Belarus: Unter­drückte oder verschobene Revolution?

Foto: Shutter­stock, Maksim Safaniuk

Die Proteste im Jahr 2020 führten nicht zu einem Macht­wechseln in Belarus. Doch der von Lukaschenka einge­schlagene Weg der Repression bringt ihm keinerlei Popula­ri­täts­gewinn – und ist extrem schwer zu verlassen, analy­siert Artyom Shraibman.

Das Jahr 2020 war ein Jahr großer Hoffnungen in und für Belarus. Nach Wahlen, die von einer großen Öffent­lichkeit als manipu­liert wahrge­nommen wurden, protes­tierten hundert­tau­sende Belarussen auf den Straßen. Es sah so aus, als wären die Tage des am längsten amtie­renden europäi­schen Macht­habers gezählt.

Doch die folgenden Monate zeigten, dass nicht jeder Aufstand dieser Größen­ordnung so endet wie in Georgien, Armenien, der Ukraine oder Kirgistan. Es macht einen Unter­schied, wie sehr ein Regime gefestigt ist. Die Inten­sität der belaru­si­schen Proteste nahm über Monate im selben Maß ab, in dem der Staat peu à peu die Daumen­schrauben anzog.

Gründe für das Scheitern

Es ist schwer, einen einzelnen Grund zu benennen, weshalb die Protest­be­wegung 2020 keinen Regime­wechsel herbei­zu­führen konnten. Verschiedene Faktoren trugen dazu bei. Regime dieser Art zerbrechen nicht, wenn nicht schon zuvor Risse innerhalb der Elite existierten. Die belaru­sische Bürokratie, insbe­sondere die der Spitze der Sicher­heits­ap­parate, erwies sich als ein ziemlich robuster Organismus. Während im Außen­mi­nis­terium und in einigen anderen staat­lichen Behörden einschließlich der Straf­ver­folgung einige Verant­wor­tungs­träger ihren Dienst quittierten, gab es keine hochran­gigen Übertritte zur Opposition.

Teilweise hat das mit Jahrzehnten gut abgestimmter Rekru­tie­rungs­po­litik durch die Führung des Regimes zu tun. Poten­ziell unzuver­lässige Leute wurden niemals in Leitungs­po­si­tionen gehievt und wenn Zweifel an der Loyalität aufkamen, wurde diese Person schnell entfernt. Dies geschah beispiels­weise mit der Nummer Zwei der belaru­si­schen Hierarchie, dem vergleichs­weise liberalen Premier­mi­nister Sjarhej Rumas, der just zwei Monate vor dem Höhepunkt der politi­schen Krise im Lande im Juni 2020 entlassen wurde. Sein Nachfolger Raman Halout­schenka, der ehemalige Vorsit­zende des militä­risch-indus­tri­ellen Komplexes von Belarus, war eine viel sicherere Wette Lukaschenkas – er hat seinen Chef in einer kriti­schen Zeit nicht verraten.

Ein weiterer Grund für Loyalität ist schiere Angst. In der Nomen­klatura wissen alle nur zu gut, was mit Überläufern passiert. Im besten Fall landet so jemand im Exil, wie der frühere Kultur­mi­nister und inzwi­schen einer der Anführer der Opposition Pawel Latuschka, der Zuflucht in Warschau fand.

Andere wurden mit Garantien, die ihnen Lukaschenka gab, geködert, im System zu verbleiben –­ sowohl solche wirtschaft­licher Natur als auch das Versprechen von Straf­freiheit. Zu Beginn der Aufstände sprachen deren Anführer viel über die Strafen für die schlimmsten Menschen­rechts­ver­brecher, gaben sich aber zu wenig Mühe, der großen Menge der anderen Beamten eine positive Agenda anzubieten. Im Ergebnis weckte die Angst vor der ungewissen eigenen Zukunft für den Fall, dass die Proteste obsiegen würden, den konser­va­tiven Instinkt, lieber zu Lukaschenka zu halten.

Unter­stützung durch den Kreml

Die Unter­stützung des Kremls für Lukaschenka und die Zusage, bei Bedarf russische Polizei­ein­heiten in Belarus gegen die Proteste einzu­setzen, halfen dem Regime, sich zu konso­li­dieren. Dies war aber nicht der Grund dafür, dass Lukaschenka die Eskalation des politi­schen Konflikts überlebte, sondern eine Konse­quenz daraus: Erst als Russland sah, dass er die Macht nicht abgeben würde, entschied es sich, ihn zu unterstützen.

Die Protes­tie­renden fanden praktisch keine Möglichkeit, ein alter­na­tives Macht­zentrum in Belarus zu etablieren. Jeder Versuch der Opposition, Insti­tu­tionen und Struk­turen zu schaffen, wurde sofort vom Regime verhindert. Opposi­ti­ons­führer wie Sjarhej Zichanouski, Wiktar Babaryka und Waleryj Zepkala fanden sich schnell im Gefängnis oder Exil wieder, genau wie die tapferen Frauen, die nach ihnen in Führung übernahmen: Swjatlana Zichanouskaja, Maryja Kales­nikawa und Veranika Zepkala. Die breite Koalition, die sich nach Zichanous­kajas Flucht ins Exil zusam­menfand – der Koordi­nie­rungsrat – wurde schon vor seiner ersten offizi­ellen Sitzung verboten und dann auf dieselbe Art enthauptet. Alle folgenden Versuche, basis­de­mo­kra­tische Struk­turen aufzu­bauen, ereilte dasselbe Schicksal: Verhaftung der Anführer und andere Formen der Druck­aus­übung auf die anderen Aktivisten. Dies betraf gleicher­maßen Arbei­ter­streik­ko­mitees, Studie­ren­den­ge­werk­schaften und Hinterhofgemeinschaften.

Nun sag’, wie hast du’s mit der Gewalt?

So sah sich die Protest­be­wegung mit einem schwie­rigen Dilemma konfron­tiert: Bliebe sie gewaltfrei, gäbe es keine Möglichkeit, die Anführer in Belarus vor Verhaf­tungen zu schützen. Würde sie sich hingegen für die Anwendung von Gewalt entscheiden, was einige Kommen­ta­toren vorschlugen, hätte sie ihre moralische Überle­genheit verloren und mit ihr die überwäl­ti­gende Sympathie, die ihr sowohl in Belarus als auch inter­na­tional entge­gen­ge­bracht wurde. Letztlich blieben die Proteste überwiegend friedlich und der Staat unter­drückte sie mit überwäl­ti­gender Gewalt.

Seit dem Herbst 2020 glitt das Land in das ab, was man die schlimmste Menschen­rechts­krise seit Stalins Regie­rungszeit nennen kann. Mehr als 35.000 Menschen wurden verhaftet, mehr als 3.000 Anklagen bis heute erhoben. Bis Anfang Mai wurden mehr als 360 Menschen von lokalen Menschen­rechts­gruppen als politische Gefangene aufge­führt. Unmensch­liche Behandlung Gefan­gener ist inzwi­schen weit verbreitet: Insassen berichten von Prügel, Essens- und Schlaf­entzug, der Verwei­gerung medizi­ni­scher Versorgung, Duschen, Heizung, Matratzen und Decken. Zellen sind überfüllt und werden mit extrem chlor­hal­tigen Wasser “desin­fi­ziert”, was zusätz­liche gesund­heit­liche Probleme verursacht.

Das belaru­sische Parlament segnet nach wie vor Gesetze ab, die die Presse­freiheit beschränken, sowie das Demons­tra­tions- und Versamm­lungs­recht, während andere die Erlaubnis für die Polizei zum Einsatz von Schuss­waffen ausweiten oder unter­schied­liche Meinungs­äu­ße­rungen unter Strafe stellen, etwa die “Belei­digung der Republik Belarus”. Elf Journa­listen sitzen Anfang Mai hinter Gittern und Dutzende Medien werden entweder online gesperrt oder ihnen der Druck verboten.

Die zahnlose Inter­na­tionale Gemeinschaft

Die Inter­na­tionale Gemein­schaft verfügt über praktisch keine Hebel, um das Verhalten der belaru­si­schen Führung zu ändern. Minsk ist kein Mitglied irgend­einer inter­na­tio­nalen Organi­sation, die ihren Mitgliedern Zähne zeigen kann. Entschei­dungen der Vereinten Nationen und der OSZE haben Empfeh­lungs­cha­rakter und ihre Kritik wird größten­teils von Lukaschenka ignoriert. Unila­terale Sanktionen des Westens haben nur begrenzte Wirkung, da Moskau seine helfende Hand ausstrecken kann, wenn Lukaschenka an seine Grenzen kommt. Diese Tatsache wirkt ihrer­seits einschränkend auf den Westen, da niemand ein Interesse daran hat, Belarus durch zu viel Druck noch näher an Russland zu binden.

Die Repres­sionen haben zwei Ziele: Die aktivsten Vertreter der Protest­be­wegung zu isolieren – und den anderen Angst einzu­jagen. Nach einer Umfrage aus dem Dezember 2020 durch das deutsche Forschungs­in­stitut ZOiS ging diese Rechnung für das Regime auf. 20% der Befragten berich­teten, dass sie selbst, Famili­en­mit­glieder oder Freunde von staat­licher Gewalt betroffen waren. Während die Proteste die Unter­stützung von 45% der Befragten genießen (31% sind gegen die Bewegung), sagen 29%, dass sie an den Protesten selbst nicht teilnehmen, weil es zu gefährlich ist. Außerdem glauben 12% nicht, dass Proteste irgend­etwas ändern können.

Kein Weg zu mehr Legiti­mität für Lukaschenka

Das Problem des Regimes ist, dass sich die Wahlprä­fe­renzen der Gesell­schaft nicht ändern. Die erwähnte ZOiS-Umfrage und eine Serie von Umfragen durch das Chatham House legen nahe, dass Lukaschenka praktisch dieselbe geringe Zustimmung genießt wie im August 2020 – ca. 20%. Da die Auswahl der Befragten nicht wirklich reprä­sen­tativ ist – Inter­net­nutzer in den Städten, die ca. 75% der Bevöl­kerung stellen – dürfte die tatsäch­liche Zustimmung zu Lukaschenka in der Gesamt­be­völ­kerung eher zwischen 25% und 35% liegen.

Für die Zeit nach 2020 dürfte dieser Wert die maximal erreichbare Wähler­zu­stimmung für ihn darstellen. Erstens sind viele Wähler wegen der Gewalt­an­wendung der letzten Monate für ihn aus morali­schen Gründen unerreichbar. Zweitens kann er seine Zustim­mungs­werte nicht durch das  Steigen von Einkommen und BIP erkaufen. Diese Option wird ihm auch in den kommenden Jahren nicht zur Verfügung stehen. IWF und Weltbank prognos­ti­zieren der belaru­si­schen Wirtschaft trotz der weltweiten Nach-Covid-Erholung für das Jahr 2021 Stagnation. Die politische Insta­bi­lität erhöht das Inves­ti­ti­ons­risiko und beschleunigt die Abwan­derung der klugen Köpfe aus den erfolg­reichsten Sektoren ins Ausland. Das Haushalts­de­fizit sowie die immer proble­ma­ti­scheren Schulden staat­licher Unter­nehmen legen nahe, dass es unmöglich sein wird, politische Zustimmung zu erkaufen.

Das bedeutet, dass für den Rest seiner Amtszeit Gewalt­an­wendung die einzige zuver­lässige Option sein wird, die Kontrolle über das Land zu behalten. Diese Tendenz wirkt selbst­ver­stärkend: Ist der Weg zu brutaler Unter­drü­ckung erstmal beschritten, ist er sehr schwer, diesen wieder zu verlassen, da niemand wissen kann, wie die frustrierte und wütende Gesell­schaft auf Locke­rungen reagieren würde. Selbst­ver­ständlich bindet ein solches Regie­rungs­modell mehr Ressourcen als das relative stabile und autoritäre Regime, das bis 2020 in Belarus vorherrschte.

Die Gewalt­spirale ohne Entrinnen

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Je länger Lukaschenka auf brutale Gewalt setzt, desto weniger kann er die Spaltung zwischen ihm und der Mehrheits­ge­sell­schaft überwinden, indem er die strau­chelnde Wirtschaft in Ordnung bringt. Sein Mangel an Legiti­mität sowohl durch das eigene Volk als auch inter­na­tional beschränkt seinen Handlungs­spielraum. Selbst Russland muss Lukaschenkas geschwächte Position in seinen Plänen für Belarus einkal­ku­lieren. Nicht jedes von ihm unter­zeichnete Integra­ti­ons­ab­kommen wird von der Inter­na­tio­nalen Gemein­schaft anerkannt oder von den Belarusen akzep­tiert werden.

So wird deutlich, dass der Weg zu einem politi­schen Wandel länger sein wird, als es die meisten Leute im August 2020 erwar­teten. Er wird gepflastert sein mit weiteren Krisen, da das aktuelle Regime weiterhin politisch und wirtschaftlich auf den Bankrott hinsteuert. Obwohl die Proteste von 2020 nicht die gewünschten Ergeb­nisse lieferten, wurden sie auf andere Weise zum Gamech­anger: Zum ersten Mal in 26 Jahren haben Lukaschenkas Gegner erkannt, dass sie eine Mehrheit stellen. Diese Erkenntnis kann nicht rückgängig gemacht oder vergessen werden und sie wartet auf die nächste Gelegenheit, sich Ausdruck zu verschaffen.

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