Osteuropa vertreibt meinen Brexit-Blues
Unser Autor, ein britischer Journalist, nimmt in der Slowakei an einer Diskussion neun mittel- und osteuropäischer Präsidenten teil. Auf dem Rückflug hat er das verstörende Gefühl, den dynamischen Teil Europas zu verlassen und an seinen liebenswert skurrilen, aber unbedarften Rand zurückzukehren.
Jüngst kamen die Präsidenten von Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens und Bulgariens in der schönen slowakischen Stadt Košice zusammen. Meine Aufgabe war es, für Unterhaltung zu sorgen und zu diskutieren, wie offene Gesellschaften vor der Bedrohung des „hybriden Kriegs“ geschützt werden können. Vor dem giftigen Cocktail des Kreml, der sich aus Geld, Propaganda, Zersetzung und anderem Unheil zusammensetzt.
Trotz der gemeinsamen Gefangenschaft im sowjetischen Imperium ist die Region, die wir oft „Osteuropa“ nennen, kein Monolith. Selbst dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus neigen Außenstehende dazu, alles jenseits des alten Eisernen Vorhangs bequem in die gleiche Schublade zu packen unter den Stichwörtern: „rückschrittlich“, „exzentrisch“ und „mühselig“.
Zugegebenermaßen sind diese Stereotype nicht ganz unbegründet. Der ungarische Präsident János Áder stellte nicht die Einmischung des Kreml in den Vordergrund, sondern die Gefahr durch einflussreiche Minderheiten mit reichen Hintermännern. Das ist ein Codewort für George Soros, den Milliardär und Philanthropen, der in der gesamten Region eine liberale, gute Sache unterstützt, jetzt aber in Ungarn Ziel einer Hetzkampagne der Regierung ist. Der tschechische Präsident Miloš Zeman hingegen, dessen schwermütiges Gebaren über seine geselligen Gewohnheiten hinwegtäuscht, genießt es, Streit zu führen. Er rauchte während des gesamten Mittagessens und drosch auf seine Amtskollegen wegen deren atlantischer Ausrichtung ein: Die Geschichte zeige, dass Lügen und Unheil in Wirklichkeit von der CIA herrührten.
Figuren wie Zeman und Orban sind Sonderfälle
Wie sich doch Zeiten und Leute ändern. Ich bin Zeman das erste Mal in der kommunistischen Tschechoslowakei begegnet, als er seinen prestigereichen Posten in der akademischen Welt wegen reformfreundlicher Ansichten verloren hatte. Jetzt setzt er sich für bessere Verbindungen zu China und Russland ein. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban war seinerzeit noch ein munterer liberaler Dissident. Jetzt führt er eine grobschlächtige, putinfreundliche Regierung, die andere konservative Parteien in Europa zusammenzucken lässt.
Aber diese Figuren sind Sonderfälle. Die mittel- und osteuropäische Zeitgeschichte handelt vom Widerstand gegen antiwestlichen, kremlfreundlichen Filz, sowie gegen Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, die damit einhergehen. Die Osteuropäer schätzen die Würde, die Freiheit und die Offenheit, die sie seit 1989 gewonnen haben. Sie betrachten die NATO und die Europäische Union als Garanten ihrer Freiheit und Sicherheit.
Ein Beispiel für die optimistische, offene Stimmung ist die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid. Sie ist 49 Jahre alt, gradlinig und lief kürzlich den Marathon in New York, mit ihren schnaufenden Bodyguards im Schlepptau. Die frühere Eurokratin fördert Start-ups, eine schicke E‑Verwaltung sowie alle Anstrengungen, die das Selbstvertrauen und die Führungsfähigkeiten von Frauen stärken. Das hat das Interesse von Melania und Ivanka Trump geweckt, was Estland einen nützlichen Zugang ins Weiße Haus eröffnete. Kaljulaid ist in Afrika und in der Karibik umhergeschwirrt, um Unterstützung für Estlands Bewerbung auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu sammeln. Als Opfer des Imperialismus kommt Estland gut mit anderen ehemaligen Kolonien zurecht.
Populisten sind erfolgreich, weil ihr Konkurrenz so schwach ist
Eine andere Überfliegerin ist Laura Codruța Kövesi. Sie war die rumänische Generalstaatsanwältin – die erste Frau und die jüngste Person überhaupt in diesem Amt. Anschließend leitete sie die Antikorruptionsbehörde des Landes, die DNA, jene politische Institution Rumäniens, die das größte Vertrauen genießt. Sie wurde gefeuert, als sie zu erfolgreich wurde. Jetzt ist die 45-Jährige die aussichtsreichste Kandidatin für die neue Europäische Staatsanwaltschaft – trotz der Einwände der eigenen Regierung, die bezeichnenderweise vehement ausfallen.
Eine dritte Frau, die zu beachten ist, ist die vermutlich nächste Präsidentin der Slowakei: Zuzana Čaputová, eine Juristin, die sich durch die Kampagne gegen eine fragwürdige kommunale Mülldeponie einen Namen gemacht hat. Sie liegt in den Umfragen vor den Präsidentschaftswahlen vom 16. März nach einem raketenhaften Aufschwung vor zwei etablierten Kandidaten.
Diese schlagkräftigen Frauen sprengen westliche Stereotype. Wenn doch bloß Politik und Parteien ihrem Beispiel folgen könnten! Bei Parlamentswahlen und Entscheidungsprozessen in der Regierung wird das Bild von Unternehmensinteressen, regionalen Spannungen und andere Faktoren getrübt. In vielen Ländern der Region haben etablierte Politiker die oft berechtigte Reputation, selbstgefällig und korrupt zu sein. Es ist leicht zu verstehen, warum Wähler das Bedürfnis nach etwas Neuem haben, selbst wenn es von außen fragwürdig anmutet. Autoritäre Politiker, Gauner und Populisten sind nicht deshalb erfolgreich, weil ihre Botschaften verfangen, sondern vielmehr, weil ihre Konkurrenz, der Mainstream, so schwach und gespalten ist.
Man fragt nach dem Brexit – so wie man nach einem dementen Verwandten fragt
Insgesamt lautet die Erkenntnis jedoch, dass Europas einst tiefgreifende Trennung in Ost und West zunehmend irrelevant wird. Wenn Sie echte Anzeichen für eine gefährdete Demokratie sehen wollen, sollten Sie sich nach Süden wenden und auf Italien schauen, wo sich kürzlich herausstellte, dass die Lega Nord von Innenminister Matteo Salvini direkte Finanzierung aus Russland erhalten hat. Die aggressiven und oft antisemitischen „Gelbwesten“ in Frankreich haben kaum Entsprechungen im ehemals kommunistischen Osten.
Genauso wenig werden Großbritanniens Neurosen in Bezug auf Europa verstanden. Viele Länder rangeln mit Brüssel. Niemand aber reagiert so, wie mein Land das getan hat. Unterdessen geht das Leben ohne uns weiter. Die Diskussionen der Präsidenten konzentrierten sich auf Energiesicherheit (also auf Gaspipelines) und auf Afghanistan: Die USA beabsichtigen, so befürchten sie, ihre Truppen abzuziehen und die Verbündeten allein zurückzulassen. Es wurde viel von „militärischer Mobilität“ gesprochen: von gemeinsamen Anstrengungen der NATO und der EU zur Änderung der Vorschriften und der Infrastruktur, damit Soldaten und Ausrüstung rasch und reibungslos bewegt werden können.
Bei dem Treffen in der Ostslowakei fragten mich die Präsidenten und deren Mitarbeiter nach dem Brexit, allerdings auf eine Art und Weise, wie sich jemand höflich nach einem Verwandten erkundigt, der an Demenz leidet. Sie sind besorgt wegen der Ignoranz britischer Politiker. Verteidigungsminister Gavin Williamson vermasselte es vergangene Woche, als er von den britischen Anstrengungen zum Schutz von „Litauen“ sprach – er meinte Estland, wo Großbritannien die Aktivitäten der NATO koordiniert. Außenminister Jeremy Hunt hat Slowenien, eine ehemalige jugoslawische Teilrepublik, als „sowjetischen Vasallenstaat“ bezeichnet. Vermutlich meinte er die Slowakei.
Auf dem Rückflug aus Košice hatte ich ein merkwürdiges Gefühl: Ich verlasse den dynamischen und interessanten Teil Europas und kehre an seinen zwar liebenswert skurrilen, doch unbedarften Rand zurück.
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