On the road: Sozialliberale Dinosaurier in Uruguay
In Uruguay regieren seit vielen Jahren ideologiekritische Ex-Guerilleros. Dank ihrer klugen Wirtschaftspolitik prosperiert das Land. Europa könnte viel von ihnen lernen, berichtet Marko Martin in seiner Kolumne „On the Road“ aus Montevideo.
In den Buchhandlungen auf der Avenida 18 de Julio finden sich die Biographien über den Präsidenten ebenso wie auf dem sonntäglichen Flohmarkt nahe dem Hafen von Montevideo. Dazu – zwischen Silbergeschirr, Stones-LP´s und allerlei Vintage-Kram – plastikumhüllte Fotografien und Zeitungsbilder des Nationalhelden: Zurückgekämmtes gewelltes Haar, Bart, weißes Hemd und Frack. Und ein Name, der (falsche) Assoziationen des Pompösen weckt: Senor El Presidente José Pablo Torcuato Batlle y Ordónez (1856, Montevideo – 1929, Montevideo.)
Der Staat ist nicht überschuldet, die Sozialausgaben sind nicht auf Pump finanziert, und weder Presse und Institutionen noch die freie Wirtschaft werden gegängelt. Die Kritik an der Regierung ist immer konkret, niemals alarmistisch, und selbst liberale Ökonomen stellen das uruguayische Modell nicht in Frage.
Personenkult also selbst hier in Uruguay, das noch immer als “Schweiz Südamerikas“ gilt und seit 2005 erfolgreich sozialliberal regiert wird? (In den Aushängen der Zeitungskioske die Bilder und Schlagzeilen der Anderen: Nicaraguas Comandante Daniel Ortega nebst Gattin und Vizepräsidentin Rosario Murillo, die gegenwärtigen Sozialproteste in Managua als “feindliche Provokation“ denunzierend; Brasiliens Ex-Präsident Lula, der trotz dubios entstandenen Familienreichtums auch weiterhin fäusteschüttelnd als „Mann des Volkes“ posiert; schließlich der vom greisen Raúl Castro eingesetzte neue kubanische Präsident Diaz-Canel, der in seiner Antrittsrede das Ziel der Revolution als „Dauer der Revolution“ buchstabiert.) Und der Alte von Montevideo?
Westliche Ignoranz gegenüber Uruguay
„Zu modest und unscheinbar, um von Euch im Westen wahrgenommen zu werden“, sagt der 38jährige Schriftsteller Pablo Trochon, der ansonsten mit Politik nicht viel am Hut hat, sondern lieber an einem Silberröhrchen den landestypischen Mate-Tee schlurft, postmoderne Texte schreibt und seine Freundin davon zu überzeugen versucht, Geld zu sparen, um für ein paar Monate in Berlin zu leben. „Denn was hatte Präsident Batlle y Ordónez in seinen zwei Amtszeiten vor hundert Jahren schon geleistet? Den uruguayischen Sozialstaat aufgebaut – okay, aber keine sozialistische Revolution ausgerufen. Arbeitslosengeld, allgemeine Haftpflichtversicherung, Trennung von Staat und Kirche, Kruzifix-Verbot in Krankenhäusern, allgemeines Stimmrecht, 48-Stundenwoche, Altersrente ab 60, kostenloses Schul- und Bildungssystem... na ja, all solches Reformisten-Zeug eben.“
Vorbei die Zeit der Galeano-Verehrung
Der Spott über die westliche Ignoranz angesichts dieses lateinamerikanischen Wunders ist ironisch-milde und kommt sogar ohne das naheliegende Kollegen-Dissen aus. Dabei hat es – außer dem lediglich Literatur-Aficionados bekannten Romancier Juan Carlos Onetti – nur ein einziger Uruguayer ins kollektive auswärtige Gedächtnis geschafft: Eduardo Galeano und seine kapitalismuskritische Bibel „Die offenen Adern Lateinamerikas“, ohne die jahrzehntelang keine WG-Debatte und kein entwicklungspolitisch korrekter Kirchentags-Diskurs auskam. Tempi passati, denn inzwischen scheint die ehemals „Engagierten“ nicht einmal mehr zu verunsichern, dass Nicaraguas kleptokratischer Sandinistenchef nun aufs eigene Volk schießen lässt und auf Kuba eine neue Runde repressiver Stagnation eingeläutet wird.
Christdemokraten neben Kommunisten
Das uruguyaische Wunder aber ist noch immer Realität. Nachdem der zum gewitzten Sozialliberalen gewordene Ex-Guerilllero José Mujica vor drei Jahren als Präsident abtrat (mit Zustimmungsraten, so hoch wie bei seiner Wahl 2010), ist nun mit Tabaré Vázquez sein politisch ähnlich sozialisierter Amtsvorgänger auch der Nachfolger. Das bedeutet Kontinuität, fortgesetzte wirtschaftliche Prosperität bei gleichbleibend hohem Sozialniveau – und sorgt gleichzeitig bei der jüngeren Generation für gelinden Überdruß: Der weiterhin medial präsente José Mujica ist inzwischen 83 Jahre alt, Amtsinhaber Vázquez ist 78, und auch der 78jährige Wirtschaftsminister Danilo Astori werkelt bereits seit einer gefühlten Ewigkeit. Dazu einige Skandälchen um staatsnahe Unternehmen und ein Raubmord in den Außenbezirken der geruhsam-sicheren Hauptstadt Montevideo, der die aufgeschreckte Öffentlichkeit seit Wochen beschäftigt. Auch mit der Digitalisierung hängt´s, die Diversifizierung der auf Landwirtschaftsexporte konzentrierten Wirtschaft lässt auf sich warten – kurz: Das seit 2005 regierende progressive Parteienbündnis Frente Amplio, in dem sich Christdemokraten ebenso finden wie moderate Kommunisten, ist in die Jahre gekommen und braucht dringend neuen Anschub, weibliche Führungskräfte inklusive.
Nur temporärer Protektionsismus
Dennoch ist der Staat nicht überschuldet, sind die Sozialausgaben nicht auf Pump finanziert, werden weder Presse und Institutionen noch die freie Wirtschaft gegängelt. Die Kritik an der Regierung ist konkret, niemals alarmistisch, und selbst liberale Ökonomen stellen das uruguayische Modell nicht in Frage.
Dabei hatte doch, zumindest aus puristischer Sicht á la Hayek und Friedman, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem reformkonservativen Präsidenten Batlle y Ordonez alles mit einer vermeintlichen Todsünde begonnen: Um die einheimische Wirtschaft aufzubauen und neben der Landwirtschaft auch Industriegründungen als Einkommensquelle zu gerieren, hatte es anfangs Importzölle und temporären Protektionismus gegeben – Uruguay sollte nicht von ausländischen Großkonzernen überrannt und zur billigen Produktionsstätte gemacht werden. Das Erfolgsmodell des Landes, über ein ganzes Jahrhundert: Untauglich für Ideologen jedweder Couleur.
Tor zum Binnenmarkt Brasiliens
In der deutsch-uruguayischen Handelskammer vis-á-vis der sonnenhellen Plaza Independencia versucht man derweil, Deutschland und der EU zu vermitteln, dass der moderne Hafen von Montevideo gleichzeitig das Tor ist für den riesigen brasilianischen Binnenmarkt, von hier aus auf dem Schienenweg zu erreichen. „Entweder der Westen wacht auf, oder die Chinesen machen den Schnitt“, heißt es lapidar, denn schon jetzt sind die Lobbys der Hauptstadt-Hotels voll chinesischer Geschäftsleute.
Zu beobachten ist jedoch auch dies: Verdutzte Mienen der Partei-Kapitalisten, denn bereits hier läuft ihr forderndes Drängeln und autoritäres Gebaren (noch) leer – uruguayische Rezeptionisten/Kellner/Zimmermädchen sind kein zu kujonierendes „Personal“, sondern freundlich-selbstbewusste Staatsbürger. Höchste Zeit, dieses erfreuliche Land auf den Schirm zu bekommen.
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