Es ist Zeit, die ökonomische Unschuld zu verlieren
Von wegen Rezession: Die drohende Konjunkturkrise ist ein Warnsignal einer größeren strukturellen Krise. Deutschland verliert technologisch den Anschluss, ist überproportional exportabhängig und geopolitisch naiv. Das Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft ist aus der Zeit gefallen.
Deutschland fühlt sich heute an, als würde es die letzten Tage einer wirtschaftlichen Blütezeit durchleben. Noch nie ging es dem Land so gut. Die Auftragsbücher sind voll, die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordtief. Wir befinden uns im zehnten Jahr eines Aufschwungs – der längste seit Ludwig Erhard. Aber das Wirtschaftsmärchen neigt sich dem Ende zu. Konjunkturelle Sturmwolken ziehen auf.
Im Juni ist die Industrieproduktion im Vorjahresvergleich um fünf Prozent gesunken. Der Export um acht Prozent. Das Geschäftsklima verschlechtert sich, immer mehr Unternehmen beantragen Kurzarbeit. Die Rufe nach Konjunkturpaketen werden lauter. Alle sprechen von einer kommenden Rezession. Das Wort „Rezession“ wird mittlerweile so häufig gegoogelt, wie zuletzt im Krisenjahr 2008/2009.
Aber diese Debatte greift zu kurz. Ich befürchte: Wir stehen nicht an der Schwelle einer temporären Konjunkturkrise, sondern einer Strukturkrise. Wir genießen eine Gegenwart, die vergeht. Die alte Wirtschaftswelt, wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Eine neue ist im Entstehen. Das deutsche Wohlstandsmodell kriselt.
Unsere Kernbranchen sind Industrien aus der Kaiserzeit
Erstens, unsere Wirtschaft wirkt aus der Zeit gefallen. Die deutschen Unternehmensgiganten des 20. Jahrhunderts taumeln. Die Autoindustrie steckt im Abgasskandal und kriegt kein massentaugliches Elektroauto hin. Industrieikone ThyssenKrupp fliegt aus dem DAX. Die Deutsche Bank ist ein Schatten ihrer selbst. Und Bayer ist im Krisen-Modus, nachdem der Kauf von Monsanto sich als „stupid German money“ erwiesen hat. Die Unternehmensberatung EY hat eine Liste der umsatzstärksten börsennotierten Unternehmen der Welt erstellt und deren Wachstum verglichen. Schlusslicht? Die deutschen Vertreter. Unsere Kernbranchen – Automobil‑, Maschinen- und Anlagenbau – sind Industrien aus der Kaiserzeit. Können sie es gegen die jungen, hungrigen Technologie- und Datenkonzerne aus dem Silicon Valley oder Shenzhen aufnehmen?
Unser technologischer Vorsprung schmilzt. Und damit unser Wettbewerbsvorteil. Deutschland bewegt sich, so Adam Posen, Chef des renommierten Washington Peterson Institutes, „auf der Wertschöpfungskette relativ gesehen nach unten, nicht nach oben.“ Bei der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz drohen wir den Anschluss zu verlieren. Man hat den Eindruck, wir erleben das Ende einer industriellen und technologischen Epoche, die wir geprägt haben. Und betreten eine neue, in der wir keine Rolle mehr spielen.
Wenn China niest, bekommen wir Schüttelfrost
Zweitens, die Handelsordnung zerbricht. Wir sind der größte Gewinner des Welthandelssystems. Unsere Unternehmen sind global vernetzt und auf den Weltmärkten zu Hause. Deutschlands 30 DAX-Unternehmen erwirtschaften 80 Prozent ihrer Einnahmen im Ausland. Wir sind Exportweltmeister und stolz darauf. Aber diese Exportlastigkeit macht uns überproportional abhängig von der internationalen Lage. Millionen industrielle Arbeitsplätze hängen in Deutschland vom Außenhandel ab. Wenn Chinas Wirtschaft niest, bekommen wir Schüttelfrost.
Der wachsende Protektionismus und Handelskrieg stechen ins Herz des deutschen Geschäftsmodells. Globale Wertschöpfungsketten sind unter Druck; sie fangen an sich zu entkoppeln. Die Handelsströme verändern sich und die WTO befindet sich in existenzieller Bedrohung. Ray Dalio, Gründer des weltweit größten Hedgefonds Bridgewater Associates, spricht von einem weltweiten wirtschaftlichen Paradigmenwechsel. „Wir sind womöglich Zeugen vom Ende der Globalisierung“, schreibt Neil Shearing, Chefökonom des Analysehauses Capital Economics, in einer Notiz an seine Kunden. Die Welt zerfällt in rivalisierende Wirtschaftsblöcke. Die internationale Handelsordnung löst sich auf wie Würfelzucker im Wasser. Damit kriselt unser exportbasiertes Geschäftsmodell.
Der liberale Geist der offenen Märkte ist tot
Drittens, Wirtschaft wird politisch. Der liberale Geist der offenen, freien Märkte, der die Neunziger- und Nullerjahre geprägt hat, ist tot. Eine Geopolitisierung der Weltwirtschaft hat stattgefunden. Die Sphären der Sicherheit und der Wirtschaft vermischen sich. Es geht nicht mehr um Ökonomie, sondern um Geoökonomie. Auf diesem Feld tragen die Vereinigten Staaten und China ihren Kampf um die globale Vorherrschaft aus.
Wir erleben die „Logik des Krieges in der Grammatik der Ökonomie“ (Luttwak). Dort gelten andere Regeln und andere Mittel. Es geht weniger um Bodentruppen, Artillerie und Kriegsmanöver, sondern um handelspolitische Einflusszonen, technologische Dominanz, feindliche Firmenübernahmen, Währungskriege und Rohstoffvorkommen. Amerikanische Exportkontrollen auf High-Tech-Güter nach China, Pekings Seidenstraße-Initiative, mögliche US-Strafzölle gegen Nordstream 2, all diese Maßnahmen folgen geoökonomischen Interessen.
Die neue Normalität
Das ist die neue Normalität, mit der wir konfrontiert sind. Diese zerstört das deutsche Wirtschaftsverständnis. In Deutschland wird Wirtschaftspolitik rein kommerziell betrieben und nicht als Mittel für strategische Ziele eingesetzt. Der Deutsche denkt merkantil, nicht strategisch. Er steht der Vermischung der Wirtschafts- und Außenpolitik zutiefst ablehnend gegenüber. Als Bundespräsident Horst Köhler 2010 darauf hinwies, dass bei einem „Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit (...) im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“, wurde er zum Rücktritt gedrängt. Wir tun uns heute immer noch schwer damit, anzuerkennen, dass auch wir ein Interesse daran haben, die freien Seewege, etwa in der Straße von Hormus, zu sichern. Wir benötigen einen strategischen Kulturwandel, in der Wirtschaftspolitik auch unter geopolitischen Gesichtspunkten verstanden wird. Es ist an der Zeit, unsere ökonomische Unschuld zu verlieren.
Deutschland steht im Zentrum der wirtschaftspolitischen Umbrüche. Es ist ein Land aus zumeist klassischen, analogen Industrieunternehmen im Digitalzeitalter. Ein exportabhängiges Land in Zeiten einer sich auflösenden Handelsordnung. Ein Land das an die reine Lehre der Wirtschaftspolitik glaubt inmitten eines geoökonomischen Kalten Krieges. Ein Land das an der „Schwarzen Null“ festhält und somit massiv auf Verschleiß fährt, wie es die Bundesvorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, ausdrückte.
Die drohende Konjunkturkrise ist ein Warnsignal einer größeren strukturellen Krise. Sie erinnert an den Dialog in Ernest Hemingways Roman „Fiesta“: „Wie bist Du bankrottgegangen? Auf zweierlei Weise. Erst schleichend und dann plötzlich.“
Kein kurzzeitiges Konjunkturpaket wird diesen Herausforderungen gerecht. Wir brauchen langfristige Investitionen und eine Wirtschaftspolitik, die nicht die negativen Symptome unseres Geschäftsmodells bekämpft, sondern die Grundlagen für den Wohlstand von Morgen legt.
Der Text gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
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