Ungarns konser­vative Revolution

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Eliten­feind­lichkeit, Rassismus, Antise­mi­tismus: Das völkisch-autoritäre Denken des 19. und 20 Jahrhun­derts ist in Ungarn tief verankert. Viktor Orbán baut darauf sein illibe­rales Regime, das er als Modell für Europa sieht. Ein Essay über die konser­vative Revolution in Ungarn in den Jahren 1990 bis 2019.

Das Volk und die Mächtigen

Das Volk gegen die ausbeu­te­ri­schen Macht­haber – mit diesem Kürzel kann man die gegen­wärtige Demons­tra­ti­ons­welle in Ungarn charak­te­ri­sieren. Obwohl es demokra­tische Forde­rungen der Demons­trie­renden gibt, wie zum Beispiel die nach einer unabhän­gigen Justiz , einer europäi­schen Staats­an­walt­schaft und nach unabhän­gigen öffentlich-recht­lichen Medien, ist der völkische Druck auch in der Opposition so stark, dass darunter jegliches demokra­ti­sches Potenzial leidet. Ein kritisch-emanzi­pa­to­ri­sches Bewusstsein hat sich in Ungarn bis heute nicht durch­ge­setzt. Das kulturell tradierte völkische Denken ist so verfestigt und verfügt über ein derart ausge­prägtes Kommu­ni­ka­ti­ons­in­stru­men­tarium, dass ein Wider­stand im Sinne der allge­meinen Menschen­rechte beinahe aussichtslos erscheint.
Gegen­wärtig wird beispiels­weise ein vermeint­licher Klassen­kampf von unten gegen die Regierung geführt, der wiederum ein „Klassen­kampf von oben“ vorge­worfen wird. Dabei bilden sich unheim­liche Allianzen. Nachdem Wissen­schaft­le­rinnen und Wissen­schaftler seit etwa zwei Jahren für eine Koalition mit der rechts­ra­di­kalen Partei Jobbik plädieren, wurde diese Anfang Januar verkündet. Die Orbán-Regierung könne nur in einem Opposi­ti­ons­bündnis mit Jobbik abgelöst werden, meinen links­li­berale Opposi­tio­nelle. Deswegen müsse man sich zusam­men­schließen. Im Übrigen sei Jobbik inzwi­schen in der Mitte angekommen. Im heutigen Kampf, der auf die narrative Formel „Wir hier unten“ gegen „Die da oben“ oder „Arme gegen Reiche“ reduziert wird, werden Politiker zu Helden gekürt, die sich für unabhängig erklären, doch eindeutig rechte Ideologien vertreten. Einer der Anführer der gegen­wär­tigen Protest­welle, der Bürger­meister von Hódme­zö­vá­sá­rhely, Péter Márki-Zay, der in der Berliner Tages­zeitung „taz“ als die opposi­tio­nelle Hoffnung hochge­halten wird, will die Bewegung der parami­li­tä­ri­schen Ungari­schen Garde – von der noch die Rede sein wird – neu beleben. Der Bürger­meister gab dies nach einem Treffen mit dem ehema­ligen Skinhead und heutigen Chef von Jobbik, Tamás Sneider bekannt, der – Márki-Zay zufolge – mit dem rechts­extremen Erbe von Jobbik gebrochen habe.
Nicht disku­tiert wird in Ungarn darüber, dass Jobbik quasi als Opposition der Opposition die gleichen autori­tären Ziele verfolgt wie die Regierung. Da Fidesz in der Wähler­gunst noch immer bei 47 Prozent liegt und Jobbik mit 16 Prozent die zweit­stärkste Partei ist, heißt das, dass sich um die 63 Prozent der Wähle­rinnen und Wähler im Land autoritäre Parteien an die Spitze des Landes wünschen. Die Einstel­lungen zu Autori­ta­rismus wurden in Ungarn zuletzt in der zweiten Hälfte der Neunzi­ger­jahre gemessen. Die Erhebungen wiesen schon damals auf einen deutlichen Anstieg der autori­tären Tendenzen hin, wurden aber kaum beachtet, weil man den Autori­ta­rismus in Ungarn allgemein nicht als die Ursache von Krisen­er­schei­nungen betrachtet. 

Portrait von Magdalena Marsovszky

Magdalena Marsovszky stammt aus Ungarn und ist Kultur­wis­sen­schaft­lerin, Publi­zistin und Lehrbe­auf­tragte der Hochschule Fulda (University of Applied Sciences).

Der völkische Autoritarismus

Das völkisch-autoritäre Denken ist in Ungarn so alt wie der Begriff selbst, geht also auf die Zeit der Säkula­ri­sierung und der Natio­nen­bildung des 19. und 20. Jahrhun­derts zurück, als sich in den sogenannten „verspä­teten Gesell­schaften“ in Mittel­europa die Vorstellung von ethnisch homogenen Natio­nal­staaten heraus­bildete. Seitdem geht die Unter­stützung der natio­nalen Souve­rä­nität Ungarns Hand in Hand mit der Vorstellung einer Volks­ge­mein­schaft im Sinne einer kultu­rellen und blutmä­ßigen Abstam­mungs­ge­mein­schaft. Selbst die Ungarische Natio­nal­hymne (1823), die von Opposi­tio­nellen immer wieder gegen die Regierung gesungen wird und deren erste Zeile in das – noch zu erwäh­nende – neue Grund­gesetz (2012) übernommen wurde, versteht unter „den Magyaren“ die Abstam­mungs­ge­mein­schaft. Die liberale Auffassung von Indivi­dua­lismus, Diver­sität und Plura­lismus, Grundlage des politi­schen Natio­nen­be­griffs, wird als „zersetzend“ und „verjudet“ abgelehnt.
Dass sich Ungarn mit dieser ethnisch-rassi­schen Auffassung der Nation nicht nur in zwei Weltkriegen auf der Verlie­rer­seite befand, sondern auch am Holocaust beteiligt war, wird kaum reflek­tiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwar die univer­sellen Menschen­rechte prokla­miert, dennoch verschwand das völkische Denken mitnichten, sondern wurde sogar durch die Kultur­po­litik der sowje­ti­schen Besat­zungs­macht noch verstärkt. Kurz vor der Wende 1989/​1990 zeigte zwar die damalige „demokra­tische Opposition“ deutliche Tendenzen der Öffnung hin zu einer plura­lis­ti­schen Gesell­schaft, doch letzt­endlich gewannen auch damals die Völki­schen die Oberhand.
Die Forderung nach natio­naler Souve­rä­nität, die vor der Wende der Motor für den Wider­stand gegen die Sowjet­union gewesen war, wandte sich alsbald gegen einen neuen Feind.

Der „Finanz­ka­pi­talist“: Antika­pi­ta­lis­tische Reflexe

Die Identi­täts­krise, die die Wende mit sich brachte, verstärkte die alten antimo­dernen, realso­zia­lis­ti­schen und antika­pi­ta­lis­ti­schen Reflexe, nach denen jede Krise dem „inter­na­tio­nalen Finanz­ka­pital“ zuzuschreiben ist. Dieser altbe­kannte völkische Topos mit seiner antise­mi­ti­schen Konno­tation, in dem das „nationale, gute, schaf­fende“ Kapital dem „inter­na­tio­nalen, speku­la­tiven, raffenden“ Kapital entge­gen­ge­stellt wird, wandte sich nach 1990 gegen die Europäische Union und den Inter­na­tio­nalen Währungs­fonds; die ungari­schen politi­schen Eliten galten als deren Vasallen.
Die Ablehnung der jewei­ligen ungari­schen Regierung basiert auf der völkisch-antika­pi­ta­lis­ti­schen Eliten­feind­lichkeit, in der das Narrativ herrscht, dass die antipa­trio­tisch,  „finanz­ka­pi­ta­lis­tische Oligarchie“ das eigene Volk erdrückt und ausbeutet, um sich zu berei­chern. Dies beherrscht seit Anfang der Neunzi­ger­jahre das opposi­tio­nelle Denken. Auch Viktor Orbán beschimpfte als Opposi­ti­ons­führer den ehema­ligen Minis­ter­prä­si­denten Ferenc Gyurcsány (2004–2009) als „Oligarchen“, der wiederum jetzt in der Opposition in ähnlicher Weise zurückschlägt.

Antimo­derne Gegenkultur

Trotz der Tatsache, dass seit der Wende 1990 dreimal auch solche Parteien an der Regierung waren, die sich als demokra­tisch begreifen, kann von einer erneuten völkisch-ethni­schen Bewegung hin zur geschlos­senen Gesell­schaft gesprochen werden, die 2010 und mit dem Wahlsieg der gegen­wär­tigen Fidesz-KDNP-Koalition auch parla­men­ta­risch besiegelt wurde.
Dem war seit 2002 eine bewusste Strategie einer „konser­va­tiven kultu­rellen Revolution“ voraus­ge­gangen, die auf Eroberung der kultu­rellen Hegemonie zielte. Diese Wortwahl entspricht auch Orbáns Begriff­lichkeit. Schon in seiner Diplom­arbeit von 1987 studierte er Antonio Gramscis Hegemo­nie­these und prüfte sie an der polni­schen Solidarnosc-Bewegung.
Entspre­chend seiner Idee, durch die Gründung einer „radika­leren Partei rechts von uns“ ins Zentrum zu gelangen, wurde mit Unter­stützung von Fidesz im Jahr 2003 die rechts­ra­dikale Partei Jobbik gegründet, die seitdem ideolo­gisch, aber vielfach auch auf politi­scher Koali­ti­ons­ebene mit Fidesz zusammenspielt.
Orbán gründete auch – damals als Opposi­ti­ons­führer – so genannte Bürger­kreise, die er als außer­par­la­men­ta­rische Bewegung dekla­rierte. Dem von Orbán persönlich gelei­teten Bürger­kreis gehörte auch der damalige Chef von Jobbik, Gábor Vona, an. Die damalige revolu­tionäre Bürger­kreis-Rhetorik ähnelte bewusst der der 68er-Bewegung in Westeuropa, wurde jedoch als eine Anti-68er-Bewegung dekla­riert. Die clevere Top-Down-Politik Orbáns wurde mit Bottom-Up-Elementen vermischt. So wurde an der Spitze ein sogenanntes „Haus der Bürger“, ein Ort kultu­reller Programme und Vortrags­reihen in Budapest, einge­richtet, während auf der Basis­ebene unzählige „Grassroots“-Aktivisten zur Mitarbeit motiviert wurden. Zusam­men­ge­halten wurden die zwei Ebenen durch eine mittlere Kommu­ni­ka­ti­ons­ebene, in der die in diesen Jahren entstan­denen privaten, von der damals opposi­tio­nellen Fidesz finan­zierten, „national gesinnten“ Medien und deren rechts­ra­dikale Varianten platziert wurden.
Die Propa­ganda letzterer wurde von den Fidesz-nahen Medien als „deftig“, aber „alter­nativ“ bezeichnet. All diese Medien heizten rechte Gewalt­gruppen an. Gehetzt wurde vor allem gegen die Sozial­li­be­ralen mit dem damaligen Minis­ter­prä­si­denten, Ferenc Gyurcsány, der als Anführer von „bolsche­wi­sie­renden, satani­schen Kräften“ und als „echter Antichrist“ dämoni­siert wurde. Das gnostische, im politi­schen Gegner das Böse suchende Element zeigte sich in der dualis­ti­schen Rhetorik, in der sich die Völki­schen (speziell auch Orbán) als das Licht definierten, während sie die sozial­li­be­ralen politi­schen Gegner als chaotisch und dunkel darstellten.

Erster bewaff­neter Umsturz­versuch 2006

Ein erster Beweis dieser Zusam­men­arbeit war 2006 der Angriff auf das Gebäude des öffentlich-recht­lichen Fernsehens – stell­ver­tretend für die „Lügen­presse der links­li­be­ralen Oligar­chen­re­gierung“, die im völki­schen Ton des „Genozids am Magya­rentum“ beschuldigt wurde. Schon 2005 wurde die Reinkar­nation des „Volks­auf­standes von 1956“ zum seinem fünfzigsten Jahrestag gegen das „Joch der nation­feind­lichen Linken“ voraus­gesagt, als Orbán die Vision einer natio­nalen Wende verkündete. Der Hinweis auf die Revolution von 1956 war damals auch in den Reden Orbáns von strate­gi­scher Bedeutung. So sagte er ein Jahr vor den Krawallen: „Nach einer Weile, wenn das Zeichen kommt, schauen wir uns gegen­seitig an, treten mit anderen in Blick­kontakt (...), krempeln kollektiv die Ärmel hoch, und hauen rein. (...) Das Zeichen ist da. (...) Haltet Euch für den Wechsel bereit!“
Es gibt plausible Hinweise, dass die Krawalle von 2006, bei denen das Gebäude des öffentlich-recht­lichen Fernsehens brannte, von Fidesz angestiftet wurden. Die Ausfüh­renden waren Jobbik-nahe Militante, und das sie befeu­ernde Medium war das Fidesz-nahe Hir-TV, das den Angriff mit Molotow­coc­tails als helden­hafte „Revolution“ bezeichnete. Eine Fidesz-Abgeordnete rief zum Mord am damaligen Minis­ter­prä­si­denten auf: „Wenn Sie radikal genug wären, würden Sie diesen verdammten Gyurcsány abknallen“.
Auch die Gründung der parami­li­tä­ri­schen Organi­sation von Jobbik (2007), die Ungarische Garde, deren Mitglie­derzahl innerhalb von nur zweieinhalb Jahren auf etwa dreiein­halb­tausend wuchs, dürfte Teil dieser konser­va­tiv­re­vo­lu­tio­nären Fidesz-Strategie gewesen sein. Der damalige, Fidesz-naheste­hende Staats­prä­sident, vor dessen Fenstern die Gründungs­ze­re­monie stattfand, blieb stumm. Manche Fidesz-Mitglieder waren auch Mitglieder der Garde. Sie wurde zwar 2009 verboten, existiert aber dennoch als Bewegung weiter, wobei die Zusam­men­künfte im Privaten stattfinden.
Es war offen­sichtlich, dass die damalige links­li­berale Regierung dem mächtig daher­kom­menden Rechts-Druck machtlos gegen­über­stand. Die außer­in­sti­tu­tio­nellen ideolo­gi­schen und politi­schen Aktivi­täten der natio­na­lis­ti­schen Rechten formten in diesen Jahren mit ihrem notorisch gegen­mo­dernen, geschichts­ver­dre­henden, den Holocaust leugnenden, gegen Minder­heiten und den politi­schen Gegner hetzenden Narrativ langsam die Gesell­schaft um.
Der Mobili­sie­rungs­kraft, die von histo­ri­schen Mythen ausgeht und deren Kommu­ni­ka­ti­ons­mittel die Symbol-Politik ist, hatten die damaligen Regie­rungen nichts entge­gen­zu­setzen. Sie teilten sogar die völkische Symbol­sprache, zumindest hatten sie keine alter­native politische Sprache zu bieten.

Die völkische Wende des letzten Jahrzehnts

So entstand bis 2010 eine gegen­kul­tu­relle Massen­be­wegung, die die diskursive Deutungs­hoheit erlangte und mit einer glatten Zweidrit­tel­mehrheit die Parla­ments­wahlen gewann.
Innerhalb von nur zwei Jahren verab­schiedete die neue Regierung – nunmehr durch die breite Mehrheit unter­stützt – die wichtigsten Gesetze, um den „Volks­staat“ auch juris­tisch auszu­bauen. In Eiltempo wurde zunächst über das neue Staats­bür­ger­schafts­gesetz nach dem Ius-Sanguinis-Prinzip abgestimmt, das die „demokra­tische“ Opposition ebenfalls beinahe einstimmig bewil­ligte. Nebenbei sei bemerkt, dass nach der konsti­tu­ie­renden Sitzung des neuen Parla­ments neben der ethno­na­tio­nalen Natio­nal­hymne auch die revan­chis­tische so genannte Szekler-Hymne (Trans­syl­va­nische Hymne) beinahe von allen mitge­sungen wurde. Das neue Staats­bür­ger­schafts­gesetz integriert die so genannten Diaspora­ma­gyaren (so der ethno­na­tionale Jargon) in die Volks­ge­mein­schaft, obwohl sie nicht in Ungarn leben. Jemand, der beispiels­weise in den USA lebt und kaum Ungarisch spricht, kann dennoch zur völki­schen Gemein­schaft des Magya­rentums gehören, wenn er bei der Verleihung der Staats­bür­ger­schaft einen Eid auf das „nationale Glaubens­be­kenntnis“ – so der Titel des neuen Grund­ge­setzes – ablegt.
Seit Verab­schiedung des neuen Staats­bür­ger­schafts­ge­setzes wurde über einer Million Menschen die ungarische Staats­bür­ger­schaft verliehen mit dem Ziel, das „univer­selle Magya­rentum“ zusam­men­zu­halten und seine Hilfe beim Ausbau des System Orbán in Anspruch nehmen zu können.
Als nächstes wurde das neue Medien­gesetz verab­schiedet, dessen Präambel das Volk (also die Volks­ge­mein­schaft) als schüt­zenswert dekla­riert. Im Sinne der Festigung dieser von Orbán und der Fidesz reprä­sen­tierten Mehrheit wurden Redak­teure mit rechts­extremen Ansichten in Spitzen­po­si­tionen gesetzt. Das Gesetz unter­wirft alle Medien, einschließlich Internet-Blogs, der zentralen staat­lichen Kontrolle durch eine neu geschaffene Medien­be­hörde. Inzwi­schen sind die Medien fast vollkommen gleich­ge­schaltet. Für ihre Finan­zierung sorgt eine 2018 gegründete, gigan­tische Medienholding.
Als Krönung dieses kalten Staats­streichs wurde 2011 das neue Grund­gesetz verab­schiedet, in dessen Präambel die Selbst­be­schreibung als Republik gestrichen wurde. Der „wichtigste Rahmen unseres Zusam­men­lebens sind Familie und Nation“, heißt es, wobei unter Familie ausschließlich die Ehe zwischen Mann und Frau und unter Nation die ethnisch-völkische Kultur­nation verstanden werden. In Artikel B, Absatz 2, fällt zwar der Begriff „Republik“, doch sämtliche republi­ka­nische Gedanken sind von völki­schen Bekennt­nissen verdrängt, alles unter­liegt der Überschrift „Natio­nales Glaubens­be­kenntnis“ und dem einlei­tenden Satz: „Gott segne die Magyaren!“ Fortan steht der Schutz der Nation über dem des Indivi­duums und über der Unantast­barkeit der Menschenwürde.

Ungarns Staats­ideo­logie heute: Schutz der Volks­ge­mein­schaft und des Weiß-Seins

Der Begriff „Grund­gesetz“ wurde gewählt, weil es in Ungarn bereits eine so genannte histo­rische Verfassung, bekannt auch als „Lehre der Heiligen Ungari­schen Krone“ oder „Heilige Kronen­lehre“, gegeben hatte. Im „Natio­nalen Glaubens­be­kenntnis“ heißt es deshalb: „Wir halten die Errun­gen­schaften unserer histo­ri­schen Verfassung und die Heilige Krone in Ehren, die die verfas­sungs­mäßige staat­liche Konti­nuität Ungarns und die Einheit der Nation verkörpern.“ Die Erwähnung der „Heiligen Krone“ und der „Kronen­lehre“ wird vielfach für neben­sächlich gehalten, dabei bildet der Kronen­mythos – wie er mit wissen­schaft­lichem Abstand genannt werden muss – die Grundlage der mythi­schen Staats­ideo­logie Ungarns. Kultur­ge­schichtlich vergleichbar ist er mit dem Grals­mythos, das heißt, mit der Bedeutung des „Heiligen Gral“ und der „Grals­lehre“ im Nationalsozialismus.
Grundlage dieser Staats­ideo­logie ist der Blut-und-Boden-Mythos. Demnach ist die Volks­ge­mein­schaft eine Abstam­mungs­ge­mein­schaft; Viktor Orbán spricht explizit von einer „Bluts­ge­mein­schaft“. Zusam­men­ge­halten wird das Magya­rentum durch eine „Religion des Blutes“. Die behauptete geogra­phische Abstammung beflügelt den Anspruch auf „Lebensraum“ und befördert damit Revan­chismus-Bestre­bungen zur Wieder­her­stellung des Status quo ante vor dem Vertrag von Trianon (1920), als zu Großungarn auch Gebiete Öster­reichs, der Slowakei, Polens, Rumäniens, Kroatiens, Serbiens und der Ukraine gehörten. In diesem Sinne – einschließlich einer Relati­vierung des Holocaust –, werden seit nunmehr neun Jahren die Geschichte umgeschrieben, die gesamte Kultur- und Bildungs­land­schaft umgestaltet und Straßen­namen umbenannt. Auch die Sozial­ge­setze wurden so geändert, dass dieje­nigen aus dem sozialen Netz fallen, die die hallu­zi­nierte Homoge­nität der Volks­ge­mein­schaft vermeintlich gefährden. Zudem ist in den letzten Jahren die Zahl der Kinder, die aus ihren Familien „heraus­ge­hoben“ wurden, um sie umzuer­ziehen, drastisch gestiegen. Kirchen­ge­meinden, die die Nächs­ten­liebe ernst nehmen und sich für die sozial Schwächsten einsetzen, wird der Kirchen­status entzogen. Bezeichnend für das System ist auch die Wissen­schafts- und Intel­lek­tu­el­len­feind­lichkeit. Die moderne Wissen­schaft und Bildung werden für die „Entspi­ri­tua­li­sierung“ der Menschheit verant­wortlich gemacht und die Intel­lek­tu­ellen als Manipu­la­toren des Volks­willens verfemt.

Ein „Europa der Nationen“

Mit den anste­henden Wahlen zum EU-Parlament hofft die Regierung Orbán nun, auch die EU umgestalten zu können. Auch hierbei ist Jobbik ihr ideolo­gi­scher Verbün­deter. Im Sinne ihrer Vision eines „Europa der Nationen“ wollen sie dem postna­tio­nalen, vom Libera­lismus vergif­teten, geschichts­ver­ges­senen und materia­lis­ti­schen Europa eine konser­vativ-revolu­tionäre, männlich-hierar­chisch aufge­baute Ordnung entgegensetzen.
Die Konzeption eines „Europa der Nationen“ ist ethno­plu­ra­lis­tisch und – nach Roger Griffin – faschis­tisch. Ethno­plu­ra­lismus bedeutet ein Neben­ein­ander von Ethno­na­tio­na­lismen, das heißt das Neben­ein­ander von vermeintlich homogenen ethni­schen Volks­ge­mein­schaften, von geschlos­senen Gesell­schaften und geschlos­senen Kulturen. Dieses Konzept nimmt an, dass die Volks­ge­mein­schaften vonein­ander durch spezi­fische Eigen­arten – in geogra­phi­scher, blutmä­ßiger, ja geneti­scher Abstammung, in Kultur und Sprache sowie in einem postu­lierten gemein­schaft­lichen Bewusstsein – getrennt sind. So wird von „Kultur“ und „Identität“ gesprochen, aber eigentlich „Rasse“ gemeint.
Nach der ethno­plu­ra­lis­ti­schen Auffassung sind Völker oder Volks­ge­mein­schaften nur dann fähig, Konflikte zu lösen, wenn sie sich auf die eigenen kultu­rellen und geogra­phi­schen Eigen­heiten konzen­trieren. Diese Ideologie geht davon aus, dass die einzelnen Volks­ge­mein­schaften jeweils einheit­liche Kulturen haben, die man gegen „fremde Einflüsse“ vertei­digen muss. Damit die jewei­ligen Volks­ge­mein­schaften ihre eigene Kultur und Identität bewahren können, wird angenommen, sie müssten sich vonein­ander abgrenzen. So wird der Kampf um eine reine Kultur zur Kampf­ansage gegen den Univer­sa­lismus der Aufklärung.
Das Konzept „Europa der Nationen“ steht deshalb im Gegensatz zu den univer­sellen Menschen­rechten. Das Neben­ein­ander der ausgren­zenden Natio­na­lismen will eine Alter­native zu Univer­sa­lismus und Egali­ta­rismus sein, produ­ziert jedoch genau dadurch den Boden für Ausgrenzung, für den Terror nach Innen und für den Krieg nach Außen. Auf inter­na­tio­naler Ebene bauen Regierung und Jobbik ein politi­sches Netzwerk auf, in dem in Europa und darüber hinaus alle „konser­va­tiven Revolu­tionäre“ zusam­men­ar­beiten sollen. Die Gemein­sam­keiten werden hierbei in der spiri­tu­ellen Urtra­dition der „weißen Rasse“ verortet. Die gegen­wärtige „Hinwendung zum Osten“ hat mit dieser Suche nach dem verloren geglaubten Spiri­tua­lismus zu tun, der in Osteuropa (insbe­sondere in Russland) noch eher überlebt haben soll als im dekadenten Westen. Rezipiert werden diesbe­züglich Autoren wie der Berater Benito Musso­linis und Anhänger Heinrich Himmlers und der SS, Julius Evola (1898–1974), der heute sowohl in der Alt-Right der USA als auch bei der „Neuen Rechten“ Europas beliebt ist. Sympto­ma­tisch dafür ist, dass ausge­rechnet Steve Bannon ein Berater Viktor Orbáns bei der Kampagne zu den EU-Wahlen sein soll. Der wichtigste Autor auf Evolas Spuren in Ungarn ist Béla Hamvas (1897–1968), dessen Ideologie nicht nur die Philo­sophie der Regierung und die von Jobbik maßgeblich beein­flusst, sondern auch in größeren Kreisen äußerst beliebt ist. Ausgehend von der kultur­pes­si­mis­ti­schen Perspektive Oswald Spenglers (1880–1936) und anderer konser­va­tiver Revolu­tionäre über den Untergang der abend­län­di­schen Kultur entwi­ckelte Hamvas seine Vision einer indo-arischen Gesell­schafts­ordnung. Zum Symbol für Untergang und Wieder­auf­er­stehung im gerei­nigten Urzustand bestimmte auch Hamvas die Swastika.
In diesem Sinne wird von der Regierung und anderen völki­schen Gruppen eine „reine“ Kultur mit rassisch-natio­nalen Eigen­heiten, also ein „natio­nales und weißes Erwachen“ angestrebt. Dass dies alles noch unter der Flagge „christlich“ und „demokra­tisch“ segeln kann, ist ein Hohn auf dieje­nigen, die den christ­lichen und menschen­recht­lichen Univer­sa­lismus ernst nehmen.

Textende

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