Der 9. November und die langen Linien der deutschen Geschichte

Bundes­archiv 183-R21003 Spontante Ansprache in Berlin 9.11.1918

Die Demokratie ist keine Garantie gegen den Rückfall in die Barbarei. Sie muss immer neu verteidigt werden. Die Moderne hat stets geistige und politische Gegen­be­we­gungen hervor­ge­bracht. Man muss diese langen Linien der Opposition gegen die liberale Demokratie kennen, um die heutige „antili­berale Konter­re­vo­lution“ besser verstehen und bekämpfen zu können.

Es gibt keinen Tag, an dem Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte sich so verbinden wie am 9. November. An diesem Datum wurde die Weimarer Republik ausge­rufen, nach dem geschei­terten Anlauf von 1848 die erste Demokratie auf deutschem Boden. Exakt zwanzig Jahre später ging ein organi­sierter Mob auf jüdische Gottes­häuser, Geschäfte und Privat­häuser los, ein Vorgriff auf die bevor­ste­hende Vernichtung der europäi­schen Judenheit. Die Pogrome des 9. November waren auch ein Test auf die Reaktion der deutschen „Volks­ge­nossen“ und des Auslands. Danach konnte Hitler davon ausgehen, dass sein Programm der ethni­schen Säuberung keinen lauten Aufschrei hervor­rufen würde. Dagegen fällt auf den 9. November 1989 ein helles Licht.  An jenem denkwür­digen Tag öffnete sich der „Eiserne Vorhang“, der Deutschland und Europa nach dem zweiten Weltkrieg teilte. Der Fall der Berliner Mauer war der Anfang vom Ende des sowje­ti­schen Imperiums, er öffnete eine Bresche für die Freiheits- und Unabhän­gig­keits­be­we­gungen von Polen bis zur Ukraine.

Wer diesen Tag miterlebt hat, wird ihn nicht vergessen. Die Ostber­liner, die zunächst zögerlich, dann eupho­risch die Mauer nach Westen passierten, rührten auch hartge­sottene Anhänger der deutschen Zweistaat­lichkeit. Davon gab es gar nicht so wenige, den Autor einge­schlossen. Wir fürch­teten das Wieder­erwachen des deutschen Natio­na­lismus, die Wiederkehr eines unbere­chen­baren großen Deutsch­lands. Und wir wollten die DDR lieber als Experi­men­tierfeld eines „dritten Wegs“ zwischen Kapita­lismus und Sozia­lismus sehen denn als Osterwei­terung der Bundes­re­publik. Andere rümpften die Nase über die spießig-provin­zi­ellen Ossis und fürch­teten um ihre liberale Oase im Westen. Man erinnert sich an Otto Schily, der die Volks­kam­mer­wahlen von 1990 mit erhobener Banane kommen­tierte. Das war die Verachtung des Großbürgers gegenüber den ostdeut­schen Klein­bürgern mit ihren Deutsch­land­fahnen, Trabbis und nachge­machten Jeans.

Die Vorbe­halte gegenüber einer bloßen Auflösung der DDR in die Bundes­re­publik, die auch ein Großteil der ostdeut­schen Bürgerrechtler/​innen teilte, wurden durch den Druck der Straße weggefegt. Die Einheit wurde nicht von oben verordnet, sondern von unten erzwungen. Die Botschaft der Demons­tranten im Osten hatte sich gewandelt: vom trotzig-selbst­be­wussten „Wir sind das Volk“ zum patrio­ti­schen „Wir sind ein Volk“. Die demokra­tische Revolution mündete in eine nationale Bewegung. Es ging um Deutschland. Wer das übersieht, versteht die Popula­rität der AfD im Osten nicht. Das restau­rative Deutsch­landbild, das in Sachsen und anderswo unter der Oberfläche des DDR-Sozia­lismus konser­viert wurde, entsprach längst nicht mehr der bundes­deut­schen Realität. Im Osten ging es um eine ethnisch und kulturell verstandene nationale Identität, im Westen gehörte es zum guten Ton, post-national und multi­kul­turell einge­stellt zu sein. In der alten Bundes­re­publik wurde die konser­vativ-autoritäre Tradition durch einen Prozess der Verwest­li­chung aufge­brochen. Popkultur und antiau­to­ritäre Studen­ten­be­wegung, Bürger­initia­tiven und Frauen­eman­zi­pation hatten die Republik verändert. In Ostdeutschland wurde die natio­nal­so­zia­lis­tische Diktatur durch einen sozia­lis­ti­schen Obrig­keits­staat abgelöst. Nonkon­for­mis­ti­sches Verhalten und freies Denken wurden allen­falls in Nischen toleriert.

Die mentale Ungleich­zei­tigkeit führte zu Reibungen und Enttäu­schungen, die bis heute fortwirken. Sie wurden verschärft durch den Kollaps der DDR-Wirtschaft, der Hundert­tau­sende ins soziale Abseits schleu­derte, die Abwertung der bishe­rigen Funkti­ons­eliten und die Übernahme der Führungs­po­si­tionen durch Westler. Was aus westlicher Perspektive als Dauer­sub­ven­tio­nierung der „neuen Bundes­länder“ erschien, kam im Osten als Kolonia­li­sierung an. In der „Generation Ost“ kursiert die Rede von den „Verwüs­tungen der 90er Jahre“. Die ruinösen Hinter­las­sen­schaften der SED-Diktatur verblassen ebenso wie die großen Aufbau­leis­tungen der Nach-Wende-Jahre. Der Stolz, das SED-Regime in einem großen Akt zivilen Aufbe­gehrens abgeschüttelt zu haben, wich dem Gefühl der Kränkung. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2017 bezweifeln  70 Prozent der Ostdeut­schen,  dass es in der Bundes­re­publik „eine echte Demokratie gibt“.

Die Erinnerung an die Ausrufung der Weimarer Republik ist nicht minder zwiespältig. Sie war von Anfang an heftig umkämpft, von links wie von rechts. Es war tragisch, dass eine Licht­ge­stalt wie Rosa Luxemburg, die noch kurz zuvor hellsichtig vor einer Diktatur der bolsche­wis­ti­schen Führer in Russland gewarnt hatte, 1918 gegen die Errichtung einer „bürger­lichen Schein­de­mo­kratie“ und die Sozial­de­mo­kraten als Hilfs­truppe der Reaktion wütete. Die sozia­lis­tische Revolution, für die sie trommelte, konnte unter den gegebenen Umständen nicht anders als durch einen kommu­nis­ti­schen Putsch und eine anschlie­ßende Diktatur reali­siert werden, die sich auf die bewaffnete Gewalt einer Minderheit stützte. Das Dogma, dass es nur im Sozia­lismus „wahre Demokratie“ geben könne und die parla­men­ta­rische Republik nur die Fassade für die Herrschaft des Kapitals sei, vergiftete das Verhältnis der radikalen Linken zur „bürger­lichen Demokratie“ auf Jahrzehnte hinaus.

Auch große Teile der alten Eliten in Militär und Justiz, im Beamten­ap­parat und der Wirtschaft lehnten die Weimarer Republik ab. Sie war von Anfang an ein ungeliebtes Kind, belastet mit der Bürde des Versailler Vertrags, ohne Rückhalt in weiten Teilen der Gesell­schaft, angefeindet von der kommu­nis­ti­schen Linken und der natio­na­lis­ti­schen Rechten. Man muss das Stehver­mögen von Protago­nisten wie Friedrich Ebert und Gustav Stresemann bewundern. Stresemann hatte sich von einem Anhänger der imperialen Flotten- und Koloni­al­po­litik zu einem „Vernunft­re­pu­bli­kaner“ gewandelt, der den Ausgleich nach innen und außen suchte. Unter seines­gleichen war er eher die Ausnahme. Nicht nur die ostelbi­schen Junker und die Großin­dustrie standen überwiegend auf Kriegsfuß mit der Demokratie. Ein Großteil der ehema­ligen Front­of­fi­ziere machte die „republi­ka­ni­schen Umtriebe“ von 1918 für die schmach­volle Niederlage verantwortlich.

Der Geist wehte rechts, trotz Tucholsky und Remarque, Feucht­wanger und Brecht, Heinrich und Thomas Mann, der erst nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs eine demokra­tische Kehre vollzog. Es waren ihre Antipoden wie Arthur Moeller van den Bruck („Das dritte Reich“), Oswald Spengler („Der Untergang des Abend­lands“), der elitär-natio­na­lis­tische Ernst Jünger, der Staats­rechtler Carl Schmitt und der junge Martin Heidegger, die den Zeitgeist prägten. Jünger verherr­lichte die schick­sal­hafte Gemein­schaft der Front­sol­daten gegen den „Krämer­geist“ der liberalen Moderne. In den 20er Jahren war er in natio­nal­re­vo­lu­tio­nären Kreisen aktiv, sein Ideal war ein natio­naler Sozia­lismus mit einem autori­tären, wehrhaften Staat. Carl Schmitt zog gegen den Libera­lismus und seine Kinder zu Felde, den Indivi­dua­lismus und Parla­men­ta­rismus. Er verfocht die Idee eines homogenen Staats­volks bis zur letzten Konse­quenz der Ausson­derung alles „Kultur­fremden“. Für Heidegger war der Bolsche­wismus nur eine Spielart des Ameri­ka­nismus, Amerika der Inbegriff der seins­ver­ges­senen Moderne. So unter­schiedlich diese geistigen Strömungen auch sein mögen, gemeinsam war ihnen die Aversion gegen den Libera­lismus und die westliche Zivili­sation, ihr Kultur­pes­si­mismus und die Beschwörung schick­sal­hafter Gemeinschaft.

Auch völki­scher Antise­mi­tismus und der Hass auf die „Weimarer Juden­re­publik“ hatten lange vor Hitlers Aufstieg zur Macht Hochkon­junktur. Der 9. November 1938 war kein Blitz aus heiterem Himmel. Eines der stärksten Motive des Antiju­da­ismus – neben dem Neid auf den kommer­zi­ellen, wissen­schaft­lichen, künst­le­ri­schen Erfolg von Juden – war und ist die Gleich­setzung des Judentums mit kapita­lis­ti­scher Geldwirt­schaft und der „Zersetzung“ natio­naler Gemein­schaft. Seit der Oktober­re­vo­lution kam das Schreck­ge­spenst des „jüdischen Bolsche­wismus“ dazu. Für Antise­miten ist es kein Problem, „die Juden“ abwech­selnd als Strip­pen­zieher des Finanz­ka­pi­ta­lismus und des Kommu­nismus zu verteufeln.

Man muss diese langen Linien der Opposition gegen die liberale Moderne kennen, um die heutige „antili­berale Konter­re­vo­lution“ (so der britische Histo­riker Timothy Garton Ash) besser verstehen und bekämpfen zu können. Es ist augen­fällig, dass die Moderne von ihren frühen Anfängen an geistige und politische Gegen­be­we­gungen hervor­bringt. Sie setzen an den Brüchen und Zumutungen an, die mit ihr einher­gehen. Goethe und Marx haben das je auf ihre Weise schon im Faust II und im Kommu­nis­ti­schen Manifest vorweg­ge­nommen. Die Überwäl­tigung der Natur, das Verdampfen aller Tradition, die Auflösung aller herge­brachten Bindungen, die Rastlo­sigkeit eines sich beschleu­ni­genden Wandels rufen immer neue Gegen­be­we­gungen von der Romantik bis zu radikalen Gemein­schafts­ideo­logien hervor.

Freiheit ist wunderbar und anstrengend zugleich. Wer selbst­be­stimmt leben will, muss auch Verant­wortung für Irrtümer und Fehlent­schei­dungen tragen. Er kann die Verant­wortung für beruf­liches oder privates Scheitern nicht einfach auf andere abwälzen. Das Beharren auf indivi­du­eller Freiheit kann einsam machen. Gerade in Zeiten stürmi­scher Verän­de­rungen, in denen alte beruf­liche und kultu­relle Sicher­heiten dahin­schmelzen, wächst das Bedürfnis nach solida­ri­scher Gemein­schaft. Das ist der Resonanz­boden für „starke Männer“ (oder Frauen) und für den Rückzug in die nationale Wagenburg, die Schutz vor den Zumutungen der Globa­li­sierung verspricht. Die liberale Demokratie wird nur dann wieder die Oberhand gewinnen, wenn sie Freiheit und Sicherheit, Vielfalt und Gemein­samkeit unter einen Hut bringt.

Für Panik besteht keinen Anlass. Die demokra­ti­schen Insti­tu­tionen sind heute stärker, die freiheit­liche Demokratie tiefer in unserer Gesell­schaft verankert als je zuvor in der deutschen Geschichte. Aber das ist kein Ruhekissen. Die Zukunft der offenen Gesell­schaft wird sich daran entscheiden, ob wir die großen Heraus­for­de­rungen unserer Zeit bewäl­tigen, vom Klima­wandel bis zur digitalen Revolution. Nicht zuletzt geht es darum, das Versprechen auf sozialen Aufstieg und Wohlstand für alle zu erneuern. Die liberale Demokratie ist keine Domäne der Reichen und Erfolg­reichen. Ihr Ziel ist das größte Glück der größten Zahl. Daran muss man heute wieder erinnern.

Ralf Fücks leitet das „Zentrum Liberale Moderne“ in Berlin, eine überpar­tei­liche Denkwerk­statt und Diskus­si­ons­plattform. Zu ihren zentralen Vorhaben gehört die Ausein­an­der­setzung mit den antili­be­ralen Vordenkern von den 20er Jahren bis heute. Das Projekt „Die liberale Demokratie und ihre Gegner“ wird am 6. Dezember mit einer öffent­lichen Veran­staltung in Berlin vorgestellt.


Der Text erschien in leicht verän­derter Fassung unter dem Titel „Freiheit ist wunderbar – und verwundbar“ am 9. November 2018 im Tagesspiegel.

Textende

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