Der eurasische Krisenbogen

Die Staaten der früheren Sowjetunion Grafik: Shutterstock pablofdezr
Die Staaten der früheren Sowjet­union Grafik: Shutter­stock pablofdezr

Im post-sowje­ti­schen Raum stellt das Jahr 2020 bereits heute eine Zäsur da – und das nicht nur wegen der Pandemie, die auch hier verhee­rende Auswir­kungen hat. Vielmehr steht das Jahr östlich der Europäi­schen Union für beschleu­nigten sozialen und politi­schen Wandel, der in vielen Staaten die Züge eines revolu­tio­nären Umbruchs trägt. In der inter­na­tio­nalen Politik war lange die Rede von einem nahöst­lichen Krisen­bogen, der von Nordafrika bis nach Pakistan reicht (MENA-Staaten). Viel spricht dafür, dass wir es in den nächsten Jahren mit einem weiteren Raum der Insta­bi­lität und des Umbruchs zu tun haben werden, der sich von Belarus im Westen über den Kaukasus bis nach Kirgistan in Zentral­asien erstreckt. Die Zeit der repres­siven Stabi­lität in den post-sowje­ti­schen Autokratien ist zu Ende.

Belarus und Lukaschenka

In der früheren Sowjet­re­publik Belarus, die unter Aljaksandr Lukaschenka als Symbol für autokra­tische Herrschaft stand, dauern die Proteste gegen die gefälschten Wahlen und die Herrschaft des Autokraten bereits seit August an. Mittler­weile herrscht ein Patt zwischen den Protes­tie­renden, die große Teile des Volkes und ihre westlichen Nachbarn hinter sich wissen, und der Staats­gewalt unter Lukaschenka, der sich auf seinen Repres­si­ons­ap­parat und den Kreml stützt. Wie dieser Macht­kampf ausgehen wird, ist zurzeit nicht abzusehen – der Allein­herr­scher setzt bislang vergeblich auf eine Ermüdungs­stra­tegie mit parti­ellem Gewalt­einsatz. Doch eines ist bereits jetzt sicher: Eine Rückkehr zur belarus­si­schen Norma­lität vor dem August 2020 wird es nicht geben. Selbst wenn das Regime die demokra­tische Heraus­for­derung überstehen sollte, ist seine Legiti­mität verloren.

Doch in diesen Wochen ist Belarus in der früheren UdSSR nur ein Krisenherd unter vielen. In Kirgistan erschüt­terten Proteste wegen gefälschter Wahlen Anfang Oktober innerhalb weniger Tage das gesamte Estab­lishment. Demons­tranten stürmten Regie­rungs­ge­bäude sowie das Parlament und der Staats­prä­sident sah sich zum Rücktritt gezwungen. Dies war bereits die dritte erfolg­reiche Revolte in Kirgistan seit 2005 – politische Stabi­lität sieht anders aus. Auch wenn es in den anderen zentral­asia­ti­schen Republiken vergleichs­weise ruhig ist, werden sie von ähnlichen Problemen geplagt: Korruption, die Herrschaft einzelner Clans sowie die wachsende Diskrepanz zwischen Eliten und Bevöl­kerung. Hinter diesen politi­schen Heraus­for­de­rungen steht die größere Frage, welche Ergeb­nisse die Versuche post-sowje­ti­scher Nations­bildung nach drei Jahrzehnten eigentlich gezeitigt haben. Die autoritäre Moder­ni­sierung stößt auch in Zentral­asien an ihre Grenzen. Auch in Georgien gibt seit einigen Wochen Proteste gegen manipu­lierte Wahlen, die man mit den Bewegungen in Belarus oder Kirgistan vergleichen kann. Der gemeinsame Nenner ist in allen drei Republiken der Einsatz für freie, nicht manipu­lierte Wahlen.

Kaukasus, Aserbai­dschan und Armenien

Bereits im September ist im Kaukasus der Krieg Aserbai­dschans mit Armenien um die Enklave Nagorny-Karabach erneut eskaliert. Dieser Konflikt, der bereits in den letzten Jahren der Perestroika ausbrach, gehörte über Jahre zu den zahlreichen frozen conflicts in der früheren UdSSR. Die Entwicklung der vergan­genen Wochen zeigt, wie schnell einer dieser still­ge­legten Kriege sich wieder zu einer militä­ri­schen Ausein­an­der­setzung ausweiten kann. Keiner der Konflikte auf dem Terri­torium der früheren UdSSR konnte bisher friedlich beigelegt werden: weder in Trans­nis­trien noch im Donbas oder zwischen Russland und Georgien. Mit der Ausnahme des Baltikums, das wegen seiner Mitglied­schaft in NATO und EU eine Sonder­rolle einnimmt, ist der post-sowje­tische Raum auch ein post-imperiales Schlachtfeld, dessen Eliten den Einsatz militä­ri­scher Gewalt häufig als legitimes Mittel betrachten. Auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjet­union fehlen Struk­turen zur zivilen Beendigung dieser Konflikte.

Der militä­rische Vorteil Aserbai­dschans im Waffen­still­stand vom 9. November 2020 zeigt, dass ein Bündnis mit der Türkei für einen post-sowje­ti­schen Staat mittler­weile wichtiger sein kann als gute Bezie­hungen zu Moskau. Russland, das sich lange als Schutz­macht Armeniens insze­nierte, hat seinen Verbün­deten in diesem Konflikt im Stich gelassen. Nun versucht der Kreml durch den Einsatz von Friedens­truppen in der Region wieder Einfluss zu gewinnen. Doch es bleibt die Tatsache, dass die militä­rische Initiative der Türkei erfolg­reich war und die Gewichte zugunsten ihres Alliierten in Baku verschoben hat. Russland hat im eigenen Einfluss­gebiet nicht agiert, sondern nur reagiert und erhält nun die undankbare Aufgabe einen Frieden zu überwachen, mit dem keiner der betei­ligten Staaten zufrieden sein kann.

Durch das Eingreifen weiterer Mächte wird die Lage im post-sowje­ti­schen Raum noch unüber­sichtlich. So weist die militä­rische Eskalation zwischen Armenien und Aserbai­dschan über diese beiden Staaten hinaus. Der Krieg verdeut­licht, dass Moskaus Autorität als Hegemo­ni­al­macht in der früheren UdSSR schwindet. Längst spielen andere Akteure im sog. nahen Ausland eine wichtige Rolle: in Belarus und der Ukraine die Europäische Union, insbe­sondere vertreten durch ihre östlichen Mitglieder, in Zentral­asien die Volks­re­publik China und im Kaukasus eben die Türkei. Ankara versucht sich offensiv als Macht im post-sowje­ti­schen Kaukasus zu etablieren – mit unbekannten Konse­quenzen. Dass Moskaus Gewicht in seinem früheren Imperium beständig schwindet, ist keineswegs nur eine positive Entwicklung: Kurzfristig dürfte dies eher dazu beitragen, dass sich Konflikte noch verschärfen, weil andere Mächte in das Vakuum vorstoßen, das der Kreml hinter­lässt. Der Kaukasus ist dabei nur eine Region, die von wachsender Insta­bi­lität bedroht ist – eine Eskalation in Belarus oder auch in der Ukraine würden Europa wesentlich direkter betreffen.

Putins Dilemma

Seit 2012 hat der Kreml zahlreiche Konflikte geschürt; das Regime Putins zog ähnlich wie die Sowjet­union seine Legiti­mation aus der Erzählung von der „belagerten Festung“, in der das Volk hinter der Führung stehen müsse. Mittler­weile mehren sich die Zeichen, dass diese Strategie nicht mehr aufgeht. Der Kreml hat sich übernommen: Neben dem selbst-gewählten Dauer­kon­flikt mit den USA (und Großbri­tannien) tritt eine zunehmend belastete Beziehung mit Deutschland und Frank­reich, den Führungs­mächten der EU. Erdoğans Türkei ist besten­falls ein frenemy, eigentlich aber ein Rivale an Russlands Südflanke und wie lange sich China in Zentral­asien noch zurück­halten wird, wissen wir nicht.

Das Jahr 2020 verdeut­licht, dass der imperiale Zerfall in Moskaus Glacis drei Jahrzehnte nach dem Ende der UdSSR weiter voran­schreitet, dass die Nations­bildung – insbe­sondere außerhalb Europas – fragil bleibt und dass der post-sowje­tische Raum immer stärker zu einem Feld wird, auf dem verschiedene Mächte und Ordnungs­vor­stel­lungen – auch militä­risch – konkur­rieren. Die NATO und die EU, die Türkei, die hier nicht mehr als westlicher Bündnis­partner agiert, der Iran und China verfolgen in der früheren UdSSR keine gemein­samen Ziele, doch ihre Präsenz geht auf Kosten Moskaus.

Hoffnung Plura­lismus

Jenseits dieser geopo­li­ti­schen Gemengelage gibt es auch einen Silber­streif am Horizont der post-kommu­nis­ti­schen Welt: die Rückkehr der Hoffnung auf Demokratie. Fast drei Jahrzehnte lang haben wir die Konso­li­dierung autori­tärer Herrschaft beobachten können; dies führte soweit, dass auch in Teilen der EU und der USA die Anhän­ger­schaft eines autokra­ti­schen Populismus wuchs. In der früheren UdSSR scheint dieser autoritäre roll-back, der auf Gorbat­schow folgte, an sein Ende gekommen zu sein. Die Führer­per­sön­lich­keiten der 1990er Jahre, die häufig noch an der Macht sind, treten in den Herbst ihrer politi­schen Karriere. Längst hat ihre Herrschaft einen anachro­nis­ti­schen Zug. Ihre Werte und Ziele decken sich nicht mehr mit denen einer neuen Generation, die nach dem Kommu­nismus aufge­wachsen ist. In den kommenden Jahren wird diese letzte Kohorte sowje­tisch-sozia­li­sierter Würden­träger abtreten. Es ist noch offen, wer an ihre Stelle tritt. In den populären Protesten der vergan­genen Jahre – von Russland 2011 bis Belarus und Kirgistan – zeigt sich jeden­falls der hohe Stellenwert freier Wahlen für eine Bevöl­kerung, die liberale Demokratie nur aus dem Ausland kennt. Im Unter­schied zur Zeit Gorbat­schows haben sich die Gesell­schaften von Belarus bis nach Russland und Zentral­asien stärker ausdif­fe­ren­ziert. Die graue Einheit der sowje­ti­schen Epoche ist größerer Vielfalt gewichen. Deshalb besteht die Hoffnung, dass die nächste Perestroika nicht wie in den 1980er Jahren eine oktroy­ierte Zivili­sierung sein wird, sondern das neue Formen sozialen Zusam­men­lebens und politi­scher Herrschaft aus der Gesell­schaft entstehen könnten. In Belarus wird der zivile Protest gerade auch von den Frauen des Landes getragen – ein wichtiges Signal für die patri­ar­chalen Gesell­schaften der Region. Das Engagement der Frauen und der Jugend führt in die politische, soziale und kultu­relle Emanzi­pation von den autori­tären Erbschaften des Sozialismus.

Selbst­zen­trierter Westen

Den Westen trifft die Entstehung des eurasi­schen Krisen­bogens weitgehend unvor­be­reitet. Die USA und die EU sind mit sich selbst beschäftigt, Deutschland besteht weiterhin auf einer Sonder­be­ziehung zu Moskau und Emmanuel Macron träumte noch vor Kurzem vom reset mit dem Kreml. Tatsächlich benötigen wir dringend eine Debatte über die Perspek­tiven für den gesamten post-sowje­ti­schen Raum, über die Heraus­for­derung einer realis­ti­schen Außen­po­litik, die Demokra­ti­sierung und Menschen­rechte nicht ausklammert, aber zugleich den geopo­li­ti­schen Reali­täten ins Auge sieht. Wie begegnen wir den Krisen zwischen Europa und Asien, welche fried­liche und stabile Ordnung können wir uns in der Region vorstellen, was bedeutet das für Berlin und Europa? Diese Fragen sind offen.

Nicht nur die andau­ernde Pandemie deutet auf eine Krisenlage östlich unserer Grenzen hin, sondern auch der Herbst der Autokratie und die Sehnsucht nach demokra­ti­scher Staat­lichkeit. Der Winter könnte weitere Turbu­lenzen bringen. Sicher ist der europäische Einfluss begrenzt – das hat der Krieg im Südkau­kasus verdeut­licht. Umso wichtiger wird es sein, dass Berlin und Brüssel dieje­nigen unter­stützen, die sich für demokra­ti­schen Wandel einsetzen. Außerdem gilt es Mecha­nismen zu entwi­ckeln, um Konflikte in Eurasien zivil zu lösen. Wenn das gelingt, dann wäre die schwin­dende Macht des Kremls eine positive Entwicklung für den gesamten Raum.

Textende

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