Keine Waffen in Krisengebiete? Anmerkungen zu einer nicht ganz neuen Debatte
Ein Standardsatz der deutschen Außenpolitik – oder ist es eigentlich Innenpolitik? – ist der Grundsatz: Keine Waffen in Krisengebiete. Das klingt auf den ersten Blick eskalationsverhindernd und damit friedensbewahrend. Und damit scheint die maximal ethische Grundhaltung erreicht.
Deklinieren wir das mal am realen Leben durch:
1.
Israel: Zweifelsohne ein Krisengebiet. Die Entscheidung der UN-Generalversammlung im Jahr 1948, das britische Mandatsgebiet in der Levante in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat aufzuteilen, führte unmittelbar nach der UN-Entscheidung zum Angriff von sechs arabischen Nationen auf diesen provisorischen Staat Israel als Heimstatt der Juden. Man lese Yoram Kaniuks „1948“ und bekomme eine Idee von dem existentiellen Kampf gegen diesen Überfall. Der Blutzoll war hoch. Die nackte Existenz des jüdischen Staates, einem Zufluchtsort für viele Überlebende des Holocaust, stand auf der Kippe. Wäre es falsch gewesen, Waffen an die jüdischen Verteidiger zu schicken?
Am 6. Oktober 1973 – dem Yom Kippur, dem höchsten Feiertag der Israelis – griffen Ägypten, Syrien und weitere arabische Staaten Israel an. Israel war auf diesen Angriff nicht gut vorbereitet, der Verlust an Menschen und Material war enorm. Nach einer Woche ging der israelischen Armee die Ausrüstung aus. Es drohte die Vernichtung des israelischen Staates. Nur die Entscheidung der USA, Israel mit Waffen zu versorgen, wendete die Niederlage ab. Diese Waffen wurden über die Azoren nach Israel eingeflogen, zum Teil aus amerikanischen Beständen, die in Deutschland lagerten.
Willy Brandt war damals deutscher Bundeskanzler. Am 24. Oktober forderte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt vom US-Gesandten Frank Cash das Ende der US-Waffenlieferungen „unter Benutzung des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland”. Die arabischen Staaten hatten ihre Öllieferungen heruntergefahren. Man darf wohl schließen: Öl für Deutschland ging vor der Selbstverteidigung des Staates Israel am Rande einer verheerenden Niederlage.
2.
Das zerfallende Jugoslawien: Der Versuch, auf diplomatischem Wege eine neue Balance der Teilrepubliken Jugoslawiens durch ein rotierendes Präsidiumssystem herbeizuführen und damit den jugoslawischen Staat zu erhalten, schlug fehl. Belgrad war nicht bereit, die Macht zu teilen und überfiel im Juni 1991 Slowenien. Im Juli 1991 protestierten Tausende in Sarajevo auf einem Friedens-Rockkonzert gegen den Krieg. Im Sommer desselben Jahres griff die jugo-serbische Armee zusammen mit serbisch-nationalistischen Milizen Kroatien an, im Frühjahr 1992 dann auch Bosnien. Die Ausrüstung der jugoslawischen Armee war nach Serbien zurückgeholt worden. Als die Tschetniks im Verbund mit der serbischen Armee unter General Mladic und Staatschef Milosevic das spärlich bewaffnete Bosnien attackierten, verhängte Europa ein Waffenembargo über die Region.
Das konnte die serbischen Extremisten kalt lassen. Sie waren bis an die Zähne gerüstet. Die Bosniaken verteidigten sich mit einer rudimentären Ausrüstung. Jeder Ort, der in die Hände der serbischen Extremisten fiel, bedeutete Vertreibung, Vergewaltigung der Frauen und Mord.
Was war der ethische Gehalt der Entscheidung des Westens, weder die Bosniaken zu schützen (die UN-Blauhelme hatten kein militärisches Mandat, außer sich selbst zu verteidigen) noch sie mit Waffenlieferungen selbst in die Lage zu versetzen, sich zu verteidigen?
3.
Eine ähnliche Konstellation sollte sich gut 20 Jahre später in der Ukraine wiederholen. Auf der Krim fiel von ukrainischer Seite kein Schuss, als die russische Armee die Macht auf der Halbinsel übernahm. Die Verteidigungsmöglichkeiten der ukrainischen Armee (damals geschätzt 6.000 kampffähige Männer) entsprachen in etwa der der bosnischen Armee von 1992. Männer in Turnschuhen, ohne Helm und Schutzwesten, versuchten die Übermacht aus russischen Armeeangehörigen und Separatisten mit spärlichen Waffen aus alten sowjetischen Beständen abzuwehren.
Der ukrainische Oligarch Kolomojskyj, der damals eine führende Rolle in der Ostukraine spielte, ist kein ehrenwerter Mann. Aber hätte er keine Milizen aufgestellt und die Verteidigung organisiert, wäre auch Dnipro jetzt Separatistengebiet. Und in dem lebt es sich bekanntlich nicht gut. War es friedensstiftend, die Ukraine, die sich unter hohen Opfern gegen eine russische Übermacht verteidigen musste, nach dem Motto „Keine Waffen in Krisengebiete“ möglichst wehrlos zu lassen?
4.
Die Lieferung von Waffen in eine Krisenregion ist rechtlich möglich und kann politisch geboten sein: Als die kurdischen Städte und Dörfer im Nordirak im Jahr 2014 von IS-Kämpfern überrannt zu werden drohten, beschlossen Bundesregierung und Bundestag die Unterstützung der kurdischen Peschmerga mit Waffen aus den Beständen der Bundeswehr. Die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen plädierte für „die Bereitschaft, Tabus beiseite zu legen und offen zu diskutieren. An dieser Stelle sind wir gerade. (…) Was längst vorbei ist, ist die Politik allein mit dem Scheckbuch.“
5.
Kleiner historischer Nachtrag: Als das von den Nazis überfallene Norwegen flehentlich um Waffen aus den USA bat, lehnte Präsident Roosevelt das zunächst ab. Er hatte seinen Wählern versprochen, Amerika aus dem Krieg herauszuhalten. Der Eintritt in einen Krieg im damals noch fernen Europa war nicht populär. Nachvollziehbar, aber war die Politik der Neutralität politisch klug und ethisch geboten? Die Geschichte hat die Frage beantwortet.
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