Wie CDU und SPD Europa vergaßen
In den Koalitionsverhandlungen haben CDU und SPD versäumt, das Vorschlagsrecht für den deutschen EU-Kommissar zu regeln. Das hat die CSU geschickt für sich genutzt.
Fast ein Jahr ist es her, dass die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD einen Koalitionsvertrag unterzeichneten. Zuvor hatte sich die SPD-Basis in einer Befragung hinter das Vorhaben der Parteispitze gestellt, die Koalition mit CDU/CSU fortzusetzen und erneut in eine Bundesregierung einzutreten.
Am Koalitionsvertrag fiel insbesondere das prominent platzierte, umfangreiche und als ambitioniert empfundene Eingangskapitel zur Europapolitik auf, das als Errungenschaft von Martin Schulz begriffen wurde, der die SPD als Parteichef in und durch die Koalitionsverhandlungen geführt hatte. Wie immer zog auch die Ressortverteilungsliste Aufmerksamkeit auf sich. In der CDU rieb man sich am Verlust des Finanzministeriums, das an die SPD ging. Einige monierten, dass die SPD generell „starke“ Ressorts an sich gezogen habe. Doch weder in den Parteien noch unter Journalisten wurde in jenen Wochen (und auch nicht seitdem) die Frage aufgeworfen, warum im Koalitionsvertrag das Vorschlagsrecht für den EU-Kommissar fehlte.
Man kann ja nicht davon reden, dass es hier um eine Lappalie geht. Eher drängt sich der Eindruck auf, dass es eine beispiellose Nachlässigkeit war: Ausdruck der Behäbigkeit der deutschen politischen Eliten im Umgang mit der EU und ihren Institutionen. Das hat gewissermaßen Tradition. Weder gelten Brüsseler Karrieren im politischen Betrieb Deutschlands als erstrebenswert (außer für notorische EU-Nerds, die in ihren Parteien aber Sonderlinge sind), noch streckt sich jemand bei Wahlen zum Europäischen Parlament nach der Spitzenkandidatur – wie man zuletzt aufs Neue beobachten konnte. Eine Ausnahme sind hier die Grünen. Dennoch verblüfft es, dass ausgerechnet Martin Schulz, der noch vor wenigen Jahren nach dem Kommissionsvorsitz gegriffen hat (und damit indirekt nach dem deutschen Kommissarsposten), dieses Thema in den Koalitionsverhandlungen übersehen haben soll.
Für kleine Staaten bedeutet der Posten einen Sechser im Lotto
Andere EU-Länder hängen das Thema höher. Für kleinere und mittlere Länder ist der Posten des Kommissars/der Kommissarin der zweitwichtigste nach dem Regierungschef. Die Skandinavier etwa haben zuletzt politische Schwergewichte nach Brüssel geschickt (Margrethe Vestager, Cecilia Malmström), die nun selbstverständlich unter den ersten sind, die auf der Suche nach dem nächsten Kommissionspräsidenten genannt werden.
Für Estland und Lettland war es klar, ehemalige Regierungschefs nach Brüssel zu schicken (Andrus Ansip, Valdis Dombrovskis), die von Kommissionschef Jean-Claude Juncker dankbar zu Stellvertretern erhoben wurden und zu den Aktivposten der Kommission gehören. Je kleiner die Staaten, desto größer der Glanz (und der handfeste politische Nutzen), der von dem Kommissar/der Kommissarin in Brüssel auf die heimische politische Szene abfällt. Solange jeder der 28 bzw. demnächst 27 EU-Staaten einen Kommissar/eine Kommissarin entsenden darf, egal ob die Nation aus 80 oder acht Millionen Menschen besteht, bedeutet der Posten für viele einen Sechser im Lotto.
Aber auch den Kommissar/die Kommissarin Deutschlands, derzeit der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger, wird man in puncto politischer Einfluss und Wirkungsgrad realistischerweise auf Platz drei hinter der Kanzlerin und dem Bundesfinanzminister einordnen müssen.
Warum also hat man eine Entscheidung dieser Reichweite vor Beginn der Koalition nicht geregelt?
Manfred Weber schlug sich selbst als Spitzenkandidat vor
Dazu gibt es verschiedene Vermutungen, mit denen ich CDU, CSU und SPD in den vergangenen Wochen konfrontiert habe. Aber die Pressestellen der Parteien können oder wollen diese Fragen ebenso wenig beantworten wie alle weiterführenden Fragen zum Vorschlagsrecht und den dafür zuständigen Gremien (Kabinett? Parteivorstände? Koalitionsausschuss?).
Fakt ist: Im September 2018 beantwortete der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament die Frage nach dem Vorschlagsrecht ganz nonchalant. Manfred Weber schlug sich nämlich einfach selbst als Spitzenkandidat der EVP für die Europawahl 2019 vor. Der EVP-Kongress wählte den regierungsunerfahrenen Christsozialen dann im Herbst in Helsinki auf diese Position – nach einem ausdrücklichen endorsement von Angela Merkel, die zuvor auch (als CDU-Vorsitzende? Als Bundeskanzlerin?) die Kandidatur Webers begrüßt hatte.
Das Vorgehen Webers basiert auf dem noch jungen (aber von den Liberalen begreiflicherweise bereits wieder in Frage gestellten) common sense, wonach der Spitzenkandidat der europaweit erfolgreichsten Parteienfamilie vom Europäischen Rat zum nächsten Kommissionschef vorgeschlagen und vom Parlament bestätigt werden soll. Wie selbstverständlich gehen die Unionsparteien nun davon aus, dass Weber bei erfolgreichem Abschneiden der EVP von Deutschland als Kommissar vorgeschlagen wird, um Kommissionspräsident zu werden. Niemand scheint das zu hinterfragen.
Aber was, wenn Weber nicht den Kommissionsvorsitz bekommt?
Hemdsärmelig ist das, um es sanft auszudrücken. Aber so war es bereits vor fünf Jahren: Da wählte Martin Schulz dasselbe Vorgehen. Auch er wollte – an der Spitze des SPE-Wahlkampfs – Kommissionschef werden und baute ebenso darauf, dass ihm die große Koalition mit diesem Amt zugleich den deutschen Kommissarsposten überlassen würde. Während sich aber Weber laut letzten Umfragen zumindest ausrechnen kann, mit der EVP als stärkster politischer Kraft auf diesen Posten zu pochen, verfehlte Schulz schon das Etappenziel.
Die Frage nach dem Vorschlagsrecht wird sich mit Vehemenz stellen, wenn der Europäische Rat sich demnächst nicht an das nirgendwo kodifizierte Spitzenkandidaten-Modell halten sollte, sondern in einem umfangreichen Personaldeal, der auch den Ratsvorsitz und weitere Spitzenpositionen umfassen könnte, den Kommissionsvorsitz an eine liberale Politikerin übertragen sollte. Wird Weber dann automatisch ersatzweise deutscher Kommissar? Von SPD und CDU auch hierzu: keine Antwort.
In künftigen Koalitionsverhandlungen, in welcher Zusammensetzung auch immer, sollte das Vorschlagsrecht für den EU-Kommissar/die EU-Kommissarin (sofern eine Europawahl in die Legislaturperiode fällt) im Rahmen der Ressortverteilung ausgehandelt und kommuniziert werden. Man sollte wettbewerbsfreundliche Spielregeln aufstellen und der Koalitionspartei, die bei der Europawahl national oder in ihrer Parteienfamilie EU-weit das relativ beste Ergebnis erzielt, das Vorrecht erlauben. Oder, besser, die Position wie einen ausgelagerten Kabinettsposten in die Verhandlung um die Ressortverteilung miteinbeziehen. Und am allerbesten zudem in den europapolitischen Teil des Koalitionsvertrags aufnehmen.
Ist nichts vereinbart, wird den Christdemokraten als auf absehbare Zeit stärkste politische Kraft in Deutschland und Europa stillschweigend das Vorschlagsrecht überlassen. Die CSU hat sich das nicht zwei Mal sagen lassen und beherzt zugegriffen. Ihr Einfluss auf die Geschicke der EU lässt sich derzeit nur schwer abschätzen.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.