Ungarns konser­va­tive Revolution

© Shut­ter­stock

Eliten­feind­lich­keit, Rassismus, Anti­se­mi­tismus: Das völkisch-auto­ri­täre Denken des 19. und 20 Jahr­hun­derts ist in Ungarn tief verankert. Viktor Orbán baut darauf sein illi­be­rales Regime, das er als Modell für Europa sieht. Ein Essay über die konser­va­tive Revo­lu­tion in Ungarn in den Jahren 1990 bis 2019.

Das Volk und die Mächtigen

Das Volk gegen die ausbeu­te­ri­schen Macht­haber – mit diesem Kürzel kann man die gegen­wär­tige Demons­tra­ti­ons­welle in Ungarn charak­te­ri­sieren. Obwohl es demo­kra­ti­sche Forde­rungen der Demons­trie­renden gibt, wie zum Beispiel die nach einer unab­hän­gigen Justiz , einer euro­päi­schen Staats­an­walt­schaft und nach unab­hän­gigen öffent­lich-recht­li­chen Medien, ist der völkische Druck auch in der Oppo­si­tion so stark, dass darunter jegliches demo­kra­ti­sches Potenzial leidet. Ein kritisch-eman­zi­pa­to­ri­sches Bewusst­sein hat sich in Ungarn bis heute nicht durch­ge­setzt. Das kulturell tradierte völkische Denken ist so verfes­tigt und verfügt über ein derart ausge­prägtes Kommu­ni­ka­ti­ons­in­stru­men­ta­rium, dass ein Wider­stand im Sinne der allge­meinen Menschen­rechte beinahe aussichtslos erscheint.
Gegen­wärtig wird beispiels­weise ein vermeint­li­cher Klas­sen­kampf von unten gegen die Regierung geführt, der wiederum ein „Klas­sen­kampf von oben“ vorge­worfen wird. Dabei bilden sich unheim­liche Allianzen. Nachdem Wissen­schaft­le­rinnen und Wissen­schaftler seit etwa zwei Jahren für eine Koalition mit der rechts­ra­di­kalen Partei Jobbik plädieren, wurde diese Anfang Januar verkündet. Die Orbán-Regierung könne nur in einem Oppo­si­ti­ons­bündnis mit Jobbik abgelöst werden, meinen links­li­be­rale Oppo­si­tio­nelle. Deswegen müsse man sich zusam­men­schließen. Im Übrigen sei Jobbik inzwi­schen in der Mitte ange­kommen. Im heutigen Kampf, der auf die narrative Formel „Wir hier unten“ gegen „Die da oben“ oder „Arme gegen Reiche“ reduziert wird, werden Politiker zu Helden gekürt, die sich für unab­hängig erklären, doch eindeutig rechte Ideo­lo­gien vertreten. Einer der Anführer der gegen­wär­tigen Protest­welle, der Bürger­meister von Hódme­zö­vá­sá­r­hely, Péter Márki-Zay, der in der Berliner Tages­zei­tung „taz“ als die oppo­si­tio­nelle Hoffnung hoch­ge­halten wird, will die Bewegung der para­mi­li­tä­ri­schen Unga­ri­schen Garde – von der noch die Rede sein wird – neu beleben. Der Bürger­meister gab dies nach einem Treffen mit dem ehema­ligen Skinhead und heutigen Chef von Jobbik, Tamás Sneider bekannt, der – Márki-Zay zufolge – mit dem rechts­extremen Erbe von Jobbik gebrochen habe.
Nicht disku­tiert wird in Ungarn darüber, dass Jobbik quasi als Oppo­si­tion der Oppo­si­tion die gleichen auto­ri­tären Ziele verfolgt wie die Regierung. Da Fidesz in der Wähler­gunst noch immer bei 47 Prozent liegt und Jobbik mit 16 Prozent die zweit­stärkste Partei ist, heißt das, dass sich um die 63 Prozent der Wähle­rinnen und Wähler im Land auto­ri­täre Parteien an die Spitze des Landes wünschen. Die Einstel­lungen zu Auto­ri­ta­rismus wurden in Ungarn zuletzt in der zweiten Hälfte der Neun­zi­ger­jahre gemessen. Die Erhe­bungen wiesen schon damals auf einen deut­li­chen Anstieg der auto­ri­tären Tendenzen hin, wurden aber kaum beachtet, weil man den Auto­ri­ta­rismus in Ungarn allgemein nicht als die Ursache von Krisen­er­schei­nungen betrachtet. 

Portrait von Magdalena Marsovszky

Magdalena Marsov­szky stammt aus Ungarn und ist Kultur­wis­sen­schaft­lerin, Publi­zistin und Lehr­be­auf­tragte der Hoch­schule Fulda (Univer­sity of Applied Sciences).

Der völkische Autoritarismus

Das völkisch-auto­ri­täre Denken ist in Ungarn so alt wie der Begriff selbst, geht also auf die Zeit der Säku­la­ri­sie­rung und der Natio­nen­bil­dung des 19. und 20. Jahr­hun­derts zurück, als sich in den soge­nannten „verspä­teten Gesell­schaften“ in Mittel­eu­ropa die Vorstel­lung von ethnisch homogenen Natio­nal­staaten heraus­bil­dete. Seitdem geht die Unter­stüt­zung der natio­nalen Souve­rä­nität Ungarns Hand in Hand mit der Vorstel­lung einer Volks­ge­mein­schaft im Sinne einer kultu­rellen und blut­mä­ßigen Abstam­mungs­ge­mein­schaft. Selbst die Unga­ri­sche Natio­nal­hymne (1823), die von Oppo­si­tio­nellen immer wieder gegen die Regierung gesungen wird und deren erste Zeile in das – noch zu erwäh­nende – neue Grund­ge­setz (2012) über­nommen wurde, versteht unter „den Magyaren“ die Abstam­mungs­ge­mein­schaft. Die liberale Auffas­sung von Indi­vi­dua­lismus, Diver­sität und Plura­lismus, Grundlage des poli­ti­schen Natio­nen­be­griffs, wird als „zerset­zend“ und „verjudet“ abgelehnt.
Dass sich Ungarn mit dieser ethnisch-rassi­schen Auffas­sung der Nation nicht nur in zwei Welt­kriegen auf der Verlie­rer­seite befand, sondern auch am Holocaust beteiligt war, wird kaum reflek­tiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwar die univer­sellen Menschen­rechte prokla­miert, dennoch verschwand das völkische Denken mitnichten, sondern wurde sogar durch die Kultur­po­litik der sowje­ti­schen Besat­zungs­macht noch verstärkt. Kurz vor der Wende 1989/​1990 zeigte zwar die damalige „demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion“ deutliche Tendenzen der Öffnung hin zu einer plura­lis­ti­schen Gesell­schaft, doch letzt­end­lich gewannen auch damals die Völki­schen die Oberhand.
Die Forderung nach natio­naler Souve­rä­nität, die vor der Wende der Motor für den Wider­stand gegen die Sowjet­union gewesen war, wandte sich alsbald gegen einen neuen Feind.

Der „Finanz­ka­pi­ta­list“: Anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Reflexe

Die Iden­ti­täts­krise, die die Wende mit sich brachte, verstärkte die alten anti­mo­dernen, real­so­zia­lis­ti­schen und anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Reflexe, nach denen jede Krise dem „inter­na­tio­nalen Finanz­ka­pital“ zuzu­schreiben ist. Dieser altbe­kannte völkische Topos mit seiner anti­se­mi­ti­schen Konno­ta­tion, in dem das „nationale, gute, schaf­fende“ Kapital dem „inter­na­tio­nalen, speku­la­tiven, raffenden“ Kapital entge­gen­ge­stellt wird, wandte sich nach 1990 gegen die Euro­päi­sche Union und den Inter­na­tio­nalen Währungs­fonds; die unga­ri­schen poli­ti­schen Eliten galten als deren Vasallen.
Die Ablehnung der jewei­ligen unga­ri­schen Regierung basiert auf der völkisch-anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Eliten­feind­lich­keit, in der das Narrativ herrscht, dass die anti­pa­trio­tisch,  „finanz­ka­pi­ta­lis­ti­sche Olig­ar­chie“ das eigene Volk erdrückt und ausbeutet, um sich zu berei­chern. Dies beherrscht seit Anfang der Neun­zi­ger­jahre das oppo­si­tio­nelle Denken. Auch Viktor Orbán beschimpfte als Oppo­si­ti­ons­führer den ehema­ligen Minis­ter­prä­si­denten Ferenc Gyurcsány (2004–2009) als „Olig­ar­chen“, der wiederum jetzt in der Oppo­si­tion in ähnlicher Weise zurückschlägt.

Anti­mo­derne Gegenkultur

Trotz der Tatsache, dass seit der Wende 1990 dreimal auch solche Parteien an der Regierung waren, die sich als demo­kra­tisch begreifen, kann von einer erneuten völkisch-ethni­schen Bewegung hin zur geschlos­senen Gesell­schaft gespro­chen werden, die 2010 und mit dem Wahlsieg der gegen­wär­tigen Fidesz-KDNP-Koalition auch parla­men­ta­risch besiegelt wurde.
Dem war seit 2002 eine bewusste Strategie einer „konser­va­tiven kultu­rellen Revo­lu­tion“ voraus­ge­gangen, die auf Eroberung der kultu­rellen Hegemonie zielte. Diese Wortwahl entspricht auch Orbáns Begriff­lich­keit. Schon in seiner Diplom­ar­beit von 1987 studierte er Antonio Gramscis Hege­mo­nie­these und prüfte sie an der polni­schen Solidarnosc-Bewegung.
Entspre­chend seiner Idee, durch die Gründung einer „radi­ka­leren Partei rechts von uns“ ins Zentrum zu gelangen, wurde mit Unter­stüt­zung von Fidesz im Jahr 2003 die rechts­ra­di­kale Partei Jobbik gegründet, die seitdem ideo­lo­gisch, aber vielfach auch auf poli­ti­scher Koali­ti­ons­ebene mit Fidesz zusammenspielt.
Orbán gründete auch – damals als Oppo­si­ti­ons­führer – so genannte Bürger­kreise, die er als außer­par­la­men­ta­ri­sche Bewegung dekla­rierte. Dem von Orbán persön­lich gelei­teten Bürger­kreis gehörte auch der damalige Chef von Jobbik, Gábor Vona, an. Die damalige revo­lu­tio­näre Bürger­kreis-Rhetorik ähnelte bewusst der der 68er-Bewegung in West­eu­ropa, wurde jedoch als eine Anti-68er-Bewegung dekla­riert. Die clevere Top-Down-Politik Orbáns wurde mit Bottom-Up-Elementen vermischt. So wurde an der Spitze ein soge­nanntes „Haus der Bürger“, ein Ort kultu­reller Programme und Vortrags­reihen in Budapest, einge­richtet, während auf der Basis­ebene unzählige „Grassroots“-Aktivisten zur Mitarbeit motiviert wurden. Zusam­men­ge­halten wurden die zwei Ebenen durch eine mittlere Kommu­ni­ka­ti­ons­ebene, in der die in diesen Jahren entstan­denen privaten, von der damals oppo­si­tio­nellen Fidesz finan­zierten, „national gesinnten“ Medien und deren rechts­ra­di­kale Varianten platziert wurden.
Die Propa­ganda letzterer wurde von den Fidesz-nahen Medien als „deftig“, aber „alter­nativ“ bezeichnet. All diese Medien heizten rechte Gewalt­gruppen an. Gehetzt wurde vor allem gegen die Sozi­al­li­be­ralen mit dem damaligen Minis­ter­prä­si­denten, Ferenc Gyurcsány, der als Anführer von „bolsche­wi­sie­renden, sata­ni­schen Kräften“ und als „echter Anti­christ“ dämo­ni­siert wurde. Das gnos­ti­sche, im poli­ti­schen Gegner das Böse suchende Element zeigte sich in der dualis­ti­schen Rhetorik, in der sich die Völki­schen (speziell auch Orbán) als das Licht defi­nierten, während sie die sozi­al­li­be­ralen poli­ti­schen Gegner als chaotisch und dunkel darstellten.

Erster bewaff­neter Umsturz­ver­such 2006

Ein erster Beweis dieser Zusam­men­ar­beit war 2006 der Angriff auf das Gebäude des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens – stell­ver­tre­tend für die „Lügen­presse der links­li­be­ralen Olig­ar­chen­re­gie­rung“, die im völki­schen Ton des „Genozids am Magya­rentum“ beschul­digt wurde. Schon 2005 wurde die Reinkar­na­tion des „Volks­auf­standes von 1956“ zum seinem fünf­zigsten Jahrestag gegen das „Joch der nati­on­feind­li­chen Linken“ voraus­ge­sagt, als Orbán die Vision einer natio­nalen Wende verkün­dete. Der Hinweis auf die Revo­lu­tion von 1956 war damals auch in den Reden Orbáns von stra­te­gi­scher Bedeutung. So sagte er ein Jahr vor den Krawallen: „Nach einer Weile, wenn das Zeichen kommt, schauen wir uns gegen­seitig an, treten mit anderen in Blick­kon­takt (...), krempeln kollektiv die Ärmel hoch, und hauen rein. (...) Das Zeichen ist da. (...) Haltet Euch für den Wechsel bereit!“
Es gibt plausible Hinweise, dass die Krawalle von 2006, bei denen das Gebäude des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens brannte, von Fidesz ange­stiftet wurden. Die Ausfüh­renden waren Jobbik-nahe Militante, und das sie befeu­ernde Medium war das Fidesz-nahe Hir-TV, das den Angriff mit Molo­tow­coc­tails als helden­hafte „Revo­lu­tion“ bezeich­nete. Eine Fidesz-Abge­ord­nete rief zum Mord am damaligen Minis­ter­prä­si­denten auf: „Wenn Sie radikal genug wären, würden Sie diesen verdammten Gyurcsány abknallen“.
Auch die Gründung der para­mi­li­tä­ri­schen Orga­ni­sa­tion von Jobbik (2007), die Unga­ri­sche Garde, deren Mitglie­der­zahl innerhalb von nur zwei­ein­halb Jahren auf etwa drei­ein­halb­tau­send wuchs, dürfte Teil dieser konser­va­tiv­re­vo­lu­tio­nären Fidesz-Strategie gewesen sein. Der damalige, Fidesz-nahe­ste­hende Staats­prä­si­dent, vor dessen Fenstern die Grün­dungs­ze­re­monie stattfand, blieb stumm. Manche Fidesz-Mitglieder waren auch Mitglieder der Garde. Sie wurde zwar 2009 verboten, existiert aber dennoch als Bewegung weiter, wobei die Zusam­men­künfte im Privaten stattfinden.
Es war offen­sicht­lich, dass die damalige links­li­be­rale Regierung dem mächtig daher­kom­menden Rechts-Druck machtlos gegen­über­stand. Die außer­in­sti­tu­tio­nellen ideo­lo­gi­schen und poli­ti­schen Akti­vi­täten der natio­na­lis­ti­schen Rechten formten in diesen Jahren mit ihrem notorisch gegen­mo­dernen, geschichts­ver­dre­henden, den Holocaust leug­nenden, gegen Minder­heiten und den poli­ti­schen Gegner hetzenden Narrativ langsam die Gesell­schaft um.
Der Mobi­li­sie­rungs­kraft, die von histo­ri­schen Mythen ausgeht und deren Kommu­ni­ka­ti­ons­mittel die Symbol-Politik ist, hatten die damaligen Regie­rungen nichts entge­gen­zu­setzen. Sie teilten sogar die völkische Symbol­sprache, zumindest hatten sie keine alter­na­tive poli­ti­sche Sprache zu bieten.

Die völkische Wende des letzten Jahrzehnts

So entstand bis 2010 eine gegen­kul­tu­relle Massen­be­we­gung, die die diskur­sive Deutungs­ho­heit erlangte und mit einer glatten Zwei­drit­tel­mehr­heit die Parla­ments­wahlen gewann.
Innerhalb von nur zwei Jahren verab­schie­dete die neue Regierung – nunmehr durch die breite Mehrheit unter­stützt – die wich­tigsten Gesetze, um den „Volks­staat“ auch juris­tisch auszu­bauen. In Eiltempo wurde zunächst über das neue Staats­bür­ger­schafts­ge­setz nach dem Ius-Sanguinis-Prinzip abge­stimmt, das die „demo­kra­ti­sche“ Oppo­si­tion ebenfalls beinahe einstimmig bewil­ligte. Nebenbei sei bemerkt, dass nach der konsti­tu­ie­renden Sitzung des neuen Parla­ments neben der ethno­na­tio­nalen Natio­nal­hymne auch die revan­chis­ti­sche so genannte Szekler-Hymne (Trans­syl­va­ni­sche Hymne) beinahe von allen mitge­sungen wurde. Das neue Staats­bür­ger­schafts­ge­setz inte­griert die so genannten Diaspora­ma­gyaren (so der ethno­na­tio­nale Jargon) in die Volks­ge­mein­schaft, obwohl sie nicht in Ungarn leben. Jemand, der beispiels­weise in den USA lebt und kaum Ungarisch spricht, kann dennoch zur völki­schen Gemein­schaft des Magya­ren­tums gehören, wenn er bei der Verlei­hung der Staats­bür­ger­schaft einen Eid auf das „nationale Glau­bens­be­kenntnis“ – so der Titel des neuen Grund­ge­setzes – ablegt.
Seit Verab­schie­dung des neuen Staats­bür­ger­schafts­ge­setzes wurde über einer Million Menschen die unga­ri­sche Staats­bür­ger­schaft verliehen mit dem Ziel, das „univer­selle Magya­rentum“ zusam­men­zu­halten und seine Hilfe beim Ausbau des System Orbán in Anspruch nehmen zu können.
Als nächstes wurde das neue Medi­en­ge­setz verab­schiedet, dessen Präambel das Volk (also die Volks­ge­mein­schaft) als schüt­zens­wert dekla­riert. Im Sinne der Festigung dieser von Orbán und der Fidesz reprä­sen­tierten Mehrheit wurden Redak­teure mit rechts­extremen Ansichten in Spit­zen­po­si­tionen gesetzt. Das Gesetz unter­wirft alle Medien, einschließ­lich Internet-Blogs, der zentralen staat­li­chen Kontrolle durch eine neu geschaf­fene Medi­en­be­hörde. Inzwi­schen sind die Medien fast voll­kommen gleich­ge­schaltet. Für ihre Finan­zie­rung sorgt eine 2018 gegrün­dete, gigan­ti­sche Medienholding.
Als Krönung dieses kalten Staats­streichs wurde 2011 das neue Grund­ge­setz verab­schiedet, in dessen Präambel die Selbst­be­schrei­bung als Republik gestri­chen wurde. Der „wich­tigste Rahmen unseres Zusam­men­le­bens sind Familie und Nation“, heißt es, wobei unter Familie ausschließ­lich die Ehe zwischen Mann und Frau und unter Nation die ethnisch-völkische Kultur­na­tion verstanden werden. In Artikel B, Absatz 2, fällt zwar der Begriff „Republik“, doch sämtliche repu­bli­ka­ni­sche Gedanken sind von völki­schen Bekennt­nissen verdrängt, alles unter­liegt der Über­schrift „Natio­nales Glau­bens­be­kenntnis“ und dem einlei­tenden Satz: „Gott segne die Magyaren!“ Fortan steht der Schutz der Nation über dem des Indi­vi­duums und über der Unan­tast­bar­keit der Menschenwürde.

Ungarns Staats­ideo­logie heute: Schutz der Volks­ge­mein­schaft und des Weiß-Seins

Der Begriff „Grund­ge­setz“ wurde gewählt, weil es in Ungarn bereits eine so genannte histo­ri­sche Verfas­sung, bekannt auch als „Lehre der Heiligen Unga­ri­schen Krone“ oder „Heilige Kronen­lehre“, gegeben hatte. Im „Natio­nalen Glau­bens­be­kenntnis“ heißt es deshalb: „Wir halten die Errun­gen­schaften unserer histo­ri­schen Verfas­sung und die Heilige Krone in Ehren, die die verfas­sungs­mä­ßige staat­liche Konti­nuität Ungarns und die Einheit der Nation verkör­pern.“ Die Erwähnung der „Heiligen Krone“ und der „Kronen­lehre“ wird vielfach für neben­säch­lich gehalten, dabei bildet der Kronen­my­thos – wie er mit wissen­schaft­li­chem Abstand genannt werden muss – die Grundlage der mythi­schen Staats­ideo­logie Ungarns. Kultur­ge­schicht­lich vergleichbar ist er mit dem Grals­my­thos, das heißt, mit der Bedeutung des „Heiligen Gral“ und der „Grals­lehre“ im Nationalsozialismus.
Grundlage dieser Staats­ideo­logie ist der Blut-und-Boden-Mythos. Demnach ist die Volks­ge­mein­schaft eine Abstam­mungs­ge­mein­schaft; Viktor Orbán spricht explizit von einer „Bluts­ge­mein­schaft“. Zusam­men­ge­halten wird das Magya­rentum durch eine „Religion des Blutes“. Die behaup­tete geogra­phi­sche Abstam­mung beflügelt den Anspruch auf „Lebens­raum“ und befördert damit Revan­chismus-Bestre­bungen zur Wieder­her­stel­lung des Status quo ante vor dem Vertrag von Trianon (1920), als zu Großun­garn auch Gebiete Öster­reichs, der Slowakei, Polens, Rumäniens, Kroatiens, Serbiens und der Ukraine gehörten. In diesem Sinne – einschließ­lich einer Rela­ti­vie­rung des Holocaust –, werden seit nunmehr neun Jahren die Geschichte umge­schrieben, die gesamte Kultur- und Bildungs­land­schaft umge­staltet und Stra­ßen­namen umbenannt. Auch die Sozi­al­ge­setze wurden so geändert, dass dieje­nigen aus dem sozialen Netz fallen, die die hallu­zi­nierte Homo­ge­nität der Volks­ge­mein­schaft vermeint­lich gefährden. Zudem ist in den letzten Jahren die Zahl der Kinder, die aus ihren Familien „heraus­ge­hoben“ wurden, um sie umzu­er­ziehen, drastisch gestiegen. Kirchen­ge­meinden, die die Nächs­ten­liebe ernst nehmen und sich für die sozial Schwächsten einsetzen, wird der Kirchen­status entzogen. Bezeich­nend für das System ist auch die Wissen­schafts- und Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit. Die moderne Wissen­schaft und Bildung werden für die „Entspi­ri­tua­li­sie­rung“ der Mensch­heit verant­wort­lich gemacht und die Intel­lek­tu­ellen als Mani­pu­la­toren des Volks­wil­lens verfemt.

Ein „Europa der Nationen“

Mit den anste­henden Wahlen zum EU-Parlament hofft die Regierung Orbán nun, auch die EU umge­stalten zu können. Auch hierbei ist Jobbik ihr ideo­lo­gi­scher Verbün­deter. Im Sinne ihrer Vision eines „Europa der Nationen“ wollen sie dem post­na­tio­nalen, vom Libe­ra­lismus vergif­teten, geschichts­ver­ges­senen und mate­ria­lis­ti­schen Europa eine konser­vativ-revo­lu­tio­näre, männlich-hier­ar­chisch aufge­baute Ordnung entgegensetzen.
Die Konzep­tion eines „Europa der Nationen“ ist ethno­plu­ra­lis­tisch und – nach Roger Griffin – faschis­tisch. Ethno­plu­ra­lismus bedeutet ein Neben­ein­ander von Ethno­na­tio­na­lismen, das heißt das Neben­ein­ander von vermeint­lich homogenen ethni­schen Volks­ge­mein­schaften, von geschlos­senen Gesell­schaften und geschlos­senen Kulturen. Dieses Konzept nimmt an, dass die Volks­ge­mein­schaften vonein­ander durch spezi­fi­sche Eigen­arten – in geogra­phi­scher, blut­mä­ßiger, ja gene­ti­scher Abstam­mung, in Kultur und Sprache sowie in einem postu­lierten gemein­schaft­li­chen Bewusst­sein – getrennt sind. So wird von „Kultur“ und „Identität“ gespro­chen, aber eigent­lich „Rasse“ gemeint.
Nach der ethno­plu­ra­lis­ti­schen Auffas­sung sind Völker oder Volks­ge­mein­schaften nur dann fähig, Konflikte zu lösen, wenn sie sich auf die eigenen kultu­rellen und geogra­phi­schen Eigen­heiten konzen­trieren. Diese Ideologie geht davon aus, dass die einzelnen Volks­ge­mein­schaften jeweils einheit­liche Kulturen haben, die man gegen „fremde Einflüsse“ vertei­digen muss. Damit die jewei­ligen Volks­ge­mein­schaften ihre eigene Kultur und Identität bewahren können, wird ange­nommen, sie müssten sich vonein­ander abgrenzen. So wird der Kampf um eine reine Kultur zur Kampf­an­sage gegen den Univer­sa­lismus der Aufklärung.
Das Konzept „Europa der Nationen“ steht deshalb im Gegensatz zu den univer­sellen Menschen­rechten. Das Neben­ein­ander der ausgren­zenden Natio­na­lismen will eine Alter­na­tive zu Univer­sa­lismus und Egali­ta­rismus sein, produ­ziert jedoch genau dadurch den Boden für Ausgren­zung, für den Terror nach Innen und für den Krieg nach Außen. Auf inter­na­tio­naler Ebene bauen Regierung und Jobbik ein poli­ti­sches Netzwerk auf, in dem in Europa und darüber hinaus alle „konser­va­tiven Revo­lu­tio­näre“ zusam­men­ar­beiten sollen. Die Gemein­sam­keiten werden hierbei in der spiri­tu­ellen Urtra­di­tion der „weißen Rasse“ verortet. Die gegen­wär­tige „Hinwen­dung zum Osten“ hat mit dieser Suche nach dem verloren geglaubten Spiri­tua­lismus zu tun, der in Osteuropa (insbe­son­dere in Russland) noch eher überlebt haben soll als im deka­denten Westen. Rezipiert werden dies­be­züg­lich Autoren wie der Berater Benito Musso­linis und Anhänger Heinrich Himmlers und der SS, Julius Evola (1898–1974), der heute sowohl in der Alt-Right der USA als auch bei der „Neuen Rechten“ Europas beliebt ist. Sympto­ma­tisch dafür ist, dass ausge­rechnet Steve Bannon ein Berater Viktor Orbáns bei der Kampagne zu den EU-Wahlen sein soll. Der wich­tigste Autor auf Evolas Spuren in Ungarn ist Béla Hamvas (1897–1968), dessen Ideologie nicht nur die Philo­so­phie der Regierung und die von Jobbik maßgeb­lich beein­flusst, sondern auch in größeren Kreisen äußerst beliebt ist. Ausgehend von der kultur­pes­si­mis­ti­schen Perspek­tive Oswald Spenglers (1880–1936) und anderer konser­va­tiver Revo­lu­tio­näre über den Untergang der abend­län­di­schen Kultur entwi­ckelte Hamvas seine Vision einer indo-arischen Gesell­schafts­ord­nung. Zum Symbol für Untergang und Wieder­auf­er­ste­hung im gerei­nigten Urzustand bestimmte auch Hamvas die Swastika.
In diesem Sinne wird von der Regierung und anderen völki­schen Gruppen eine „reine“ Kultur mit rassisch-natio­nalen Eigen­heiten, also ein „natio­nales und weißes Erwachen“ ange­strebt. Dass dies alles noch unter der Flagge „christ­lich“ und „demo­kra­tisch“ segeln kann, ist ein Hohn auf dieje­nigen, die den christ­li­chen und menschen­recht­li­chen Univer­sa­lismus ernst nehmen.

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