Ungarns konservative Revolution
Elitenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus: Das völkisch-autoritäre Denken des 19. und 20 Jahrhunderts ist in Ungarn tief verankert. Viktor Orbán baut darauf sein illiberales Regime, das er als Modell für Europa sieht. Ein Essay über die konservative Revolution in Ungarn in den Jahren 1990 bis 2019.
Das Volk und die Mächtigen
Das Volk gegen die ausbeuterischen Machthaber – mit diesem Kürzel kann man die gegenwärtige Demonstrationswelle in Ungarn charakterisieren. Obwohl es demokratische Forderungen der Demonstrierenden gibt, wie zum Beispiel die nach einer unabhängigen Justiz , einer europäischen Staatsanwaltschaft und nach unabhängigen öffentlich-rechtlichen Medien, ist der völkische Druck auch in der Opposition so stark, dass darunter jegliches demokratisches Potenzial leidet. Ein kritisch-emanzipatorisches Bewusstsein hat sich in Ungarn bis heute nicht durchgesetzt. Das kulturell tradierte völkische Denken ist so verfestigt und verfügt über ein derart ausgeprägtes Kommunikationsinstrumentarium, dass ein Widerstand im Sinne der allgemeinen Menschenrechte beinahe aussichtslos erscheint.
Gegenwärtig wird beispielsweise ein vermeintlicher Klassenkampf von unten gegen die Regierung geführt, der wiederum ein „Klassenkampf von oben“ vorgeworfen wird. Dabei bilden sich unheimliche Allianzen. Nachdem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit etwa zwei Jahren für eine Koalition mit der rechtsradikalen Partei Jobbik plädieren, wurde diese Anfang Januar verkündet. Die Orbán-Regierung könne nur in einem Oppositionsbündnis mit Jobbik abgelöst werden, meinen linksliberale Oppositionelle. Deswegen müsse man sich zusammenschließen. Im Übrigen sei Jobbik inzwischen in der Mitte angekommen. Im heutigen Kampf, der auf die narrative Formel „Wir hier unten“ gegen „Die da oben“ oder „Arme gegen Reiche“ reduziert wird, werden Politiker zu Helden gekürt, die sich für unabhängig erklären, doch eindeutig rechte Ideologien vertreten. Einer der Anführer der gegenwärtigen Protestwelle, der Bürgermeister von Hódmezövásárhely, Péter Márki-Zay, der in der Berliner Tageszeitung „taz“ als die oppositionelle Hoffnung hochgehalten wird, will die Bewegung der paramilitärischen Ungarischen Garde – von der noch die Rede sein wird – neu beleben. Der Bürgermeister gab dies nach einem Treffen mit dem ehemaligen Skinhead und heutigen Chef von Jobbik, Tamás Sneider bekannt, der – Márki-Zay zufolge – mit dem rechtsextremen Erbe von Jobbik gebrochen habe.
Nicht diskutiert wird in Ungarn darüber, dass Jobbik quasi als Opposition der Opposition die gleichen autoritären Ziele verfolgt wie die Regierung. Da Fidesz in der Wählergunst noch immer bei 47 Prozent liegt und Jobbik mit 16 Prozent die zweitstärkste Partei ist, heißt das, dass sich um die 63 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Land autoritäre Parteien an die Spitze des Landes wünschen. Die Einstellungen zu Autoritarismus wurden in Ungarn zuletzt in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre gemessen. Die Erhebungen wiesen schon damals auf einen deutlichen Anstieg der autoritären Tendenzen hin, wurden aber kaum beachtet, weil man den Autoritarismus in Ungarn allgemein nicht als die Ursache von Krisenerscheinungen betrachtet.
Der völkische Autoritarismus
Das völkisch-autoritäre Denken ist in Ungarn so alt wie der Begriff selbst, geht also auf die Zeit der Säkularisierung und der Nationenbildung des 19. und 20. Jahrhunderts zurück, als sich in den sogenannten „verspäteten Gesellschaften“ in Mitteleuropa die Vorstellung von ethnisch homogenen Nationalstaaten herausbildete. Seitdem geht die Unterstützung der nationalen Souveränität Ungarns Hand in Hand mit der Vorstellung einer Volksgemeinschaft im Sinne einer kulturellen und blutmäßigen Abstammungsgemeinschaft. Selbst die Ungarische Nationalhymne (1823), die von Oppositionellen immer wieder gegen die Regierung gesungen wird und deren erste Zeile in das – noch zu erwähnende – neue Grundgesetz (2012) übernommen wurde, versteht unter „den Magyaren“ die Abstammungsgemeinschaft. Die liberale Auffassung von Individualismus, Diversität und Pluralismus, Grundlage des politischen Nationenbegriffs, wird als „zersetzend“ und „verjudet“ abgelehnt.
Dass sich Ungarn mit dieser ethnisch-rassischen Auffassung der Nation nicht nur in zwei Weltkriegen auf der Verliererseite befand, sondern auch am Holocaust beteiligt war, wird kaum reflektiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwar die universellen Menschenrechte proklamiert, dennoch verschwand das völkische Denken mitnichten, sondern wurde sogar durch die Kulturpolitik der sowjetischen Besatzungsmacht noch verstärkt. Kurz vor der Wende 1989/1990 zeigte zwar die damalige „demokratische Opposition“ deutliche Tendenzen der Öffnung hin zu einer pluralistischen Gesellschaft, doch letztendlich gewannen auch damals die Völkischen die Oberhand.
Die Forderung nach nationaler Souveränität, die vor der Wende der Motor für den Widerstand gegen die Sowjetunion gewesen war, wandte sich alsbald gegen einen neuen Feind.
Der „Finanzkapitalist“: Antikapitalistische Reflexe
Die Identitätskrise, die die Wende mit sich brachte, verstärkte die alten antimodernen, realsozialistischen und antikapitalistischen Reflexe, nach denen jede Krise dem „internationalen Finanzkapital“ zuzuschreiben ist. Dieser altbekannte völkische Topos mit seiner antisemitischen Konnotation, in dem das „nationale, gute, schaffende“ Kapital dem „internationalen, spekulativen, raffenden“ Kapital entgegengestellt wird, wandte sich nach 1990 gegen die Europäische Union und den Internationalen Währungsfonds; die ungarischen politischen Eliten galten als deren Vasallen.
Die Ablehnung der jeweiligen ungarischen Regierung basiert auf der völkisch-antikapitalistischen Elitenfeindlichkeit, in der das Narrativ herrscht, dass die antipatriotisch, „finanzkapitalistische Oligarchie“ das eigene Volk erdrückt und ausbeutet, um sich zu bereichern. Dies beherrscht seit Anfang der Neunzigerjahre das oppositionelle Denken. Auch Viktor Orbán beschimpfte als Oppositionsführer den ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány (2004–2009) als „Oligarchen“, der wiederum jetzt in der Opposition in ähnlicher Weise zurückschlägt.
Antimoderne Gegenkultur
Trotz der Tatsache, dass seit der Wende 1990 dreimal auch solche Parteien an der Regierung waren, die sich als demokratisch begreifen, kann von einer erneuten völkisch-ethnischen Bewegung hin zur geschlossenen Gesellschaft gesprochen werden, die 2010 und mit dem Wahlsieg der gegenwärtigen Fidesz-KDNP-Koalition auch parlamentarisch besiegelt wurde.
Dem war seit 2002 eine bewusste Strategie einer „konservativen kulturellen Revolution“ vorausgegangen, die auf Eroberung der kulturellen Hegemonie zielte. Diese Wortwahl entspricht auch Orbáns Begrifflichkeit. Schon in seiner Diplomarbeit von 1987 studierte er Antonio Gramscis Hegemoniethese und prüfte sie an der polnischen Solidarnosc-Bewegung.
Entsprechend seiner Idee, durch die Gründung einer „radikaleren Partei rechts von uns“ ins Zentrum zu gelangen, wurde mit Unterstützung von Fidesz im Jahr 2003 die rechtsradikale Partei Jobbik gegründet, die seitdem ideologisch, aber vielfach auch auf politischer Koalitionsebene mit Fidesz zusammenspielt.
Orbán gründete auch – damals als Oppositionsführer – so genannte Bürgerkreise, die er als außerparlamentarische Bewegung deklarierte. Dem von Orbán persönlich geleiteten Bürgerkreis gehörte auch der damalige Chef von Jobbik, Gábor Vona, an. Die damalige revolutionäre Bürgerkreis-Rhetorik ähnelte bewusst der der 68er-Bewegung in Westeuropa, wurde jedoch als eine Anti-68er-Bewegung deklariert. Die clevere Top-Down-Politik Orbáns wurde mit Bottom-Up-Elementen vermischt. So wurde an der Spitze ein sogenanntes „Haus der Bürger“, ein Ort kultureller Programme und Vortragsreihen in Budapest, eingerichtet, während auf der Basisebene unzählige „Grassroots“-Aktivisten zur Mitarbeit motiviert wurden. Zusammengehalten wurden die zwei Ebenen durch eine mittlere Kommunikationsebene, in der die in diesen Jahren entstandenen privaten, von der damals oppositionellen Fidesz finanzierten, „national gesinnten“ Medien und deren rechtsradikale Varianten platziert wurden.
Die Propaganda letzterer wurde von den Fidesz-nahen Medien als „deftig“, aber „alternativ“ bezeichnet. All diese Medien heizten rechte Gewaltgruppen an. Gehetzt wurde vor allem gegen die Sozialliberalen mit dem damaligen Ministerpräsidenten, Ferenc Gyurcsány, der als Anführer von „bolschewisierenden, satanischen Kräften“ und als „echter Antichrist“ dämonisiert wurde. Das gnostische, im politischen Gegner das Böse suchende Element zeigte sich in der dualistischen Rhetorik, in der sich die Völkischen (speziell auch Orbán) als das Licht definierten, während sie die sozialliberalen politischen Gegner als chaotisch und dunkel darstellten.
Erster bewaffneter Umsturzversuch 2006
Ein erster Beweis dieser Zusammenarbeit war 2006 der Angriff auf das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens – stellvertretend für die „Lügenpresse der linksliberalen Oligarchenregierung“, die im völkischen Ton des „Genozids am Magyarentum“ beschuldigt wurde. Schon 2005 wurde die Reinkarnation des „Volksaufstandes von 1956“ zum seinem fünfzigsten Jahrestag gegen das „Joch der nationfeindlichen Linken“ vorausgesagt, als Orbán die Vision einer nationalen Wende verkündete. Der Hinweis auf die Revolution von 1956 war damals auch in den Reden Orbáns von strategischer Bedeutung. So sagte er ein Jahr vor den Krawallen: „Nach einer Weile, wenn das Zeichen kommt, schauen wir uns gegenseitig an, treten mit anderen in Blickkontakt (...), krempeln kollektiv die Ärmel hoch, und hauen rein. (...) Das Zeichen ist da. (...) Haltet Euch für den Wechsel bereit!“
Es gibt plausible Hinweise, dass die Krawalle von 2006, bei denen das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens brannte, von Fidesz angestiftet wurden. Die Ausführenden waren Jobbik-nahe Militante, und das sie befeuernde Medium war das Fidesz-nahe Hir-TV, das den Angriff mit Molotowcoctails als heldenhafte „Revolution“ bezeichnete. Eine Fidesz-Abgeordnete rief zum Mord am damaligen Ministerpräsidenten auf: „Wenn Sie radikal genug wären, würden Sie diesen verdammten Gyurcsány abknallen“.
Auch die Gründung der paramilitärischen Organisation von Jobbik (2007), die Ungarische Garde, deren Mitgliederzahl innerhalb von nur zweieinhalb Jahren auf etwa dreieinhalbtausend wuchs, dürfte Teil dieser konservativrevolutionären Fidesz-Strategie gewesen sein. Der damalige, Fidesz-nahestehende Staatspräsident, vor dessen Fenstern die Gründungszeremonie stattfand, blieb stumm. Manche Fidesz-Mitglieder waren auch Mitglieder der Garde. Sie wurde zwar 2009 verboten, existiert aber dennoch als Bewegung weiter, wobei die Zusammenkünfte im Privaten stattfinden.
Es war offensichtlich, dass die damalige linksliberale Regierung dem mächtig daherkommenden Rechts-Druck machtlos gegenüberstand. Die außerinstitutionellen ideologischen und politischen Aktivitäten der nationalistischen Rechten formten in diesen Jahren mit ihrem notorisch gegenmodernen, geschichtsverdrehenden, den Holocaust leugnenden, gegen Minderheiten und den politischen Gegner hetzenden Narrativ langsam die Gesellschaft um.
Der Mobilisierungskraft, die von historischen Mythen ausgeht und deren Kommunikationsmittel die Symbol-Politik ist, hatten die damaligen Regierungen nichts entgegenzusetzen. Sie teilten sogar die völkische Symbolsprache, zumindest hatten sie keine alternative politische Sprache zu bieten.
Die völkische Wende des letzten Jahrzehnts
So entstand bis 2010 eine gegenkulturelle Massenbewegung, die die diskursive Deutungshoheit erlangte und mit einer glatten Zweidrittelmehrheit die Parlamentswahlen gewann.
Innerhalb von nur zwei Jahren verabschiedete die neue Regierung – nunmehr durch die breite Mehrheit unterstützt – die wichtigsten Gesetze, um den „Volksstaat“ auch juristisch auszubauen. In Eiltempo wurde zunächst über das neue Staatsbürgerschaftsgesetz nach dem Ius-Sanguinis-Prinzip abgestimmt, das die „demokratische“ Opposition ebenfalls beinahe einstimmig bewilligte. Nebenbei sei bemerkt, dass nach der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments neben der ethnonationalen Nationalhymne auch die revanchistische so genannte Szekler-Hymne (Transsylvanische Hymne) beinahe von allen mitgesungen wurde. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz integriert die so genannten Diasporamagyaren (so der ethnonationale Jargon) in die Volksgemeinschaft, obwohl sie nicht in Ungarn leben. Jemand, der beispielsweise in den USA lebt und kaum Ungarisch spricht, kann dennoch zur völkischen Gemeinschaft des Magyarentums gehören, wenn er bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft einen Eid auf das „nationale Glaubensbekenntnis“ – so der Titel des neuen Grundgesetzes – ablegt.
Seit Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes wurde über einer Million Menschen die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen mit dem Ziel, das „universelle Magyarentum“ zusammenzuhalten und seine Hilfe beim Ausbau des System Orbán in Anspruch nehmen zu können.
Als nächstes wurde das neue Mediengesetz verabschiedet, dessen Präambel das Volk (also die Volksgemeinschaft) als schützenswert deklariert. Im Sinne der Festigung dieser von Orbán und der Fidesz repräsentierten Mehrheit wurden Redakteure mit rechtsextremen Ansichten in Spitzenpositionen gesetzt. Das Gesetz unterwirft alle Medien, einschließlich Internet-Blogs, der zentralen staatlichen Kontrolle durch eine neu geschaffene Medienbehörde. Inzwischen sind die Medien fast vollkommen gleichgeschaltet. Für ihre Finanzierung sorgt eine 2018 gegründete, gigantische Medienholding.
Als Krönung dieses kalten Staatsstreichs wurde 2011 das neue Grundgesetz verabschiedet, in dessen Präambel die Selbstbeschreibung als Republik gestrichen wurde. Der „wichtigste Rahmen unseres Zusammenlebens sind Familie und Nation“, heißt es, wobei unter Familie ausschließlich die Ehe zwischen Mann und Frau und unter Nation die ethnisch-völkische Kulturnation verstanden werden. In Artikel B, Absatz 2, fällt zwar der Begriff „Republik“, doch sämtliche republikanische Gedanken sind von völkischen Bekenntnissen verdrängt, alles unterliegt der Überschrift „Nationales Glaubensbekenntnis“ und dem einleitenden Satz: „Gott segne die Magyaren!“ Fortan steht der Schutz der Nation über dem des Individuums und über der Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Ungarns Staatsideologie heute: Schutz der Volksgemeinschaft und des Weiß-Seins
Der Begriff „Grundgesetz“ wurde gewählt, weil es in Ungarn bereits eine so genannte historische Verfassung, bekannt auch als „Lehre der Heiligen Ungarischen Krone“ oder „Heilige Kronenlehre“, gegeben hatte. Im „Nationalen Glaubensbekenntnis“ heißt es deshalb: „Wir halten die Errungenschaften unserer historischen Verfassung und die Heilige Krone in Ehren, die die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation verkörpern.“ Die Erwähnung der „Heiligen Krone“ und der „Kronenlehre“ wird vielfach für nebensächlich gehalten, dabei bildet der Kronenmythos – wie er mit wissenschaftlichem Abstand genannt werden muss – die Grundlage der mythischen Staatsideologie Ungarns. Kulturgeschichtlich vergleichbar ist er mit dem Gralsmythos, das heißt, mit der Bedeutung des „Heiligen Gral“ und der „Gralslehre“ im Nationalsozialismus.
Grundlage dieser Staatsideologie ist der Blut-und-Boden-Mythos. Demnach ist die Volksgemeinschaft eine Abstammungsgemeinschaft; Viktor Orbán spricht explizit von einer „Blutsgemeinschaft“. Zusammengehalten wird das Magyarentum durch eine „Religion des Blutes“. Die behauptete geographische Abstammung beflügelt den Anspruch auf „Lebensraum“ und befördert damit Revanchismus-Bestrebungen zur Wiederherstellung des Status quo ante vor dem Vertrag von Trianon (1920), als zu Großungarn auch Gebiete Österreichs, der Slowakei, Polens, Rumäniens, Kroatiens, Serbiens und der Ukraine gehörten. In diesem Sinne – einschließlich einer Relativierung des Holocaust –, werden seit nunmehr neun Jahren die Geschichte umgeschrieben, die gesamte Kultur- und Bildungslandschaft umgestaltet und Straßennamen umbenannt. Auch die Sozialgesetze wurden so geändert, dass diejenigen aus dem sozialen Netz fallen, die die halluzinierte Homogenität der Volksgemeinschaft vermeintlich gefährden. Zudem ist in den letzten Jahren die Zahl der Kinder, die aus ihren Familien „herausgehoben“ wurden, um sie umzuerziehen, drastisch gestiegen. Kirchengemeinden, die die Nächstenliebe ernst nehmen und sich für die sozial Schwächsten einsetzen, wird der Kirchenstatus entzogen. Bezeichnend für das System ist auch die Wissenschafts- und Intellektuellenfeindlichkeit. Die moderne Wissenschaft und Bildung werden für die „Entspiritualisierung“ der Menschheit verantwortlich gemacht und die Intellektuellen als Manipulatoren des Volkswillens verfemt.
Ein „Europa der Nationen“
Mit den anstehenden Wahlen zum EU-Parlament hofft die Regierung Orbán nun, auch die EU umgestalten zu können. Auch hierbei ist Jobbik ihr ideologischer Verbündeter. Im Sinne ihrer Vision eines „Europa der Nationen“ wollen sie dem postnationalen, vom Liberalismus vergifteten, geschichtsvergessenen und materialistischen Europa eine konservativ-revolutionäre, männlich-hierarchisch aufgebaute Ordnung entgegensetzen.
Die Konzeption eines „Europa der Nationen“ ist ethnopluralistisch und – nach Roger Griffin – faschistisch. Ethnopluralismus bedeutet ein Nebeneinander von Ethnonationalismen, das heißt das Nebeneinander von vermeintlich homogenen ethnischen Volksgemeinschaften, von geschlossenen Gesellschaften und geschlossenen Kulturen. Dieses Konzept nimmt an, dass die Volksgemeinschaften voneinander durch spezifische Eigenarten – in geographischer, blutmäßiger, ja genetischer Abstammung, in Kultur und Sprache sowie in einem postulierten gemeinschaftlichen Bewusstsein – getrennt sind. So wird von „Kultur“ und „Identität“ gesprochen, aber eigentlich „Rasse“ gemeint.
Nach der ethnopluralistischen Auffassung sind Völker oder Volksgemeinschaften nur dann fähig, Konflikte zu lösen, wenn sie sich auf die eigenen kulturellen und geographischen Eigenheiten konzentrieren. Diese Ideologie geht davon aus, dass die einzelnen Volksgemeinschaften jeweils einheitliche Kulturen haben, die man gegen „fremde Einflüsse“ verteidigen muss. Damit die jeweiligen Volksgemeinschaften ihre eigene Kultur und Identität bewahren können, wird angenommen, sie müssten sich voneinander abgrenzen. So wird der Kampf um eine reine Kultur zur Kampfansage gegen den Universalismus der Aufklärung.
Das Konzept „Europa der Nationen“ steht deshalb im Gegensatz zu den universellen Menschenrechten. Das Nebeneinander der ausgrenzenden Nationalismen will eine Alternative zu Universalismus und Egalitarismus sein, produziert jedoch genau dadurch den Boden für Ausgrenzung, für den Terror nach Innen und für den Krieg nach Außen. Auf internationaler Ebene bauen Regierung und Jobbik ein politisches Netzwerk auf, in dem in Europa und darüber hinaus alle „konservativen Revolutionäre“ zusammenarbeiten sollen. Die Gemeinsamkeiten werden hierbei in der spirituellen Urtradition der „weißen Rasse“ verortet. Die gegenwärtige „Hinwendung zum Osten“ hat mit dieser Suche nach dem verloren geglaubten Spiritualismus zu tun, der in Osteuropa (insbesondere in Russland) noch eher überlebt haben soll als im dekadenten Westen. Rezipiert werden diesbezüglich Autoren wie der Berater Benito Mussolinis und Anhänger Heinrich Himmlers und der SS, Julius Evola (1898–1974), der heute sowohl in der Alt-Right der USA als auch bei der „Neuen Rechten“ Europas beliebt ist. Symptomatisch dafür ist, dass ausgerechnet Steve Bannon ein Berater Viktor Orbáns bei der Kampagne zu den EU-Wahlen sein soll. Der wichtigste Autor auf Evolas Spuren in Ungarn ist Béla Hamvas (1897–1968), dessen Ideologie nicht nur die Philosophie der Regierung und die von Jobbik maßgeblich beeinflusst, sondern auch in größeren Kreisen äußerst beliebt ist. Ausgehend von der kulturpessimistischen Perspektive Oswald Spenglers (1880–1936) und anderer konservativer Revolutionäre über den Untergang der abendländischen Kultur entwickelte Hamvas seine Vision einer indo-arischen Gesellschaftsordnung. Zum Symbol für Untergang und Wiederauferstehung im gereinigten Urzustand bestimmte auch Hamvas die Swastika.
In diesem Sinne wird von der Regierung und anderen völkischen Gruppen eine „reine“ Kultur mit rassisch-nationalen Eigenheiten, also ein „nationales und weißes Erwachen“ angestrebt. Dass dies alles noch unter der Flagge „christlich“ und „demokratisch“ segeln kann, ist ein Hohn auf diejenigen, die den christlichen und menschenrechtlichen Universalismus ernst nehmen.
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