Wie CDU und SPD Europa vergaßen

© Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

In den Koali­ti­ons­ver­hand­lungen haben CDU und SPD versäumt, das Vorschlags­recht für den deutschen EU-Kommissar zu regeln. Das hat die CSU geschickt für sich genutzt.

Fast ein Jahr ist es her, dass die Partei­vor­sit­zenden von CDU, CSU und SPD einen Koali­ti­ons­vertrag unter­zeich­neten. Zuvor hatte sich die SPD-Basis in einer Befragung hinter das Vorhaben der Partei­spitze gestellt, die Koalition mit CDU/​CSU fortzu­setzen und erneut in eine Bundes­re­gierung einzutreten. 

Portrait von Markus Schubert

Markus Schubert ist Moderator beim Hörfunk­sender NDR Info.

Am Koali­ti­ons­vertrag fiel insbe­sondere das prominent platzierte, umfang­reiche und als ambitio­niert empfundene Eingangs­ka­pitel zur Europa­po­litik auf, das als Errun­gen­schaft von Martin Schulz begriffen wurde, der die SPD als Parteichef in und durch die Koali­ti­ons­ver­hand­lungen geführt hatte. Wie immer zog auch die Ressort­ver­tei­lungs­liste Aufmerk­samkeit auf sich. In der CDU rieb man sich am Verlust des Finanz­mi­nis­te­riums, das an die SPD ging. Einige monierten, dass die SPD generell „starke“ Ressorts an sich gezogen habe. Doch weder in den Parteien noch unter Journa­listen wurde in jenen Wochen (und auch nicht seitdem) die Frage aufge­worfen, warum im Koali­ti­ons­vertrag das Vorschlags­recht für den EU-Kommissar fehlte.

Man kann ja nicht davon reden, dass es hier um eine Lappalie geht. Eher drängt sich der Eindruck auf, dass es eine beispiellose Nachläs­sigkeit war: Ausdruck der Behäbigkeit der deutschen politi­schen Eliten im Umgang mit der EU und ihren Insti­tu­tionen. Das hat gewis­ser­maßen Tradition. Weder gelten Brüsseler Karrieren im politi­schen Betrieb Deutsch­lands als erstre­benswert (außer für notorische EU-Nerds, die in ihren Parteien aber Sonder­linge sind), noch streckt sich jemand bei Wahlen zum Europäi­schen Parlament nach der Spitzen­kan­di­datur – wie man zuletzt aufs Neue beobachten konnte. Eine Ausnahme sind hier die Grünen. Dennoch verblüfft es, dass ausge­rechnet Martin Schulz, der noch vor wenigen Jahren nach dem Kommis­si­ons­vorsitz gegriffen hat (und damit indirekt nach dem deutschen Kommis­sar­s­posten), dieses Thema in den Koali­ti­ons­ver­hand­lungen übersehen haben soll.

Für kleine Staaten bedeutet der Posten einen Sechser im Lotto

Andere EU-Länder hängen das Thema höher. Für kleinere und mittlere Länder ist der Posten des Kommissars/​der Kommis­sarin der zweit­wich­tigste nach dem Regie­rungschef. Die Skandi­navier etwa haben zuletzt politische Schwer­ge­wichte nach Brüssel geschickt (Margrethe Vestager, Cecilia Malmström), die nun selbst­ver­ständlich unter den ersten sind, die auf der Suche nach dem nächsten Kommis­si­ons­prä­si­denten genannt werden.

Für Estland und Lettland war es klar, ehemalige Regie­rungs­chefs nach Brüssel zu schicken (Andrus Ansip, Valdis Dombrovskis), die von Kommis­si­onschef Jean-Claude Juncker dankbar zu Stell­ver­tretern erhoben wurden und zu den Aktiv­posten der Kommission gehören. Je kleiner die Staaten, desto größer der Glanz (und der handfeste politische Nutzen), der von dem Kommissar/​der Kommis­sarin in Brüssel auf die heimische politische Szene abfällt. Solange jeder der 28 bzw. demnächst 27 EU-Staaten einen Kommissar/​eine Kommis­sarin entsenden darf, egal ob die Nation aus 80 oder acht Millionen Menschen besteht, bedeutet der Posten für viele einen Sechser im Lotto.

Aber auch den Kommissar/​die Kommis­sarin Deutsch­lands, derzeit der frühere baden-württem­ber­gische Minis­ter­prä­sident Günther Oettinger, wird man in puncto politi­scher Einfluss und Wirkungsgrad realis­ti­scher­weise auf Platz drei hinter der Kanzlerin und dem Bundes­fi­nanz­mi­nister einordnen müssen.

Warum also hat man eine Entscheidung dieser Reich­weite vor Beginn der Koalition nicht geregelt?

Manfred Weber schlug sich selbst als Spitzen­kan­didat vor

Dazu gibt es verschiedene Vermu­tungen, mit denen ich CDU, CSU und SPD in den vergan­genen Wochen konfron­tiert habe. Aber die Presse­stellen der Parteien können oder wollen diese Fragen ebenso wenig beant­worten wie alle weiter­füh­renden Fragen zum Vorschlags­recht und den dafür zustän­digen Gremien (Kabinett? Partei­vor­stände? Koalitionsausschuss?).

Fakt ist: Im September 2018 beant­wortete der Vorsit­zende der EVP-Fraktion im Europäi­schen Parlament die Frage nach dem Vorschlags­recht ganz nonchalant. Manfred Weber schlug sich nämlich einfach selbst als Spitzen­kan­didat der EVP für die Europawahl 2019 vor. Der EVP-Kongress wählte den regie­rungs­un­er­fah­renen Christ­so­zialen dann im Herbst in Helsinki auf diese Position – nach einem ausdrück­lichen endor­sement von Angela Merkel, die zuvor auch (als CDU-Vorsit­zende? Als Bundes­kanz­lerin?) die Kandi­datur Webers begrüßt hatte.

Das Vorgehen Webers basiert auf dem noch jungen (aber von den Liberalen begreif­li­cher­weise bereits wieder in Frage gestellten) common sense, wonach der Spitzen­kan­didat der europaweit erfolg­reichsten Partei­en­fa­milie vom Europäi­schen Rat zum nächsten Kommis­si­onschef vorge­schlagen und vom Parlament bestätigt werden soll. Wie selbst­ver­ständlich gehen die Unions­par­teien nun davon aus, dass Weber bei erfolg­reichem Abschneiden der EVP von Deutschland als Kommissar vorge­schlagen wird, um Kommis­si­ons­prä­sident zu werden. Niemand scheint das zu hinterfragen.

Aber was, wenn Weber nicht den Kommis­si­ons­vorsitz bekommt?

Hemds­är­melig ist das, um es sanft auszu­drücken. Aber so war es bereits vor fünf Jahren: Da wählte Martin Schulz dasselbe Vorgehen. Auch er wollte – an der Spitze des SPE-Wahlkampfs – Kommis­si­onschef werden und baute ebenso darauf, dass ihm die große Koalition mit diesem Amt zugleich den deutschen Kommis­sar­s­posten überlassen würde. Während sich aber Weber laut letzten Umfragen zumindest ausrechnen kann, mit der EVP als stärkster politi­scher Kraft auf diesen Posten zu pochen, verfehlte Schulz schon das Etappenziel.

Die Frage nach dem Vorschlags­recht wird sich mit Vehemenz stellen, wenn der Europäische Rat sich demnächst nicht an das nirgendwo kodifi­zierte Spitzen­kan­di­daten-Modell halten sollte, sondern in einem umfang­reichen Perso­naldeal, der auch den Ratsvorsitz und weitere Spitzen­po­si­tionen umfassen könnte, den Kommis­si­ons­vorsitz an eine liberale Politi­kerin übertragen sollte. Wird Weber dann automa­tisch ersatz­weise deutscher Kommissar? Von SPD und CDU auch hierzu: keine Antwort.

In künftigen Koali­ti­ons­ver­hand­lungen, in welcher Zusam­men­setzung auch immer, sollte das Vorschlags­recht für den EU-Kommis­s­ar/die EU-Kommis­sarin (sofern eine Europawahl in die Legis­la­tur­pe­riode fällt) im Rahmen der Ressort­ver­teilung ausge­handelt und kommu­ni­ziert werden. Man sollte wettbe­werbs­freund­liche Spiel­regeln aufstellen und der Koali­ti­ons­partei, die bei der Europawahl national oder in ihrer Partei­en­fa­milie EU-weit das relativ beste Ergebnis erzielt, das Vorrecht erlauben. Oder, besser, die Position wie einen ausge­la­gerten Kabinetts­posten in die Verhandlung um die Ressort­ver­teilung mitein­be­ziehen. Und am aller­besten zudem in den europa­po­li­ti­schen Teil des Koali­ti­ons­ver­trags aufnehmen.

Ist nichts vereinbart, wird den Christ­de­mo­kraten als auf absehbare Zeit stärkste politische Kraft in Deutschland und Europa still­schweigend das Vorschlags­recht überlassen. Die CSU hat sich das nicht zwei Mal sagen lassen und beherzt zugegriffen. Ihr Einfluss auf die Geschicke der EU lässt sich derzeit nur schwer abschätzen.

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