen. Die früheren Teilungs­mächte saßen nicht mit am Tisch, die Hohen­zollern und die Habsburger hatten den Krieg verloren und abgedankt, ebenso wie der Zar kurz zuvor. Russland hatte zwar zu den Alliierten gehört, wurde aber nun von den Bolschewiki regiert und deshalb nicht nach Paris einge­laden. Polen wurde gewis­ser­maßen zum Cordon Sanitaire gegenüber dem kommu­nis­ti­schen Russland, wofür es spätestens nach der siegreichen Schlacht vor Warschau geschätzt wurde. Selbst da, wo man die Bevöl­kerung abstimmen ließ wie im Falle Oberschle­siens, folgte man entgegen der eigenen Erklärung nicht dem Ergebnis der Abstimmung, sondern dem polni­schen Interesse an dieser wichtigen Indus­trie­region. Solche Entschei­dungen wurden von vielen in ganz Europa nicht unbedingt als gerecht empfunden, galten aber faktisch. Polen und Rumänien, aber auch die Tsche­cho­slo­wakei konnten sich als Gewinner verstehen. Deutschland verlor dagegen nicht nur Elsass-Lothringen und die Polen zugespro­chenen Gebiete sowie die Kolonien, was wohl weitge­hende Akzeptanz gefunden hätte, ihm wurde auch die volle Kriegs­schuld angelastet, was als unzutreffend angesehen wurde und zu viel Verbit­terung führte. Noch schwerer traf es den ungari­schen Staat. Er verlor etwa zwei Drittel seines Terri­to­riums und mehr als 70% seiner Bevöl­kerung, schrumpfte also auf ein Drittel des ungari­schen Teils der Doppel­mon­archie. Die Nachbar­länder bekamen auch solche Terri­torien zugesprochen, in denen Ungarn die Mehrheit bildeten.

Insbe­sondere Präsident Wilson sah es als seine Berufung an, dass in den Nachkriegs­staaten Europas und bei den neuen Staats­grün­dungen Demokratien entstehen. Er war eine wichtige, ja, die treibende Kraft, die zu Kriegsende für das Abdanken der alten Monar­chien eintrat. In den neu geschaf­fenen Natio­nal­staaten übernahmen – meist nach heftigen inneren Kämpfen – neue demokra­tische Kräfte die Regie­rungs­gewalt, zumeist solche, die vielfach schon gegen die militanten monar­chi­schen Mächte für den Frieden einge­treten waren, wie in Deutschland die Sozial­de­mo­kraten. Es wurde zu einer großen Belastung für die künftige Entwicklung, dass auch diese, nach Wahlen von Demokraten geführten Regie­rungen von den siegreichen Alliierten nicht nach Paris zu den Friedens­ver­hand­lungen einge­laden wurden. Man legte auch ihnen alter­na­tivlose Friedens­ver­träge vor, als wären sie die Verant­wort­lichen für Krieg und Krieg­führung gewesen.

Nicht nur von Deutschland muss wohl gesagt werden, dass dieses Verhalten der Sieger­mächte auch seinen Teil dazu beigetragen hat, die junge Demokratie zu schwächen. Die Parteien, welche in Deutschland die Weimarer Republik trugen, standen in den Jahren nach dem Krieg von beiden Seiten stark unter Druck. Einer­seits wurden sie von natio­na­lis­ti­schen und reaktio­nären Kräften bekämpft, die nach der Niederlage im Weltkrieg nach Revanche riefen und die Verluste rückgängig machen wollten. Die Feinde der Demokratie kamen anderer­seits von links, von der zu Kriegsende neu gegrün­deten Kommu­nis­ti­schen Partei, welche die parla­men­ta­rische Demokratie überwinden wollte und eine Revolution nach dem Muster der Bolschewiki anstrebte – aus der Ferne auch von diesen unter­stützt. Doch nicht nur diese – im Laufe der Jahre erstar­kenden – Extreme standen der Demokratie feindlich gegenüber. Ein hoher Anteil der Bevöl­kerung machte nicht etwa die milita­ris­ti­schen Kräfte um Hindenburg und Luden­dorff für die Misere der Nachkriegszeit verant­wortlich, sondern die neuen demokra­ti­schen Kräfte, welche nun an der Spitze der Weimarer Republik standen. Natürlich waren es sehr verschiedene Faktoren, die den Aufstieg Hitlers und seiner Partei begüns­tigten, nicht zuletzt die Weltwirt­schafts­krise und ihre harten sozialen Folgen. Aber: ob es Hitler im Laufe der Jahre auch ohne die demüti­genden Regelungen des Versailler Vertrages gelungen wäre, solche Zustimmung unter den Deutschen aller gesell­schaft­lichen Schichten zu finden, wie es ihm schließlich gelang, sei dahingestellt.

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die politi­schen Entwick­lungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg im Einzelnen nachzu­zeichnen. Am Schluss dieses Artikels komme ich gleichwohl noch einmal auf die Heraus­for­derung zurück, welche mit dem Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges nicht nur für Polen, sondern für Europa (und darüber hinaus) verbunden ist.

Auf zwei Dimen­sionen aber möchte ich hier doch aufmerksam machen:

  1. In Westeuropa, insbe­sondere in Frank­reich und Großbri­tannien, ist die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg sehr viel stärker in der Öffent­lichkeit verankert, als dies in Deutschland der Fall ist. Diese ist jedoch jeweils sehr national geprägt und hat diesen Krieg als Weltkrieg nicht wirklich im Blick. Der Krieg östlich Deutsch­lands, der eben kein Stellungs­krieg war, sondern sich im Hin und Her des Kriegs­glücks über einen weiten Raum erstreckte und nicht weniger Opfer forderte als im Westen, ist nicht wirklich im öffent­lichen Bewusstsein verankert. Während im Westen (außer Irland) mit dem Waffen­still­stand am 11. November 1918 der Krieg auch faktisch zu Ende war, war dies im Osten mitnichten der Fall. Hier ging die Gewalt­orgie in zwischen­staat­lichen Konflikten, aber mehr noch in Bürger­kriegen und Revolu­tionen weiter und kostete in den darauf­fol­genden fünf Jahren noch Millionen Tote. Gleich­zeitig ist die Erinnerung an die Toten des Weltkriegs ebenso wie vielfach auch an die der Bürger­kriege im Osten Europas auch in diesen Ländern selbst weitgehend verlo­ren­ge­gangen. In kommu­nis­ti­scher Geschichts­deutung galt der Erste Weltkrieg als imperia­lis­ti­scher Krieg, der den Boden bereitet hat für die Oktober­re­vo­lution. In Polen hat dieser Krieg gewis­ser­maßen ein positives Image, er gilt als die Ermög­li­chung der Wieder­geburt als Staat. Die in den drei feind­lichen Armeen kämpfenden und gefal­lenen Polen fanden keinen Eingang in ein öffent­liches Gedenken. Einzig da, wo die Kämpfe als Abwehr gegen die Bolschewiki und als Kampf für die eigene Unabhän­gigkeit angesehen werden konnten – wie bei der Schlacht an der Weichsel oder für die Ukraine bei den Kämpfen um Kiew, wird heute, nach 1990, eine neues natio­nales Gedenken etabliert.
  2. Nicht nur Deutschland wurde 1918 mit der Weimarer Republik zu einer parla­men­ta­ri­schen Demokratie, auch Polen und die meisten anderen neu gegrün­deten Staaten begannen ihre Unabhän­gigkeit als Demokratien. Doch währten diese nicht lange. Die Tsche­cho­slo­wakei war schließlich (neben Finnland im Norden) in den 30er Jahren im Zentrum Europas zu einer demokra­ti­schen Insel geworden. Wie andere wurde auch Polen zu einem semi-autoritär geführten Staat. Diese Entwicklung im europäi­schen Vergleich genauer zu betrachten und nach den Ursachen und tieferen Zusam­men­hängen zu fragen, erscheint mir wichtig und lehrreich. Dies gilt in beson­derem Maße angesichts des Akzep­tanz­ver­lustes der Demokratie, wie wir es heute in Europa wieder erleben, sowohl in älteren wie auch jüngeren Demokratien.

Besonders verhee­rende Folgen für ganz Europa hatte das Scheitern der Demokratie in Deutschland und die Macht­über­nahme durch Adolf Hitler. Die Ideologie des Natio­nal­so­zia­lismus war eben nicht nur ein überstei­gerter Natio­na­lismus, sondern bestimmt durch einen aggres­siven Rassismus, Antise­mi­tismus und die grund­le­gende Bestreitung aller durch Chris­tentum, römisches Recht und Aufklärung geprägten europäi­schen Werte. Der vom natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschland entfes­selte Zweite Weltkrieg wurde als „barba­ri­scher Zivili­sa­ti­ons­bruch“ (Ernst Nolte) zur europäi­schen Katastrophe des 20. Jahrhun­derts. Er begann nach dem Hitler-Stalin-Pakt mit dem deutschen Überfall auf Polen, getragen von dem Plan, im Osten Lebensraum für Deutsche zu schaffen, große Teile der dortigen Bevöl­kerung und insbe­sondere deren Eliten auszu­rotten und die Überle­benden zu versklaven. Schon kurz nach seiner Macht­über­nahme 1933 hatte Hitler der Führung der Reichswehr, die ab 1935 in Wehrmacht umbenannt wurde, seine Zukunfts­pläne vorge­tragen: „Eroberung neuen Lebens­raumes im Osten und dessen rücksichtslose Germa­ni­sierung“. Polen wurde das erste Opfer eines gnaden­losen Vernich­tungs­krieges, durch Krieg und brutale Besatzung verlor es 15 % seiner Bevöl­kerung und wurde zudem Schau­platz der indus­tri­ellen Vernichtung der europäi­schen Juden in Auschwitz, Treblinka und Majdanek.

Stalin und Hitler hatten sich 1939 durch ihren Pakt Zeit verschafft zur Verfolgung ihrer jewei­ligen Inter­essen. Die Rote Armee rückte am 17. September 1939 von Osten her in Polen ein. Polen verschwand damit wieder durch die Teilung seiner mächtigen Nachbarn im Westen und Osten von der Landkarte. Fast 40 000 polnische Soldaten wurden in sowje­tische Lager depor­tiert, mehr als 22 000 Offiziere wurden dann umgebracht, 4400 von ihnen in Katyn bei Smolensk, das zum Symbol für diesen zynischen Massenmord wurde.

Die polnische Regierung ging zunächst nach Paris, dann nach London ins Exil, im Land selbst kämpften Polen in der „Heimat­armee“ (Armia Krajova) für die Befreiung ihres Landes. Dieser Kampf kulmi­nierte im Warschauer Aufstand im August 1944. Da Stalin nicht wollte, dass Polen sich selbst befreite, ließ er die Rote Armee, die schon am Ostufer der Weichsel stand, ausharren, bis die Deutschen den Aufstand nieder­ge­worfen und Warschau dem Erdboden gleich­ge­macht hatten.

Nach dem Bruch des Paktes durch Hitler und dem Überfall auf die Sowjet­union hatte Stalin die polni­schen Soldaten und Offiziere aus den Lagern entlassen. Die befreiten polni­schen Kriegs­ge­fan­genen wurden in die nach General Anders benannte Armee rekru­tiert. Als man sich mit Stalin nicht einigen konnte, zog diese über Persien und Palästina nach Westen und schloss sich der Briti­schen Armee an. In der Schlacht von Monte Casino spielten die polni­schen Kämpfer dann eine wichtige Rolle bei der Eroberung des Kloster­berges, was für die polnische Erinne­rungs­kultur bis heute eine zentrale Bedeutung hat. Bei der Landung der westlichen Alliierten in der Normandie im Juni 1944 waren Polen die viert­größten Truppen­steller. Polen kämpften aber auch an der Seite der Roten Armee als polnische Divisionen und im Unter­grund (Armia Ludowa). So waren polnische Soldaten auch an der Befreiung des KZ Sachsen­hausen beteiligt. Noch Anfang der 90er Jahre erzählte mir der Schrift­steller Andrzej Szczy­pi­orski, dass er als junger Mann und Häftling dort von polni­schen Soldaten befreit wurde.

Deshalb muss festge­halten werden, was in Deutschland oft nicht bewusst ist: Polen gehörte als Teil der (verschie­denen!) alliierten Streit­kräfte faktisch mit zu den Nationen, die Deutschland vom Natio­nal­so­zia­lismus befreiten. Genau dies aber anzuer­kennen wollte Stalin verhindern. Polen geriet nach dem Krieg und der deutschen Teilung gemeinsam mit dem östlichen Teil Deutsch­lands, der Sowje­ti­schen Besat­zungszone und späteren DDR, in den sowje­tisch dominierten Herrschafts­be­reich Europas – und wurde zur Volksrepublik.

Das Terri­torium Polens aber wurde nach Westen verschoben. Stalin wollte den im Hitler-Stalin-Pakt erwor­benen Gebiets­gewinn nicht verlieren, Polen wurde dafür mit den deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße entschädigt. Die Folge waren vielfältige Vertrei­bungen von Millionen von Menschen, zum einen die der großen Mehrheit der Deutschen aus den verlo­renen deutschen Gebieten, aber auch der Polen aus den nun sowje­ti­schen in Belarus und der Ukraine.

Die gerade gegründete DDR erkannte 1950 im Görlitzer Vertrag die neue polnische Westgrenze an. Als Satel­li­ten­staaten der Sowjet­union waren die Volks­re­publik Polen und die DDR plötzlich formelle Bruder­staaten. In der DDR regierten deutsche Kommu­nisten, die im Wider­stand gegen Hitler gewesen waren. So weigerte sich die DDR-Führung, irgendeine Verant­wortung für die Verbrechen des Natio­nal­so­zia­lismus zu übernehmen, man verstand sich ja als antifa­schis­ti­scher Staat. Das Verhältnis zwischen beiden sozia­lis­ti­schen Staaten wurde schlicht auf Freund­schafts­status umgeschaltet. Eine gesell­schaft­liche Aufar­beitung des Natio­nal­so­zia­lismus gab es in der DDR nicht. Nur in den Kirchen fand eine solche kritische Ausein­an­der­setzung mit der eigenen Geschichte statt, viel später auch innerhalb der Opposition in der DDR.

Im Westen Deutsch­lands brauchte es lange, bis die Öffent­lichkeit sich offen mit der eigenen Schuld und Verant­wortung befasste. Als die Evange­li­schen Kirchen sich im Oktober 1945 im sogenannten „Stutt­garter Schuld­be­kenntnis“ zu Schuld und Versagen bekannten, wurde ihnen von vielen Seiten Vater­lands­verrat vorge­worfen. Die Nürnberger Prozesse, in welchen die Alliierten wichtige NS-Verbrecher vor Gericht stellten und verur­teilten, wurden von der Mehrheit der Deutschen als Sieger­justiz verun­glimpft. Die Regierung Adenauer entließ viele der verur­teilten Nazis aus den Gefäng­nissen und die meisten fanden sogar wieder zurück in deutsche Verwal­tungen und Behörden. Es war ein weiter Weg, von mutigen Einzelnen und kleinen Minder­heiten in der Gesell­schaft voran­ge­trieben, bis eine gesell­schaft­liche Aufar­beitung der deutschen Verbrechen und der eigenen Schuld begann. Knapp zwei Jahrzehnte brauchte es, bis gegen viel Wider­stand in der Bundes­re­publik der erste Ausch­witz­prozess stattfand.

Von großer Bedeutung war dann die sogenannte Ostdenk­schrift der Evange­li­schen Kirchen im Oktober 1965, welche für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze warb. Ihr wurde vonseiten der Bundes­re­gierung wie der Vertrie­be­nen­ver­bände mit Stürmen der Entrüstung begegnet. Auch durch diese Denkschrift ermutigt, veröf­fent­lichten wenige Wochen später die polni­schen Bischöfe einen Brief an ihre deutschen Amtskol­legen, mit dem sie diese zur 1000-Jahrfeier der Kirche nach Polen einluden. Dieser Brief gipfelte in dem Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung!“ Auch diese Geste führte zu heftigen Anfein­dungen der polni­schen Regierung und manchem Unver­ständnis in der Gesell­schaft. Beide Initia­tiven aber wurden zum Ausgangs­punkt eines Versöh­nungs­pro­zesses zwischen Polen und Deutschland, der seines­gleichen sucht. Wichtig war an ihnen, dass sie öffent­liche Prozesse in Gang setzen, aber nicht von den Regie­rungen getragen waren. So gelang es, dass nicht zuerst die kommu­nis­tische Regierung Polens im Focus stand, sondern die polnische Gesell­schaft – die Menschen, die unend­liche, von Deutschen begangene Grauen zu verar­beiten hatten.

Die 1969 gewählte sozial­li­berale Bundes­re­gierung Willy Brandts wollte „mehr Demokratie wagen“ und die Bezie­hungen zu den östlichen Nachbarn neu gestalten. „Wandel durch Annäherung“ war die neue Formel der Ostpo­litik, zu der auch der Vertrag mit Polen vom Dezember 1970 gehörte. Am Tag der Unter­zeichnung dieses Vertrages kniete Willy Brandt vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau. Mit diesem Kniefall erreichte der vorher gesell­schaftlich begonnene Versöh­nungs­prozess auch das Regie­rungs­handeln. Im Laufe der Jahre verbes­serten sich die staat­lichen Bezie­hungen, sie verloren ihre trauma­ti­schen Spannungen und begannen sich – nicht zuletzt wirtschaftlich – zu norma­li­sieren. Durch Famili­en­zu­sam­men­führung konnten viele Deutsche aus Polen in die Bundes­re­publik kommen.

Als 1980 die Gewerk­schaft „Solidarnosc“ gegründet und anerkannt wurde, war nicht nur die kleine Opposition in der DDR begeistert. Eine Welle der Sympathie ging durch beide deutschen Gesell­schaften. Die SED reagierte daraufhin mit dem Schließen der Grenzen für DDR-Bürger. Der Bazillus der Solidarnosc sollte nicht in die DDR überspringen. In der Bundes­re­publik begann eine breite Solida­ri­sierung, die mit dem Kriegs­recht in Polen noch zunahm. Millionen von Päckchen und Paketen aus Deutschland erreichten die Menschen in Polen – und ihre Herzen. So begann sich auch in der polni­schen Gesell­schaft allmählich das Bild von Deutschland zu ändern. Die Bundes­re­publik wurde nach dem Kriegs­recht Zufluchtsland für viele, die der Verfolgung entgehen – oder schlichtweg im Exil in Freiheit leben wollten.

Mit dem Runden Tisch in Polen, der ersten (halb-)freien Wahl im Juni 1989 und schließlich mit dem ersten nicht­kom­mu­nis­ti­schen Minis­ter­prä­si­denten Tadeusz Mazowiecki begann eine Revolution in Mittel­europa, mit der innerhalb weniger Monate in Polen, Ungarn, der DDR und der Tsche­cho­slo­wakei Freiheit und Demokratie den Sieg errangen und das kommu­nis­tische Regime gestürzt wurde. Im Zuge der Fried­lichen Revolution in der DDR fiel am 9. November 1989 die Mauer. Dieses Ereignis wurde zum weltweiten Symbol für den gemein­samen Sieg und mit ihm schließlich das Ende des Kalten Krieges.

Für Deutschland endete dieser Sieg der Freiheit in der deutschen Einheit. Dass wir Deutschen 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in welchem wir so viel Schrecken über ganz Europa und eben insbe­sondere auch nach Polen gebracht haben, dass wir nach Jahrzehnten der Teilung im Kalten Krieg nun wieder vereint und zugleich in Freund­schaft verbunden mit allen Nachbarn sein konnten – das war die Glücks­stunde der Deutschen im 20. Jahrhundert. Die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn vollendete, was im Westen mit der deutsch-franzö­si­schen Annäherung und der Gründung der Europäi­schen Gemein­schaft begonnen wurde.

Wichtig war auf dem Weg zur Einheit die nun endgültige völker­recht­liche Anerkennung der polni­schen Westgrenze an Oder und Neiße. Diese eröffnete dann gemeinsam mit dem Nachbar­schafts­vertrag eine bis heute währende Erfolgs­ge­schichte. Das geeinte Deutschland wurde für Polen und die anderen neuen Demokratien zum Anwalt ihrer Integration in die Nato und die Europäische Union. Polen wurde nun zu einem anerkannten Partner und aktiven Mitge­stalter europäi­scher Politik. Mit Donald Tusk ist ein Pole Präsident des Europäi­schen Rates und hat damit eines der wichtigsten in Europa zu verge­benden Ämter inne.

Auch die Fragen der Belas­tungen durch die Vergan­genheit des letzten, für das deutsch-polnische Verhältnis so schwie­rigen Jahrhun­derts, schienen immer mehr in den Hinter­grund zu treten. Zwei besondere Museums­pro­jekte sollten das dokumen­tieren: das polnische Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig und das Museum der Stiftung „Flucht – Vertreibung – Versöhnung“ in Berlin.

Die Konzeption des Danziger Museums hatte den Anspruch, den Zweiten Weltkrieg in seinen vielfäl­tigen Facetten tatsächlich als Weltkrieg darzu­stellen und verschie­denen Perspek­tiven Raum zu geben. Deshalb wurden nicht nur polnische, sondern Histo­riker aus anderen Ländern an der Arbeit beteiligt. Im Frühjahr 2017 wurde es eröffnet – doch steht es nun seitens der PIS-Regierung in der Kritik, den polni­schen Heroismus nicht genügend zu betonen. Die Planung der Regierung sieht vor, es mit dem in Gründung befind­lichen Museum der Western­platte zusam­men­zu­legen. Welches Narrativ hier künftig erzählt werden soll, scheint offen.

Das Museum zur Stiftung „Flucht-Vertreibung-Versöhnung“ war in Deutschland selbst lange umstritten. Immer wieder hat es von sich reden gemacht, weil der Versuch gemacht wurde oder teilweise gelang, dass die Perspektive des Bundes der Vertrie­benen (BdV) die prägende sein sollte. Dem stellte sich die wissen­schaft­liche Berater­gruppe entgegen. Ob diese Turbu­lenzen der Vergan­genheit angehören, ist offen. Sollte es gelingen, die Entschei­dungs­pro­zesse trans­parent zu gestalten, weiterhin die inter­na­tionale Histo­ri­ker­zunft zu betei­ligen und die politi­schen Einflüsse des BdV zurück­zu­drängen, könnte es zu einem beispiel­haften Ergebnis kommen.

So belegen die beiden Museums­pro­jekte einer­seits die Bedeutung der Geschichte für das Selbst­ver­ständnis beider Nationen, das insbe­sondere in Polen noch viel gesell­schaft­lichen Konflikt­stoff bietet, wie auch für das bilaterale Verhältnis zwischen Deutschland und Polen. Hier ist Offenheit und Sensi­bi­lität notwendig, um aus der immer noch vorhan­denen Fragi­lität nicht Konflikte werden zu lassen. Gerade deshalb aber ist es wichtig, Räume des Dialogs und der Diskussion zu schaffen, in denen die verschie­denen Perspek­tiven und konflikt­reichen Fragen zur Sprache gebracht werden können.

Dies kann auch bilateral geschehen, ist aber möglichst multi­la­teral zu gestalten, denn die meisten histo­ri­schen Fragen betreffen nicht nur Deutschland und Polen. In Brüssel ist gerade im Frühjahr 2017 das „Haus der Europäi­schen Geschichte“ eröffnet worden. Der wissen­schaft­liche Beirat wurde von Włodzi­mierz Borodziej geleitet, einem anerkannten polni­schen Histo­riker. Es wird spannend sein, welche Diskurse sich aus der dort vorge­legten Konzeption ergeben.

Es ist gut, dass seit dem Beitritt der neuen Mitglied­staaten in der Europäi­schen Union das Europäische Parlament ein offener Ort des Diskurses zu einer europäi­schen Erinne­rungs­kultur geworden ist. Es ist nicht zu erwarten, dass demnächst alle Europäer ein gemein­sames Bild unserer Geschichte teilen, doch es ist wichtig, die verschie­denen Perspek­tiven überhaupt erst einmal kennen­zu­lernen und mitein­ander ins Gespräch zu bringen.

Dies ist nun auch eine Heraus­for­derung an das Gedenken der 100-Jahrestage in den Jahren 2018/​2019. Natürlich werden Polen und die anderen am Ende des Ersten Weltkrieges entstan­denen Natio­nal­staaten ihre Unabhän­gigkeit und Staats­gründung feierlich begehen. Es wird jedoch darauf ankommen, dass im Zuge dieser Feier­lich­keiten nicht eine neue Welle des Natio­na­lismus durch Europa geht. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass auch die multi­la­te­ralen Themen, die mit diesem Jahrestag verbunden sind, nicht aus dem Blick geraten und durch die inter­na­tionale Staaten­ge­mein­schaft angemessene Aufmerk­samkeit erfahren.

Hier seien einige Gesichts­punkte genannt, die mir in diesem Zusam­menhang von Bedeutung zu sein scheinen:

+ Mit dem Kriegs­ein­tritt der USA und ihrer Begründung in den 14 Punkten von Präsident Wilson standen die Heraus­for­de­rungen von Demokratie und Selbst­be­stimmung auf der europäi­schen Tages­ordnung, mit der „Oktober­re­vo­lution“ von 1917 die Alter­native von Demokratie und totali­tärem Kommu­nismus. Sie bestimmte das ganze vergangene Jahrhundert. Die bleibende Aktua­lität dieser Fragen auch nach 1989 ist offensichtlich.

+ Mit dem Ende des 1. Weltkrieges bilden sich durch den Zerfall der monar­chi­schen Reiche (des Zaris­ti­schen Russland, des Osmani­schen, des Deutschen Reiches der Hohen­zollern und des Habsbur­gi­schen Reiches) eine ganze Reihe von europäi­schen Staaten (neu), die meisten von ihnen als Demokratien. In Deutschland entsteht nicht zuletzt durch das entschlossene Handeln der Sozial­de­mo­kraten die erste deutsche Demokratie – die Weimarer Republik. 15 Jahre später ist von diesen Demokratien nicht mehr viel übrig, die meisten Staaten werden autoritär regiert. Gibt es Gründe für diese Entwicklung, die auch heute noch eine Bedeutung haben?

+ Unmit­telbar nach dem Ende der Monarchie in Deutschland und dem Waffen­still­stand erklärt der Rat der Volks­be­auf­tragten in einem Aufruf an das deutsche Volk am 12. November 1918 das allge­meine und gleiche Frauen­wahl­recht. Marie Juchacz erklärt als erste Frau in einem deutschen Parlament in der Weimarer Natio­nal­ver­sammlung am 19. Februar 1919: “Ich möchte hier feststellen.., dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem alther­ge­brachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbst­ver­ständ­lichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorent­halten worden ist.“ Während dies Recht vorher nur sehr vereinzelt galt (in Finnland, Norwegen und Dänemark), tritt es nun seinen Siegeszug in Europa an. Dass sich die Frage der Gleich­be­rech­tigung der Frauen nach 100 Jahren schon erledigt hätte, kann gleichwohl kaum behauptet werden.

+ Obwohl es völlig falsch wäre, die USA allein als Ursache für das Entstehen der europäi­schen Demokratien 1918 anzusehen, wird ihr Einfluss nicht zu bestreiten sein. Dann jedoch setzt sich in den USA der Isola­tio­nismus durch und sie ziehen sich aus Europa wieder zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie gelernt, sie bleiben eine gestal­tende Macht in Europa. So werden die USA zum Garanten der Demokratie im Nachkriegs­europa, sie unter­stützen auch die Bildung der Europäi­schen Gemein­schaften, die Integration der (zunächst west-) europäi­schen Staaten. Die trans­at­lan­ti­schen Bezie­hungen sind somit seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ein Jahrhun­dert­thema, dessen Aktua­lität mit der Wahl von Präsident Trump noch einmal vor aller Augen geführt wird.

+ Nach den – für alle teilneh­menden Nationen erschüt­ternden – Erfah­rungen des Ersten Weltkriegs wird durch die Initiative der Ameri­kaner der Völkerbund gegründet. Er soll als inter­na­tionale Organi­sation das Völker­recht stärken und umsetzen helfen. Die Ameri­kaner werden schließlich nicht einmal Mitglied und er scheitert. Der Neuanfang mit den Vereinten Nationen 1945 bleibt bis heute eine inter­na­tionale Heraus­for­derung für die Verrecht­li­chung der inter­na­tio­nalen Bezie­hungen und die Friedenssicherung.

+ Die Pariser Vorort­ver­träge am Ende des Ersten Weltkrieges haben Europa auf eine Weise neu geordnet, die bis heute schwer­wie­gende Folgen hat – auch wenn das vielen nicht bewusst ist. Ob es Hitler ohne die Art, wie der Versailler Vertrag gestaltet wurde, gelungen wäre, in Deutschland die Zustimmung und die Mehrheiten zu erlangen, wie es dann geschah, sei dahin­ge­stellt. Dabei hatte Deutschland selbst die Richtung vorge­geben, als es im Vertrag von Brest-Litowsk dem nun bolsche­wis­ti­schen Russland Friedens­be­din­gungen diktiert hatte, die keinen Bestand haben konnten. So stellt sich allein aus diesen Erfah­rungen die Grund­frage „Wie schließt man Frieden – der wirklich trägt?“ Der Blick auf die weiteren Verträge von Trianon (1920) und Lausanne (1923) verstärkt die Heraus­for­derung. Im ersten wird das Terri­torium Ungarns so reduziert, dass das daraus entste­hende Trauma dort noch heute politische Wirkung entfaltet. Im anderen Fall wird die Zwangs­de­por­tation von Griechen und Türken politisch legiti­miert – mit dem Ziel künftiger Stabi­lität. Gerade im deutsch-polni­schen Verhältnis ist die Frage der Vertrei­bungen im 20. Jahrhundert ein wichtiges Thema. Bei allen Diffe­renzen im Rückblick bleibt die Gemein­samkeit, dass für die Zukunft Vertrei­bungen und ethnische Säube­rungen zu verhindern sind.

+ Im Versailler Friedens­vertrag wurde das „dauer­hafte Ruherecht“ von Kriegs­gräbern inter­na­tional festgelegt und der Praxis des Anlegens von Kriegs­grä­ber­stätten ein völker­recht­licher Rahmen gegeben. Über ein Jahrhundert hin hat dies dazu geführt, dass in ganz Europa Kriegs­grä­ber­stätten aller krieg­füh­renden Nationen angelegt wurden. Es stellt sich die Frage, wie dieses Gedenken an die – solda­ti­schen wie zivilen – Kriegs­toten künftig in einem zusam­men­wach­senden Europa gestaltet werden kann. Frank­reich hat hier mit dem „Ring der Erinnerung“ in Notre-Dame-de Lorette, ein Beispiel gegeben. An diesem Mahnmal wird an 580 000 Tote aller Nationen erinnert, die im Ersten Weltkrieg in dieser Region gefallen sind, unter ihnen 174 000 Deutsche. Ihre Namen werden nun aber nicht nach Nationen unter­teilt, sondern nach dem Alphabet. Dieses Beispiel macht Mut. Es braucht in der Zukunft ein Nachdenken und Gespräch darüber, wie ein solches gemein­sames Gedenken künftig auch über nationale Grenzen hinweg entwi­ckelt werden kann.

Ich hoffe sehr, dass es 2018 gelingen wird, angesichts des 100-Jahr-Gedenkens nicht nur auf die jeweils nationale Geschichte zu schauen, sondern den Blick auch gemeinsam auf das  20. Jahrhundert zu richten und im Horizont gegen­wär­tiger Heraus­for­de­rungen Lehren daraus zu ziehen.

Zum Schluss möchte ich einen früheren Vorschlag wiederholen:

Polen und Deutschland sind in einer langen Geschichte mitein­ander verbunden, die hier nur kurz beschrieben werden konnte. In Berlin gibt es nun seit den 70er Jahren ein polni­sches Denkmal, das die beiden kommu­nis­ti­schen Länder, die Volks­re­publik Polen und die DDR errichtet haben. Es steht erstaun­li­cher­weise unter dem Motto: „Für eure und für unsere Freiheit!“ Die Gestaltung aber entspricht dem sozia­lis­ti­schen Zeitgeist – und der Inhalt ist verlogen. Sollten wir es nicht in einer gemein­samen, deutsch-polni­schen Initiative umgestalten und dort den Beitrag darstellen, den Polen zur deutschen Freiheits­ge­schichte geleistet hat? Der Bogen könnte hier vom Hambacher Fest 1830 über die polnische Betei­ligung an der Befreiung vom Natio­nal­so­zia­lismus bis zu Solidarnosc und dem gemein­samen Sieg von Freiheit und Demokratie 1989 sowie der heutigen Partner­schaft in der EU gespannt werden.

Die Opfer Polens sind zumindest der Fachwelt bekannt und anerkannt. Die in Deutschland wenig bekannte Rolle Polens als Akteur und Partner der Freiheit zur Botschaft dieses Denkmals zu machen, würde einer­seits die gemeinsame Geschichte in den Blick nehmen – und gleich­zeitig die gemein­samen Heraus­for­de­rungen der Zukunft beschreiben. Es wäre ein versöhnter Blick auf eine Freiheits­ge­schichte, die weitergeht.

Textende

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