Hegel, Rawls und Mill: Zur Begründung eines modernen Liberalismus

Eine liberale Moderne ohne soziale Gerech­tigkeit ist keine, weswegen die sozial­de­mo­kra­tische Idee, die mit der real existie­renden SPD allen­falls am Rande etwas zu tun hat, unüber­holbar ist. Fragt man nach der Begründung eines modernen, also eines sozialen Libera­lismus, so führt kein Weg am Werk des Philo­sophen John Rawls vorbei.

John Rawls (1921–2002) hat in seinem reichen akade­mi­schen Leben eine umfas­sende Theorie sozialer Gerech­tigkeit, eine nicht besitz­in­di­vi­dua­lis­tisch verkürzte Lehre des politi­schen Libera­lismus, eine höchst zeitgemäße Theorie des Völker­rechts sowie eine Geschichte der Moral­phi­lo­sophie vorgelegt. Sein Hauptwerk, die 1971 auf Englisch, bereits 1975 auf Deutsch erschienene „Theorie der Gerech­tigkeit“ beruht auf einer Kritik des Utili­ta­rismus und einem zunächst verblüffend anmutenden Grund­ge­danken. Gegen all dieje­nigen, die meinen, dass morali­sches und gerechtes Handeln darin bestünde, das größte Glück der größten Zahl der Menschen zu erstreben und dementspre­chend das Wohl und die Rechte von Minder­heiten mindestens zeitweise vernach­läs­sigen zu können, zeigt Rawls, dass entspre­chende Politiken zu einem gerechten Ergebnis, das seinen Namen verdient, nicht führen können. Eine gerechte soziale Ordnung kann nur eine Ordnung sein, die unter fairen Bedin­gungen zustande kommt, d.h. unter Bedin­gungen, denen alle mögli­cher­weise Betrof­fenen zustimmen würden. Da diese Bedin­gungen im wirklichen Leben nie gegeben sein können, steht die Philo­sophie vor der Aufgabe, einen fiktiven Urzustand, eine Existenz unter dem „Schleier des Nicht­wissens“ zu konstru­ieren, in dem die Menschen zwar Lebens­pläne und Gerech­tig­keits­in­tui­tionen haben, aber nicht wissen, in welcher sozialen Position sie sich befinden: wie alt sie sind, welches Geschlecht sie haben, wie hoch ihre Einkünfte und Vermögen sind, auf welcher Sprosse der sozialen Leiter sie sich befinden. Unter diesen Umständen würden vernünftige, an ihren eigenen Inter­essen ebenso wie am Wohl ihrer Mitmen­schen inter­es­sierte Personen eine Grund­ordnung wählen, die auf zwei Grund­sätzen der Gerech­tigkeit beruht:

„1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfang­reichste System aller Grund­frei­heiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.

2. Soziale und wirtschaft­liche Ungleich­heiten sind so zu gestalten, dass (a) sie zu jeder­manns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen­stehen.“ (S. 81)

Rawls hat zumal das zweite Prinzip dahin­gehend präzi­siert, dass soziale und wirtschaft­liche Ungleich­heiten so zu regeln sind, dass sie stets auch den am wenigsten Begüns­tigten die bestmög­lichen Aussichten bringen. Demnach ist jede Vertei­lungs­po­litik, die nicht garan­tieren kann, auch die Situation der Ärmsten der Armen zu verbessern, demnach unzulässig. Freilich hat Rawls diese vermeintlich einfachen Prinzipien scharf­sinnig mit den fortge­schrit­tensten Mitteln aus mathe­ma­ti­scher Spiel- und Entschei­dungs­theorie begründet und sie so jedem Stamm­tisch­gerede entzogen.

Bei alledem ist Rawls niemals abstrakt. In seiner „Theorie der Gerech­tigkeit“ finden sich Abschnitte über Formen und Legiti­mität des zivilen Ungehorsams ebenso wie Überle­gungen zu Achtung und Scham, sowie zur Einheit der Persön­lichkeit. Für die aktuelle, nicht zuletzt die ökolo­gische Debatte sowie zur Frage von Schul­den­grenzen dürften die Überle­gungen zur inter­ge­ne­ra­tio­nellen Gerech­tigkeit von beson­derer Brisanz sein: Rawls verhandelt diese Frage unter dem Titel des „Gerechten Spargrund­satzes“ und stellt sie unter den Primat der Gerech­tig­keits­grund­sätze: so kommen durch politische Anerkennung Maßnahmen zustande, die den Lebens­standard der am wenigsten Begüns­tigten in späteren Genera­tionen heben sollen.

Damit bekommt die mehr beschworene als verstandene Rede von der inter­ge­ne­ra­tio­nellen Gerech­tigkeit einen präzisen Sinn: für die künftigen Genera­tionen einzu­treten, kann sich nur auf die allge­meinen Grund­lagen ihres Zusam­men­lebens wie Umwelt und Bildung beziehen. Es wider­spricht dem Gerech­tig­keits­grundsatz überhaupt nicht, künftig erwart­bares, hohes Privat­ein­kommen schon heute über Kredite zu belasten und gemein­nüt­zigen Zwecken zuzuführen.

Freilich wurde Rawls Theorie der sozialen Gerech­tigkeit schon früh als eine umfas­sende, d.h. nicht mehr disku­table Theorie liberaler Demokratie missver­standen, ein Missver­ständnis, das er in seinen in den frühen neunziger Jahren erschienen Schriften zum politi­schen Libera­lismus deutlich korri­giert hat. Politi­scher Libera­lismus, der seinen Namen verdient, ist demnach dann möglich, wenn die Bürger demokra­ti­scher Staaten sich vor dem Hinter­grund einer Plura­lität vernünf­tiger Vorstel­lungen politi­scher Freiheit und Gleichheit darauf einigen, unter Verzicht auf letzte Wahrheits­an­sprüche den histo­risch geron­nenen Konsens von univer­sa­lis­ti­schen Rechts- und Verfas­sungs­prin­zipien zu akzeptieren.

Von alledem kann in der sich heraus­bil­denden politi­schen Weltge­mein­schaft mitsamt ihren undemo­kra­tisch regierten Einzel­staaten keine Rede sein. Rawls Studien zum Völker­recht unter­scheiden daher eine ideale und eine nicht-ideale, „realis­tische“ Theorie zwischen­staat­lichen Rechts, die Kriterien zur Beurteilung undemo­kra­ti­scher Staaten sowie der möglichen Legiti­mität von Kriegen enthält, wobei der Berück­sich­tigung der Menschen­rechte zumal der Bürger undemo­kra­ti­scher Staaten eine besondere Bedeutung zukommt.

Philo­sophie – so Hegels berühmtes Wort – ist ihre Zeit, in Gedanken gefasst. Anders als viele analy­tische Philo­sophen hatte Rawls zu Hegel kein ableh­nendes Verhältnis:

„Die Theorie der Gerech­tigkeit“ so schreibt er in seiner „Geschichte der Moral­phi­lo­sophie“ „schließt sich in dieser Hinsicht an Hegel an, wenn sie die Grund­struktur der Gesell­schaft als vorran­gigen Gegen­stand der Gerech­tigkeit auffaßt. Die Menschen sind von vorne­herein in der Gesell­schaft verankert, und die ersten der von ihnen ausge­wählten Grund­prin­zipien der Gerech­tigkeit sollen für die Grund­struktur gelten. Der Begriff der Person und der Begriff der Gesell­schaft passen zusammen: jeder der beiden bedarf des jeweils anderen, und keiner von ihnen hat allein Bestand.“ (S. 471/​2)

Nicht vergessen sei schließlich auch der als Demokratie- und Plura­lis­mus­theo­re­tiker bekannt gewordene John Stuart Mill (1806–1873). Noch viel zu wenig ist bekannt, dass Mill – aber das kann nur noch angedeutet werden – genau genommen Feminist und Sozialist war – auch wenn er nicht so genannt werden wollte: Immerhin heißt es im siebten Kapitel seiner auch auf Deutsch erschie­nenen Autobiographie:

So ging – so Mill im Rückblick auf sein Leben – „unser Ideal von defini­tiver Verbes­serung weit über die Demokratie hinaus und würde uns entschieden unter die Gesamt­be­zeichnung ‚Sozia­listen‘ einreihen. Während wir mit allem Nachdruck die Tyrannei der Gesell­schaft über das Individuum verwarfen, die man den meisten sozia­lis­ti­schen Systemen unter­stellt, nahmen wir doch eine Zeit in Aussicht, in welcher die Gesell­schaft sich nicht mehr in Arbeiter und Müßig­gänger spalten würde – in welcher die Regel ‚wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ nicht bloß auf die Armen, sondern unpar­teiisch auf alle Anwendung findet... – in welcher die Verteilung des Arbeits­er­zeug­nisses, statt, wie es jetzt in hohem Grade geschieht, vom Zufall der Geburt abzuhängen, durch einstimmige Beschlüsse oder nach anerkannten gerechten Grund­sätzen vor sich geht – in welcher es nicht länger unmöglich sein oder für unmöglich gehalten wird, dass mensch­liche Wesen sich eifrig bemühen und Vorteile schaffen, die nicht ausschließlich ihnen, sondern auch der Gesell­schaft, der sie angehören, zu gute kommen.“ (S. 188)

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