Frieden als Kampf­be­griff – gegen die Demokratie und für den Krieg

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„Frieden“ – ein gern und häufig und oft missbräuchlich verwen­deter Begriff, besonders im aktuellen Wahlkampf. Der Schrift­steller Marko Martin blickt auf Taktiken und Wurzeln hinter diesem Kampf­be­griff und sieht darin ein gesamt­deut­sches Phänomen, das besonders einem in die Hände spielt: Putin.

In zahlreichen seiner skurrilen Auftritte bezieht sich der ehemalige SED-General­se­kretär Egon Krenz vor überra­schend zahlreichem Publikum immer wieder auf etwas, das er für eine besondere Errun­gen­schaft des 1989 implo­dierten Regimes hält: den „Frieden“, in fortwir­kender Partei­sprache auch gern „Friedens­kampf“ genannt. Der verblüffend rüstige Polit­rentner und Recht­fer­ti­gungs-Biograf in eigener Sache, der 1997 ob seiner Mitver­ant­wortung für die Todes­schüsse an der Berliner Mauer zu sechs­einhalb Jahren Freiheits­strafe verur­teilt worden war, poltert dabei nicht nur gegen „das gegen­wärtige System“, das sich angeblich Russland als Feind erkoren habe, sondern spielt auch auf der Klaviatur der Senti­men­ta­lität – nicht zufällig sei in der DDR das Lied von der „Kleinen weißen Friedens­taube“ nun wirklich jedem, von groß bis klein, bekannt gewesen. Dass Krenz dabei kein einziges Wort verliert über jenen ideolo­gi­schen, oft sogar physi­schen Krieg, den das Regime von Anbeginn an gegen die eigene Bevöl­kerung führte, um diese einzu­sperren, zu bestrafen, zu indok­tri­nieren und „auf Linie“ zu bringen – geschenkt. Und doch sind dies mehr als lediglich Szenen aus dem Kuriositätenkabinett.

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Sahra Wagen­knecht redet auf einer Demons­tration in Berlin, 03.10.2024.

Friedens­taube als Wahlkampf-Accessoire

Um im Wähler­re­servoir der ehema­ligen SED aka PDS aka Linkspartei/​Die Linke zu fischen, setzt die rechts­extreme AfD auf nahezu gleich­lau­tende Rhetorik; nicht zufällig zierte kurz nach Beginn der russi­schen Vollin­vasion der Ukraine eben jene „Friedens­taube“ zahlreiche offizielle Björn-Höcke-Porträts. Dass gleich­zeitig das denkbar straff von ihrer Gründerin geführte „Bündnis Sahra Wagen­knecht“ zuerst bei ostdeut­schen Landtags­wahlen und nun im begin­nenden Bundes­tags­wahl­kampf mit dem Suggestiv-Slogan „Krieg oder Frieden?“ hausieren geht, überrascht ebenso wenig. Mehr noch:  Auch die SPD, die nicht nur in der öffent­lichen Wahrnehmung, sondern auch intern weiterhin von „Friedens­po­li­tikern“ wie Rolf Mützenich und Ralf Stegner geprägt wird, setzt auf einen vorgeblich „beson­nenen Friedens­kanzler Olaf Scholz“ – als quasi letzten Bonus. Aus machia­vel­lis­ti­scher Sicht ergibt all das durchaus Sinn: Mögen die mehr oder minder subtil gesetzten Signale, „man lasse sich nicht in einen Krieg hinein­ziehen“, den Kriegs­herrn Putin zusätzlich ermutigen, die überfallene Ukraine mit noch mehr Angriffen zu überziehen, und mögen sie überdies das berech­tigte Misstrauen in Polen und in den balti­schen Demokratien gegenüber dem doppel­zün­gigen Deutschland  auch verstärken – innen­po­li­tisch lässt sich auf diese Weise erfolg­ver­spre­chend um Wähler­stimmen buhlen. Die inter­es­santere Frage wäre deshalb eher, weshalb das so ist.

Magisches Denken statt Sachverstand

Wenn nämlich Frieden tatsächlich eines der höchsten Güter ist, weshalb wird dann von den Wählern jener „Friedens­par­teien“ nicht permanent und mit größtem Nachdruck gefragt, wie dieser anvisierte Frieden denn zu schaffen und nachhaltig zu garan­tieren sei? Wenn man etwas besonders schätzt, möchte man doch zuvör­derst sicher­stellen, dass es andauert, oder?

Doch bereits diese ebenso simple wie logische Frage findet keine Antwort. Vermutlich auch deshalb nicht, weil sie allzu viele weitere, unange­nehme Schluss­fol­ge­rungen nach sich zöge. Denn weshalb etwa sollte Putin, dem man einer­seits zutraut, Atomwaffen einzu­setzen, anderer­seits nun plötzlich fried­willig werden, sobald der Westen der Ukraine keine oder weniger Waffen liefert? Und aus welchen Gründen sollte ein tempo­rärer Waffen­still­stand von ihm nicht genutzt werden, um hinter der so „einge­fro­renen“ Front­linie seine Truppen effektiv zu verstärken und späterhin wieder anzugreifen – bis zu einem erneuten Waffen­still­stand, den er dann wiederum als Belohnung und Ausgangs­basis für fortwir­kende Aggres­sionen ansehen kann?

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Wahlplakate zur Europawahl am 9. Juni, nähe München, Mai 2024.

Noch einmal: Es wäre verlorene Liebesmüh, die Spitzen von AfDBSW und einige der in Militär- und Außen­po­litik dilet­tie­renden SPD-Politiker mit diesen Offen­sicht­lich­keiten zu konfron­tieren. Da deren magisches Denken – von wem auch immer souffliert oder unter­stützt – sich doch in ganz reale Wähler­stimmen ummünzen lässt. Auch einen kommenden Präsi­denten Trump mit der kriegs­ver­län­gernden Inkohärenz von „Peace-Deal“-Ideen zu konfron­tieren, dürfte mental und logis­tisch ein Ding der Unmög­lichkeit sein.

Welcher Frieden?

Wohl aber können „wir“ unsere Mitbürger*innen in Alltags­ge­sprächen und in Zimmer­laut­stärke immer wieder an eine denkbar schlichte Tatsache erinnern: Ein „Frieden“, der einen skrupel­losen Aggressor belohnt, anstatt ihm schmerz­hafte Zugeständ­nisse abzuringen, wird geradezu zwangs­läufig zur Vorstufe eines neuen und gar noch erwei­terten Krieg. Wir erinnern uns: Die Kapitu­lation des Westens angesichts von Hitlers Besetzung der „Suden­ten­ge­biete“, ergo tsche­cho­slo­wa­ki­schen Staats­ge­bietes, hatte 1938 jeden­falls nicht zu „Peace for our time“ geführt, sondern zum Zweiten Weltkrieg…

Selbst wenn man für einen Moment die Moral­ethik und jeglichen Gerech­tig­keits­ge­danken beisei­te­ließe und statt­dessen den hinter dem gängigen „Wir wollen doch nur Frieden“-Slogan hyper-präsenten Egoisten-Wunsch eines „Lasst uns doch endlich in Frieden“ ernst nähme: Wer bitte schön gäbe denn Garantie dafür, dass „man“ fürderhin tatsächlich in Ruhe gelassen wird angesichts des Faktums eines innerhalb Europas vorrü­ckenden Regimes? Wären dessen mögliche Absichts­er­klä­rungen dann tatsächlich höher zu gewichten als die Realität der überfal­lenen und zerstörten ukrai­ni­schen Staats­ge­biete und die Verstüm­melung und Ermordung von deren Bewohnern?

Historie des Friedens­be­griffs im Osten…

Gerade wehrhaft liberale Demokraten werden nicht umhin­kommen, eben diese Fragen wieder und wieder in die Gesell­schaft hinein­zu­tragen – zu Menschen, die in vielen Fällen ja überdies Eltern und Großeltern sind und von denen berech­tig­ter­weise Sorge um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu erwarten ist. Gleich­zeitig wäre so etwas wie eine fortge­setzte Motiv-Erfor­schung nötig – sofern diese denn nicht mit küchen­psy­cho­lo­gi­schen Spitz­fin­dig­keiten à la „Seit dem Trauma des Dreißig­jäh­rigen Krieges wollen die Deutschen halt Frieden um jeden Preis“ jongliert.

Freilich spielt bei der von manchen Ostdeut­schen recht forsch behaup­teten „Friedens­kom­petenz“ – aufgrund derer man gegen eine Weiter­be­waffnung der angegrif­fenen Ukraine agiert – die jüngste DDR-Vergan­genheit durchaus eine Rolle.

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Demons­tration in Berlin, 03.10.2024.

Nicht allein, dass der Friedens-Begriff über Jahrzehnte lang vom SED-Staat gleichsam gekid­nappt worden war, um aus ihm eine perma­nente Ergeben­heits­haltung gegenüber dem Kreml und dessen Forde­rungen zu formen. Mit dem Verweis auf „Frieden“ war auch die Gesell­schaft durch­mi­li­ta­ri­siert worden: Von Papp-Panzern im Kinder­garten, Wehrkun­de­un­ter­richt, der parami­li­tä­ri­schen „GST/​Gesellschaft für Sport und Technik“ und Armee-Anwerbung in den Schulen bis zur Glori­fi­zierung des NVA-Dienstes und dem Diffun­dieren des Militä­ri­schen sogar in die Arbeitswelt mithilfe der bewaff­neten „Betriebs­kampf­gruppen“. „Friedens­kom­petenz“? Wohl eher der durch­sichtige Versuch, die einstige eigene Anpassung vergessen zu machen – durch Anpassung an heutige Kreml-Propa­ganda. Ehemalige DDR-Opposi­tio­nelle könnten deshalb gerade hier mit ihrer Erinne­rungs-Expertise wertvolle Gegen­wart­s­arbeit leisten.

…und im Westen

Und die Westdeut­schen? Diese waren, wie es mitunter im verdrucksten Bemühen um Äquidi­stanz heißt, „während der System­aus­ein­an­der­setzung im Kalten Krieg“ ja nicht lediglich im „Lager“ der USA und der Nato verortet gewesen. Vor allem hatten sie sich eine mit den Jahren immer nuancierter ausge­prägte Zivil­ge­sell­schaft, auf die sie weiterhin zu Recht stolz sind, aufbauen können – unter dem Schutz von US-Raketen­schirmen. Die Anerkenntnis jedoch, dass Zivil­ge­sell­schaften nicht allein mit rein zivilen Mitteln zu vertei­digen sind, scheint bis heute nur schwer vermit­telbar – wer an jene simple Wahrheit erinnert, kann oft noch immer pikiert hochge­zogene Augen­brauen und Kopfschütteln ernten.

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Wahlplakat zur Landtagswahl am 01.09.2024 in Thüringen, Kölleda, August 2024.

Was Wunder, da sich doch selbst Jürgen Habermas, bis heute quasi der Hausphi­losoph der sich aufge­klärt und „in Europa angekommen“ wähnenden Bundes­re­publik, mit solchen hard facts nie wirklich beschäftigt hat. Aber wie steht es um die Rahmen­be­din­gungen eines „herrschafts­freien Diskurs“, die ja überaus robust sein müssten und sich nicht im voraus­set­zungs­losen Rekurs auf „Frieden“ erschöpfen können? Der ukrai­nische Philosoph Anatoliy Yermo­lenko, der überdies Habermas´ langjäh­riger Übersetzer und Bewun­derer ist, hatte solche Fragen bereits im Mai 2022 gestellt – ohne allzu großes Echo in der deutschen Öffentlichkeit.

Eindi­men­sio­naler Friedens­be­griff im Osten wie in Westen

So wäre also die Entfernung zwischen dem primitiv polternden Egon Krenz und dem durch und durch integren, auch mit 95 Jahren noch beein­dru­ckend feinzi­se­liert argumen­tie­renden Denker vom Starn­berger See fataler­weise doch nicht so kosmisch weit? Durchaus verständlich, würde man sich eine solche Frage verbitten und sie in den Bereich der unnötigen Polemik abschieben. Und doch. Aus der Perspektive der Menschen in der überfal­lenen Ukraine muss das gesamt­deutsche Kreiseln um einen eindi­men­sio­nalen Friedens­be­griff nicht nur befremdlich, sondern bedrohlich wirken. Denn es spielt, ob gewollt oder ungewollt, Russlands Angriffs­krieg weiter in die Hände.

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