Keine Waffen in Krisen­ge­biete? Anmer­kungen zu einer nicht ganz neuen Debatte

Friedhof und Gedenkort an das Massaker in Srebrenica von 1995, Foto: Shutterstock

Ein Standardsatz der deutschen Außen­po­litik – oder ist es eigentlich Innen­po­litik? – ist der Grundsatz: Keine Waffen in Krisen­ge­biete. Das klingt auf den ersten Blick eskala­ti­ons­ver­hin­dernd und damit friedens­be­wahrend. Und damit scheint die maximal ethische Grund­haltung erreicht.

Dekli­nieren wir das mal am realen Leben durch:

1.

Israel: Zweifelsohne ein Krisen­gebiet. Die Entscheidung der UN-General­ver­sammlung im Jahr 1948, das britische Mandats­gebiet in der Levante in einen jüdischen und einen paläs­ti­nen­si­schen Staat aufzu­teilen, führte unmit­telbar nach der UN-Entscheidung zum Angriff von sechs arabi­schen Nationen auf diesen provi­so­ri­schen Staat Israel als Heimstatt der Juden. Man lese Yoram Kaniuks „1948“ und bekomme eine Idee von dem existen­ti­ellen Kampf gegen diesen Überfall. Der Blutzoll war hoch. Die nackte Existenz des jüdischen Staates, einem Zufluchtsort für viele Überle­bende des Holocaust, stand auf der Kippe. Wäre es falsch gewesen, Waffen an die jüdischen Vertei­diger zu schicken?

Am 6. Oktober 1973 – dem Yom Kippur, dem höchsten Feiertag der Israelis – griffen Ägypten, Syrien und weitere arabische Staaten Israel an. Israel war auf diesen Angriff nicht gut vorbe­reitet, der Verlust an Menschen und Material war enorm. Nach einer Woche ging der israe­li­schen Armee die Ausrüstung aus. Es drohte die Vernichtung des israe­li­schen Staates. Nur die Entscheidung der USA, Israel mit Waffen zu versorgen, wendete die Niederlage ab. Diese Waffen wurden über die Azoren nach Israel einge­flogen, zum Teil aus ameri­ka­ni­schen Beständen, die in Deutschland lagerten.

Willy Brandt war damals deutscher Bundes­kanzler. Am 24. Oktober forderte der Staats­se­kretär im Auswär­tigen Amt vom US-Gesandten Frank Cash das Ende der US-Waffen­lie­fe­rungen „unter Benutzung des Terri­to­riums der Bundes­re­publik Deutschland”. Die arabi­schen Staaten hatten ihre Öllie­fe­rungen herun­ter­ge­fahren. Man darf wohl schließen: Öl für Deutschland ging vor der Selbst­ver­tei­digung des Staates Israel am Rande einer verhee­renden Niederlage.

2.

Das zerfal­lende Jugoslawien: Der Versuch, auf diplo­ma­ti­schem Wege eine neue Balance der Teilre­pu­bliken Jugosla­wiens durch ein rotie­rendes Präsi­di­ums­system herbei­zu­führen und damit den jugosla­wi­schen Staat zu erhalten, schlug fehl. Belgrad war nicht bereit, die Macht zu teilen und überfiel im Juni 1991 Slowenien. Im Juli 1991 protes­tierten Tausende in Sarajevo auf einem Friedens-Rockkonzert gegen den Krieg. Im Sommer desselben Jahres griff die jugo-serbische Armee zusammen mit serbisch-natio­na­lis­ti­schen Milizen Kroatien an, im Frühjahr 1992 dann auch Bosnien. Die Ausrüstung der jugosla­wi­schen Armee war nach Serbien zurück­geholt worden. Als die Tschetniks im Verbund mit der serbi­schen Armee unter General Mladic und Staatschef Milosevic das spärlich bewaffnete Bosnien attackierten, verhängte Europa ein Waffen­em­bargo über die Region.

Das konnte die serbi­schen Extre­misten kalt lassen. Sie waren bis an die Zähne gerüstet. Die Bosniaken vertei­digten sich mit einer rudimen­tären Ausrüstung. Jeder Ort, der in die Hände der serbi­schen Extre­misten fiel, bedeutete Vertreibung, Verge­wal­tigung der Frauen und Mord.

Was war der ethische Gehalt der Entscheidung des Westens, weder die Bosniaken zu schützen (die UN-Blauhelme hatten kein militä­ri­sches Mandat, außer sich selbst zu vertei­digen) noch sie mit Waffen­lie­fe­rungen selbst in die Lage zu versetzen, sich zu verteidigen?

3.

Eine ähnliche Konstel­lation sollte sich gut 20 Jahre später in der Ukraine wieder­holen. Auf der Krim fiel von ukrai­ni­scher Seite kein Schuss, als die russische Armee die Macht auf der Halbinsel übernahm. Die Vertei­di­gungs­mög­lich­keiten der ukrai­ni­schen Armee (damals geschätzt 6.000 kampf­fähige Männer) entsprachen in etwa der der bosni­schen Armee von 1992. Männer in Turnschuhen, ohne Helm und Schutz­westen, versuchten die Übermacht aus russi­schen Armee­an­ge­hö­rigen und Separa­tisten mit spärlichen Waffen aus alten sowje­ti­schen Beständen abzuwehren.

Der ukrai­nische Oligarch Kolomo­jskyj, der damals eine führende Rolle in der Ostukraine spielte, ist kein ehren­werter Mann. Aber hätte er keine Milizen aufge­stellt und die Vertei­digung organi­siert, wäre auch Dnipro jetzt Separa­tis­ten­gebiet. Und in dem lebt es sich bekanntlich nicht gut. War es friedens­stiftend, die Ukraine, die sich unter hohen Opfern gegen eine russische Übermacht vertei­digen musste, nach dem Motto „Keine Waffen in Krisen­ge­biete“ möglichst wehrlos zu lassen?

4.

Die Lieferung von Waffen in eine Krisen­region ist rechtlich möglich und kann politisch geboten sein: Als die kurdi­schen Städte und Dörfer im Nordirak im Jahr 2014 von IS-Kämpfern überrannt zu werden drohten, beschlossen Bundes­re­gierung und Bundestag die Unter­stützung der kurdi­schen Peschmerga mit Waffen aus den Beständen der Bundeswehr. Die damalige Vertei­di­gungs­mi­nis­terin Ursula von der Leyen plädierte für „die Bereit­schaft, Tabus beiseite zu legen und offen zu disku­tieren. An dieser Stelle sind wir gerade. (…) Was längst vorbei ist, ist die Politik allein mit dem Scheckbuch.“

5.

Kleiner histo­ri­scher Nachtrag: Als das von den Nazis überfallene Norwegen flehentlich um Waffen aus den USA bat, lehnte Präsident Roosevelt das zunächst ab. Er hatte seinen Wählern versprochen, Amerika aus dem Krieg heraus­zu­halten. Der Eintritt in einen Krieg im damals noch fernen Europa war nicht populär. Nachvoll­ziehbar, aber war die Politik der Neutra­lität politisch klug und ethisch geboten? Die Geschichte hat die Frage beantwortet.

Textende

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