Brexit: So polarisiert die britische Presse
Leave or remain: Ohne Rücksicht auf Verluste haben sich die britischen Zeitungen in eines der Lager geschlagen. Statt Aufklärung zu leisten, vertieft die Presse die gesellschaftliche Spaltung. Insbesondere der Boulevard schreckt vor wilden Schlagzeilen und selbst vor Fake News nicht zurück. Was ursprünglich im liberalen Verständnis vom Wettstreit der Argumente gründet, bedroht heute die Presse in ihrem Auftrag einer an den Tatsachen orientierten Berichterstattung und damit auch in ihrer Glaubwürdigkeit.
Der französische Präsident Emmanuel Macron und EU-Ratspräsident Donald Tusk mit Maschinenpistolen, dazu die Schlagzeile: „Dreckige EU-Ratten. Die Euro-Gangster locken May in einen Hinterhalt“ – so sah die Titelseite der britischen Boulevardzeitung „The Sun“ im September nach dem EU-Gipfeltreffen in Salzburg aus.
Ja, die britischen Boulevard-Zeitungen sind für ihre derbe Sprache bekannt. Die „Sun“ titelte etwa nach dem Tod des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 triumphierend: „Das ist für Lockerbie.“ Doch mit der Brexit-Berichterstattung hat die Diskussion um den Ton und die Genauigkeit der Boulevard-Blätter im Umgang mit Fakten eine neue Bedeutung gewonnen.
Die Fragen lauten: Hat die polarisierende und emotionale Berichterstattung vor dem Brexit-Referendum die Wähler beeinflusst? Und welche Folgen hat eine solche Berichterstattung für eine liberale Demokratie?
Medien definieren die Grenzen des Sagbaren
Die „EU-Ratten“-Schlagzeile ist nicht das erste Beispiel dafür gewesen, dass britische Medien in der Berichterstattung rund um den Brexit große Geschütze auffahren. Vor zwei Jahren zum Beispiel bezeichnete das Boulevardblatt „Daily Mail“ die Richter des High Court als „Volksfeinde“, nachdem sie geurteilt hatten, dass die Regierung für den Brexit einen Parlamentsbeschluss braucht.
Doch nun, nach der „EU-Ratten“-Schlagzeile, regte sich in Brüssel Protest. EU-Justizkommissarin Věra Jourová rief die Medien zu mehr Verantwortungsbewusstsein auf. „Medien können eine Dialogkultur aufbauen oder Spaltungen säen, Desinformation verbreiten und Ausgrenzung bewirken“, sagte sie. Ihr Argument: Die Freiheit der Presse ist unantastbar. Aber die Medien sind dafür verantwortlich, die Grenzen des Sagbaren zu definieren.
Die „Sun“ reagierte prompt und warf der EU-Kommissarin vor, die Medien für kritische Berichterstattung „bestrafen“ zu wollen. „Es sind nicht unsere Schlagzeilen oder Titelseiten, die die Menschen dazu bringen, sich von der EU abzuwenden. Die EU macht das selbst gut genug“, schrieb das Blatt.
Tatsächlich hat die Brexit-Debatte das Land und seine Medien tief gespalten. Bei den Printmedien haben sich zwei Lager gebildet. Die Entscheidung über die Haltung einer Zeitung wurde in den meisten Fällen alleine von der jeweiligen Chefredaktion getroffen, was erklärt, warum Schwesterblätter wie die „Times“ und die „Sunday Times“ oder die „Daily Mail“ und „Mail on Sunday“ unterschiedliche Positionen vertraten. Die BBC war – wie andere Fernsehsender – per Gesetz dazu verpflichtet, unparteilich zu bleiben und ermöglichte es beiden Seiten, zu Wort zu kommen.
Das Vertrauen der Öffentlichkeit hat Schaden genommen
Der Ton vieler Brexit-Berichte war selbst für britische Verhältnisse rau. Als „scharf und spaltend“ bezeichnen Medienforscher vom King’s College London die Berichterstattung. Für ihre Studie haben die Wissenschaftler mehr als 15.000 Artikel analysiert. Die beiden Lager hätten einander regelmäßig vorgeworfen, Ängste zu schüren, zu lügen und die Öffentlichkeit in die Irre zu führen, so die Forscher. Das habe Auswirkungen auf die politische Kultur. „Angesichts des Ausmaßes, in dem jede Seite der anderen Unehrlichkeit und Panikmache vorwarf, sowie des Ausmaßes, in dem diese Behauptungen von den Medien aufgegriffen und oft verstärkt wurden, wäre es eine Überraschung, wenn nach der Abstimmung am 23. Juni 2016 das politische Vertrauen der Öffentlichkeit nicht nachlassen und die Ängste nicht größer würden“, schlussfolgern die Autoren der Studie.
Zwei Themen seien während der Brexit-Debatte am häufigsten vorgekommen: Wirtschaft und Migration. Und obwohl rein quantitativ mehr Artikel über Wirtschaftsthemen verfasst worden seien, so die Forscher, hätten die Geschichten über Migration häufiger auf Titelseiten gestanden, vor allem bei den Boulevardblättern aus dem „Leave“-Lager. Insgesamt sei Einwanderung überwiegend negativ beschrieben worden. Die Migranten seien für viele der wirtschaftlichen und sozialen Probleme Großbritanniens verantwortlich gemacht worden. Bestimmte Nationalitäten seien dabei besonders häufig in negativem Kontext erwähnt worden – etwa Türken, Albaner, Polen und Rumänen. Einige Schlagzeilen hätten Migration sogar auf drastische Weise mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Zwei Beispiele: „Mörder und Vergewaltiger aus der EU, die wir nicht deportieren konnten.“ („Daily Mail“) und „Europäische Verbrecher dürfen frei in Großbritannien leben.“ („Daily Telegraph“)
Fake News statt Fakten
Es ist kaum möglich zu messen, ob und wie diese Berichterstattung die Entscheidung der Wähler beeinflusst hat. Und es wäre zu einfach, nur die Medien für die Ergebnisse des Referendums verantwortlich zu machen. Die Spaltung der Tories in der EU-Frage, die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse und des unteren Teils der Mittelschicht, der Verlauf der Kampagne und letztendlich auch die Entscheidungen einzelner Politiker – all das spielt eine Rolle. Aber die Medien haben zweifelsohne oft die bestehenden Vorurteile verstärkt und die Spaltung vertieft.
Ein anderes Problem, das nicht nur für Großbritannien relevant ist, ist der Umgang mit Fakten. Während der Kampagne wurden viele zweifelhafte oder gar falsche Behauptungen aufgestellt und verbreitet. Ein bekanntes Beispiel ist das falsche Versprechen der „Leave“-Kampagne, wonach nach dem Brexit zusätzliches Geld nicht in das EU-Budget, sondern in das Gesundheitssystem NHS fließen werde, und zwar in Höhe von 350 Millionen Pfund pro Woche. Eine glatte Lüge.
Wenn John Lloyd, ein Journalist der „Financial Times“ und Mitbegründer des Reuters Institute for Study of Journalism an der Oxford Universität, über die Lehren aus der Brexit-Debatte nachdenkt, kommt deswegen die Notwendigkeit des Factchecking an erster Stelle. Neben dem Prüfen von Fakten sei es außerdem wichtig, komplizierte politische und wirtschaftliche Sachverhalte einfach und zugänglich zu erklären.
Lloyd arbeitet für eine Zeitung, die vom gebildeten und wohlhabenden Teil der Gesellschaft gelesen wird. Doch er sieht einiges an der Arbeit von Journalisten aus dem liberalen Lager kritisch. „Wir müssen der Meinung von normalen Menschen mehr Aufmerksamkeit schenken“, sagt er. Den Ausgang des Referendums hätten viele Politiker und Journalisten in London falsch eingeschätzt. Das zeige auch, dass Hauptstadtredaktionen zum Teil das Gefühl dafür verloren hätten, wie die Stimmung in anderen Teilen des Landes sei. Lloyds Tipp: Journalisten sollten stärker auf das Lokale achten, auf die Themen, die Menschen vor Ort bewegen. Leichter gesagt als getan – denn wegen ihrer schlechten finanziellen Lage können sich viele Zeitungen heute keine regionalen Korrespondenten mehr leisten.
Die Medien als „Marktplatz der Ideen“
„Kenne deine Fakten, prüfe sie grundsätzlich und folge nicht der Masse“, das ist auch die wichtigste Lehre für Peter Hitchens, Journalist der konservativen „Mail on Sunday“. Er ist EU-Skeptiker, war aber dagegen, die Frage per Referendum zu klären. Es habe ihn überrascht, wie schnell sich viele Journalisten und Politiker auf die „Leave“-Seite geschlagen hätten, ohne sich mit den Fakten auszukennen. Hitchens sieht sich dem konservativen Lager verpflichtet. Und er sieht es nicht als seine Aufgabe, die Positionen des eigenen Lagers zu hinterfragen. „Unser Job ist, das anzugreifen, was die andere Seite tut“, sagt er. Denn schlussendlich, findet er, hätten die Menschen die Wahl, welche Zeitung sie lesen. Der Streit der Argumente, egal ob im Parlament, im Gericht oder in den Medien, diene schließlich am besten dem Zweck, die Wahrheit herauszufinden.
Diese Ansicht spiegelt das traditionelle britische Verständnis von Pressefreiheit wider. Dieses Verständnis hat seinen Ursprung in der berühmten „Areopagitica“, einer Streitschrift des Denkers John Milton gegen die Zensur. In ihr argumentiert Milton für einen freien Wettbewerb der Ideen. Die Wahrheit sei der Lüge immer überlegen, so Milton. Es mache keinen Sinn, die Verbreitung von irrtümlichen Ideen einzuschränken. Denn erst in der Auseinandersetzung mit der Falschheit könne sich die Wahrheit behaupten. Das Konzept des „Marktplatzes der Ideen“ gehört heute zu der Tradition des klassischen Liberalismus, auf die die Briten so stolz sind.
Gilt das auch für unsere Zeit, die so oft als das „postfaktische Zeitalter“ bezeichnet wird? In den letzten Jahren fürchten viele, dass sich die Lüge gegen die Wahrheit durchsetzen könne, wenn sie nur oft genug wiederholt werde. Dieses Dilemma im liberalen Rahmen zu lösen, ist keine triviale Aufgabe – nicht nur für britische Medien.
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