Osteuropa vertreibt meinen Brexit-Blues

© Maros M r a z (Maros) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)]

Unser Autor, ein briti­scher Journalist, nimmt in der Slowakei an einer Diskussion neun mittel- und osteu­ro­päi­scher Präsi­denten teil. Auf dem Rückflug hat er das verstö­rende Gefühl, den dynami­schen Teil Europas zu verlassen und an seinen liebenswert skurrilen, aber unbedarften Rand zurückzukehren.

Jüngst kamen die Präsi­denten von Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Tsche­chi­schen Republik, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens und Bulga­riens in der schönen slowa­ki­schen Stadt Košice zusammen. Meine Aufgabe war es, für Unter­haltung zu sorgen und zu disku­tieren, wie offene Gesell­schaften vor der Bedrohung des „hybriden Kriegs“ geschützt werden können. Vor dem giftigen Cocktail des Kreml, der sich aus Geld, Propa­ganda, Zersetzung und anderem Unheil zusammensetzt. 

Portrait von Edward Lucas

Edward Lucas ist Journalist und Sicherheitsexperte.

Trotz der gemein­samen Gefan­gen­schaft im sowje­ti­schen Imperium ist die Region, die wir oft „Osteuropa“ nennen, kein Monolith. Selbst dreißig Jahre nach dem Zusam­men­bruch des Kommu­nismus neigen Außen­ste­hende dazu, alles jenseits des alten Eisernen Vorhangs bequem in die gleiche Schublade zu packen unter den Stich­wörtern: „rückschrittlich“, „exzen­trisch“ und „mühselig“.

Zugege­be­ner­maßen sind diese Stereotype nicht ganz unbegründet. Der ungarische Präsident János Áder stellte nicht die Einmi­schung des Kreml in den Vorder­grund, sondern die Gefahr durch einfluss­reiche Minder­heiten mit reichen Hinter­männern. Das ist ein Codewort für George Soros, den Milli­ardär und Philan­thropen, der in der gesamten Region eine liberale, gute Sache unter­stützt, jetzt aber in Ungarn Ziel einer Hetzkam­pagne der Regierung ist. Der tsche­chische Präsident Miloš Zeman hingegen, dessen schwer­mü­tiges Gebaren über seine gesel­ligen Gewohn­heiten hinweg­täuscht, genießt es, Streit zu führen. Er rauchte während des gesamten Mittag­essens und drosch auf seine Amtskol­legen wegen deren atlan­ti­scher Ausrichtung ein: Die Geschichte zeige, dass Lügen und Unheil in Wirklichkeit von der CIA herrührten.

Figuren wie Zeman und Orban sind Sonderfälle

Wie sich doch Zeiten und Leute ändern. Ich bin Zeman das erste Mal in der kommu­nis­ti­schen Tsche­cho­slo­wakei begegnet, als er seinen presti­ge­reichen Posten in der akade­mi­schen Welt wegen reform­freund­licher Ansichten verloren hatte. Jetzt setzt er sich für bessere Verbin­dungen zu China und Russland ein. Ungarns Minis­ter­prä­sident Viktor Orban war seinerzeit noch ein munterer liberaler Dissident. Jetzt führt er eine grobschlächtige, putin­freund­liche Regierung, die andere konser­vative Parteien in Europa zusam­men­zucken lässt.

Aber diese Figuren sind Sonder­fälle. Die mittel- und osteu­ro­päische Zeitge­schichte handelt vom Wider­stand gegen antiwest­lichen, kreml­freund­lichen Filz, sowie gegen Intoleranz und Fremden­feind­lichkeit, die damit einher­gehen. Die Osteu­ropäer schätzen die Würde, die Freiheit und die Offenheit, die sie seit 1989 gewonnen haben. Sie betrachten die NATO und die Europäische Union als Garanten ihrer Freiheit und Sicherheit.

Ein Beispiel für die optimis­tische, offene Stimmung ist die estnische Präsi­dentin Kersti Kaljulaid. Sie ist 49 Jahre alt, gradlinig und lief kürzlich den Marathon in New York, mit ihren schnau­fenden Bodyguards im Schlepptau. Die frühere Eurokratin fördert Start-ups, eine schicke E‑Verwaltung sowie alle Anstren­gungen, die das Selbst­ver­trauen und die Führungs­fä­hig­keiten von Frauen stärken. Das hat das Interesse von Melania und Ivanka Trump geweckt, was Estland einen nützlichen Zugang ins Weiße Haus eröffnete. Kaljulaid ist in Afrika und in der Karibik umher­ge­schwirrt, um Unter­stützung für Estlands Bewerbung auf einen Sitz im UN-Sicher­heitsrat zu sammeln. Als Opfer des Imperia­lismus kommt Estland gut mit anderen ehema­ligen Kolonien zurecht.

Populisten sind erfolg­reich, weil ihr Konkurrenz so schwach ist

Eine andere Überflie­gerin ist Laura Codruța Kövesi. Sie war die rumänische General­staats­an­wältin – die erste Frau und die jüngste Person überhaupt in diesem Amt. Anschließend leitete sie die Antikor­rup­ti­ons­be­hörde des Landes, die DNA, jene politische Insti­tution Rumäniens, die das größte Vertrauen genießt. Sie wurde gefeuert, als sie zu erfolg­reich wurde. Jetzt ist die 45-Jährige die aussichts­reichste Kandi­datin für die neue Europäische Staats­an­walt­schaft – trotz der Einwände der eigenen Regierung, die bezeich­nen­der­weise vehement ausfallen.

Eine dritte Frau, die zu beachten ist, ist die vermutlich nächste Präsi­dentin der Slowakei: Zuzana Čaputová, eine Juristin, die sich durch die Kampagne gegen eine fragwürdige kommunale Müllde­ponie einen Namen gemacht hat. Sie liegt in den Umfragen vor den Präsi­dent­schafts­wahlen vom 16. März nach einem raketen­haften Aufschwung vor zwei etablierten Kandidaten.

Diese schlag­kräf­tigen Frauen sprengen westliche Stereotype. Wenn doch bloß Politik und Parteien ihrem Beispiel folgen könnten! Bei Parla­ments­wahlen und Entschei­dungs­pro­zessen in der Regierung wird das Bild von Unter­neh­mens­in­ter­essen, regio­nalen Spannungen und andere Faktoren getrübt. In vielen Ländern der Region haben etablierte Politiker die oft berech­tigte Reputation, selbst­ge­fällig und korrupt zu sein. Es ist leicht zu verstehen, warum Wähler das Bedürfnis nach etwas Neuem haben, selbst wenn es von außen fragwürdig anmutet. Autoritäre Politiker, Gauner und Populisten sind nicht deshalb erfolg­reich, weil ihre Botschaften verfangen, sondern vielmehr, weil ihre Konkurrenz, der Mainstream, so schwach und gespalten ist.

Man fragt nach dem Brexit – so wie man nach einem dementen Verwandten fragt

Insgesamt lautet die Erkenntnis jedoch, dass Europas einst tiefgrei­fende Trennung in Ost und West zunehmend irrelevant wird. Wenn Sie echte Anzeichen für eine gefährdete Demokratie sehen wollen, sollten Sie sich nach Süden wenden und auf Italien schauen, wo sich kürzlich heraus­stellte, dass die Lega Nord von Innen­mi­nister Matteo Salvini direkte Finan­zierung aus Russland erhalten hat. Die aggres­siven und oft antise­mi­ti­schen „Gelbwesten“ in Frank­reich haben kaum Entspre­chungen im ehemals kommu­nis­ti­schen Osten.

Genauso wenig werden Großbri­tan­niens Neurosen in Bezug auf Europa verstanden. Viele Länder rangeln mit Brüssel. Niemand aber reagiert so, wie mein Land das getan hat. Unter­dessen geht das Leben ohne uns weiter. Die Diskus­sionen der Präsi­denten konzen­trierten sich auf Energie­si­cherheit (also auf Gaspipe­lines) und auf Afgha­nistan: Die USA beabsich­tigen, so befürchten sie, ihre Truppen abzuziehen und die Verbün­deten allein zurück­zu­lassen. Es wurde viel von „militä­ri­scher Mobilität“ gesprochen: von gemein­samen Anstren­gungen der NATO und der EU zur Änderung der Vorschriften und der Infra­struktur, damit Soldaten und Ausrüstung rasch und reibungslos bewegt werden können.

Bei dem Treffen in der Ostslo­wakei fragten mich die Präsi­denten und deren Mitar­beiter nach dem Brexit, aller­dings auf eine Art und Weise, wie sich jemand höflich nach einem Verwandten erkundigt, der an Demenz leidet. Sie sind besorgt wegen der Ignoranz briti­scher Politiker. Vertei­di­gungs­mi­nister Gavin Williamson vermas­selte es vergangene Woche, als er von den briti­schen Anstren­gungen zum Schutz von „Litauen“ sprach – er meinte Estland, wo Großbri­tannien die Aktivi­täten der NATO koordi­niert. Außen­mi­nister Jeremy Hunt hat Slowenien, eine ehemalige jugosla­wische Teilre­publik, als „sowje­ti­schen Vasal­len­staat“ bezeichnet. Vermutlich meinte er die Slowakei.

Auf dem Rückflug aus Košice hatte ich ein merkwür­diges Gefühl: Ich verlasse den dynami­schen und inter­es­santen Teil Europas und kehre an seinen zwar liebenswert skurrilen, doch unbedarften Rand zurück.

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