Der eurasische Krisenbogen
Im post-sowjetischen Raum stellt das Jahr 2020 bereits heute eine Zäsur da – und das nicht nur wegen der Pandemie, die auch hier verheerende Auswirkungen hat. Vielmehr steht das Jahr östlich der Europäischen Union für beschleunigten sozialen und politischen Wandel, der in vielen Staaten die Züge eines revolutionären Umbruchs trägt. In der internationalen Politik war lange die Rede von einem nahöstlichen Krisenbogen, der von Nordafrika bis nach Pakistan reicht (MENA-Staaten). Viel spricht dafür, dass wir es in den nächsten Jahren mit einem weiteren Raum der Instabilität und des Umbruchs zu tun haben werden, der sich von Belarus im Westen über den Kaukasus bis nach Kirgistan in Zentralasien erstreckt. Die Zeit der repressiven Stabilität in den post-sowjetischen Autokratien ist zu Ende.
Belarus und Lukaschenka
In der früheren Sowjetrepublik Belarus, die unter Aljaksandr Lukaschenka als Symbol für autokratische Herrschaft stand, dauern die Proteste gegen die gefälschten Wahlen und die Herrschaft des Autokraten bereits seit August an. Mittlerweile herrscht ein Patt zwischen den Protestierenden, die große Teile des Volkes und ihre westlichen Nachbarn hinter sich wissen, und der Staatsgewalt unter Lukaschenka, der sich auf seinen Repressionsapparat und den Kreml stützt. Wie dieser Machtkampf ausgehen wird, ist zurzeit nicht abzusehen – der Alleinherrscher setzt bislang vergeblich auf eine Ermüdungsstrategie mit partiellem Gewalteinsatz. Doch eines ist bereits jetzt sicher: Eine Rückkehr zur belarussischen Normalität vor dem August 2020 wird es nicht geben. Selbst wenn das Regime die demokratische Herausforderung überstehen sollte, ist seine Legitimität verloren.
Doch in diesen Wochen ist Belarus in der früheren UdSSR nur ein Krisenherd unter vielen. In Kirgistan erschütterten Proteste wegen gefälschter Wahlen Anfang Oktober innerhalb weniger Tage das gesamte Establishment. Demonstranten stürmten Regierungsgebäude sowie das Parlament und der Staatspräsident sah sich zum Rücktritt gezwungen. Dies war bereits die dritte erfolgreiche Revolte in Kirgistan seit 2005 – politische Stabilität sieht anders aus. Auch wenn es in den anderen zentralasiatischen Republiken vergleichsweise ruhig ist, werden sie von ähnlichen Problemen geplagt: Korruption, die Herrschaft einzelner Clans sowie die wachsende Diskrepanz zwischen Eliten und Bevölkerung. Hinter diesen politischen Herausforderungen steht die größere Frage, welche Ergebnisse die Versuche post-sowjetischer Nationsbildung nach drei Jahrzehnten eigentlich gezeitigt haben. Die autoritäre Modernisierung stößt auch in Zentralasien an ihre Grenzen. Auch in Georgien gibt seit einigen Wochen Proteste gegen manipulierte Wahlen, die man mit den Bewegungen in Belarus oder Kirgistan vergleichen kann. Der gemeinsame Nenner ist in allen drei Republiken der Einsatz für freie, nicht manipulierte Wahlen.
Kaukasus, Aserbaidschan und Armenien
Bereits im September ist im Kaukasus der Krieg Aserbaidschans mit Armenien um die Enklave Nagorny-Karabach erneut eskaliert. Dieser Konflikt, der bereits in den letzten Jahren der Perestroika ausbrach, gehörte über Jahre zu den zahlreichen frozen conflicts in der früheren UdSSR. Die Entwicklung der vergangenen Wochen zeigt, wie schnell einer dieser stillgelegten Kriege sich wieder zu einer militärischen Auseinandersetzung ausweiten kann. Keiner der Konflikte auf dem Territorium der früheren UdSSR konnte bisher friedlich beigelegt werden: weder in Transnistrien noch im Donbas oder zwischen Russland und Georgien. Mit der Ausnahme des Baltikums, das wegen seiner Mitgliedschaft in NATO und EU eine Sonderrolle einnimmt, ist der post-sowjetische Raum auch ein post-imperiales Schlachtfeld, dessen Eliten den Einsatz militärischer Gewalt häufig als legitimes Mittel betrachten. Auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion fehlen Strukturen zur zivilen Beendigung dieser Konflikte.
Der militärische Vorteil Aserbaidschans im Waffenstillstand vom 9. November 2020 zeigt, dass ein Bündnis mit der Türkei für einen post-sowjetischen Staat mittlerweile wichtiger sein kann als gute Beziehungen zu Moskau. Russland, das sich lange als Schutzmacht Armeniens inszenierte, hat seinen Verbündeten in diesem Konflikt im Stich gelassen. Nun versucht der Kreml durch den Einsatz von Friedenstruppen in der Region wieder Einfluss zu gewinnen. Doch es bleibt die Tatsache, dass die militärische Initiative der Türkei erfolgreich war und die Gewichte zugunsten ihres Alliierten in Baku verschoben hat. Russland hat im eigenen Einflussgebiet nicht agiert, sondern nur reagiert und erhält nun die undankbare Aufgabe einen Frieden zu überwachen, mit dem keiner der beteiligten Staaten zufrieden sein kann.
Durch das Eingreifen weiterer Mächte wird die Lage im post-sowjetischen Raum noch unübersichtlich. So weist die militärische Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan über diese beiden Staaten hinaus. Der Krieg verdeutlicht, dass Moskaus Autorität als Hegemonialmacht in der früheren UdSSR schwindet. Längst spielen andere Akteure im sog. nahen Ausland eine wichtige Rolle: in Belarus und der Ukraine die Europäische Union, insbesondere vertreten durch ihre östlichen Mitglieder, in Zentralasien die Volksrepublik China und im Kaukasus eben die Türkei. Ankara versucht sich offensiv als Macht im post-sowjetischen Kaukasus zu etablieren – mit unbekannten Konsequenzen. Dass Moskaus Gewicht in seinem früheren Imperium beständig schwindet, ist keineswegs nur eine positive Entwicklung: Kurzfristig dürfte dies eher dazu beitragen, dass sich Konflikte noch verschärfen, weil andere Mächte in das Vakuum vorstoßen, das der Kreml hinterlässt. Der Kaukasus ist dabei nur eine Region, die von wachsender Instabilität bedroht ist – eine Eskalation in Belarus oder auch in der Ukraine würden Europa wesentlich direkter betreffen.
Putins Dilemma
Seit 2012 hat der Kreml zahlreiche Konflikte geschürt; das Regime Putins zog ähnlich wie die Sowjetunion seine Legitimation aus der Erzählung von der „belagerten Festung“, in der das Volk hinter der Führung stehen müsse. Mittlerweile mehren sich die Zeichen, dass diese Strategie nicht mehr aufgeht. Der Kreml hat sich übernommen: Neben dem selbst-gewählten Dauerkonflikt mit den USA (und Großbritannien) tritt eine zunehmend belastete Beziehung mit Deutschland und Frankreich, den Führungsmächten der EU. Erdoğans Türkei ist bestenfalls ein frenemy, eigentlich aber ein Rivale an Russlands Südflanke und wie lange sich China in Zentralasien noch zurückhalten wird, wissen wir nicht.
Das Jahr 2020 verdeutlicht, dass der imperiale Zerfall in Moskaus Glacis drei Jahrzehnte nach dem Ende der UdSSR weiter voranschreitet, dass die Nationsbildung – insbesondere außerhalb Europas – fragil bleibt und dass der post-sowjetische Raum immer stärker zu einem Feld wird, auf dem verschiedene Mächte und Ordnungsvorstellungen – auch militärisch – konkurrieren. Die NATO und die EU, die Türkei, die hier nicht mehr als westlicher Bündnispartner agiert, der Iran und China verfolgen in der früheren UdSSR keine gemeinsamen Ziele, doch ihre Präsenz geht auf Kosten Moskaus.
Hoffnung Pluralismus
Jenseits dieser geopolitischen Gemengelage gibt es auch einen Silberstreif am Horizont der post-kommunistischen Welt: die Rückkehr der Hoffnung auf Demokratie. Fast drei Jahrzehnte lang haben wir die Konsolidierung autoritärer Herrschaft beobachten können; dies führte soweit, dass auch in Teilen der EU und der USA die Anhängerschaft eines autokratischen Populismus wuchs. In der früheren UdSSR scheint dieser autoritäre roll-back, der auf Gorbatschow folgte, an sein Ende gekommen zu sein. Die Führerpersönlichkeiten der 1990er Jahre, die häufig noch an der Macht sind, treten in den Herbst ihrer politischen Karriere. Längst hat ihre Herrschaft einen anachronistischen Zug. Ihre Werte und Ziele decken sich nicht mehr mit denen einer neuen Generation, die nach dem Kommunismus aufgewachsen ist. In den kommenden Jahren wird diese letzte Kohorte sowjetisch-sozialisierter Würdenträger abtreten. Es ist noch offen, wer an ihre Stelle tritt. In den populären Protesten der vergangenen Jahre – von Russland 2011 bis Belarus und Kirgistan – zeigt sich jedenfalls der hohe Stellenwert freier Wahlen für eine Bevölkerung, die liberale Demokratie nur aus dem Ausland kennt. Im Unterschied zur Zeit Gorbatschows haben sich die Gesellschaften von Belarus bis nach Russland und Zentralasien stärker ausdifferenziert. Die graue Einheit der sowjetischen Epoche ist größerer Vielfalt gewichen. Deshalb besteht die Hoffnung, dass die nächste Perestroika nicht wie in den 1980er Jahren eine oktroyierte Zivilisierung sein wird, sondern das neue Formen sozialen Zusammenlebens und politischer Herrschaft aus der Gesellschaft entstehen könnten. In Belarus wird der zivile Protest gerade auch von den Frauen des Landes getragen – ein wichtiges Signal für die patriarchalen Gesellschaften der Region. Das Engagement der Frauen und der Jugend führt in die politische, soziale und kulturelle Emanzipation von den autoritären Erbschaften des Sozialismus.
Selbstzentrierter Westen
Den Westen trifft die Entstehung des eurasischen Krisenbogens weitgehend unvorbereitet. Die USA und die EU sind mit sich selbst beschäftigt, Deutschland besteht weiterhin auf einer Sonderbeziehung zu Moskau und Emmanuel Macron träumte noch vor Kurzem vom reset mit dem Kreml. Tatsächlich benötigen wir dringend eine Debatte über die Perspektiven für den gesamten post-sowjetischen Raum, über die Herausforderung einer realistischen Außenpolitik, die Demokratisierung und Menschenrechte nicht ausklammert, aber zugleich den geopolitischen Realitäten ins Auge sieht. Wie begegnen wir den Krisen zwischen Europa und Asien, welche friedliche und stabile Ordnung können wir uns in der Region vorstellen, was bedeutet das für Berlin und Europa? Diese Fragen sind offen.
Nicht nur die andauernde Pandemie deutet auf eine Krisenlage östlich unserer Grenzen hin, sondern auch der Herbst der Autokratie und die Sehnsucht nach demokratischer Staatlichkeit. Der Winter könnte weitere Turbulenzen bringen. Sicher ist der europäische Einfluss begrenzt – das hat der Krieg im Südkaukasus verdeutlicht. Umso wichtiger wird es sein, dass Berlin und Brüssel diejenigen unterstützen, die sich für demokratischen Wandel einsetzen. Außerdem gilt es Mechanismen zu entwickeln, um Konflikte in Eurasien zivil zu lösen. Wenn das gelingt, dann wäre die schwindende Macht des Kremls eine positive Entwicklung für den gesamten Raum.
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