Der 9. November und die langen Linien der deutschen Geschichte
Die Demokratie ist keine Garantie gegen den Rückfall in die Barbarei. Sie muss immer neu verteidigt werden. Die Moderne hat stets geistige und politische Gegenbewegungen hervorgebracht. Man muss diese langen Linien der Opposition gegen die liberale Demokratie kennen, um die heutige „antiliberale Konterrevolution“ besser verstehen und bekämpfen zu können.
Es gibt keinen Tag, an dem Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte sich so verbinden wie am 9. November. An diesem Datum wurde die Weimarer Republik ausgerufen, nach dem gescheiterten Anlauf von 1848 die erste Demokratie auf deutschem Boden. Exakt zwanzig Jahre später ging ein organisierter Mob auf jüdische Gotteshäuser, Geschäfte und Privathäuser los, ein Vorgriff auf die bevorstehende Vernichtung der europäischen Judenheit. Die Pogrome des 9. November waren auch ein Test auf die Reaktion der deutschen „Volksgenossen“ und des Auslands. Danach konnte Hitler davon ausgehen, dass sein Programm der ethnischen Säuberung keinen lauten Aufschrei hervorrufen würde. Dagegen fällt auf den 9. November 1989 ein helles Licht. An jenem denkwürdigen Tag öffnete sich der „Eiserne Vorhang“, der Deutschland und Europa nach dem zweiten Weltkrieg teilte. Der Fall der Berliner Mauer war der Anfang vom Ende des sowjetischen Imperiums, er öffnete eine Bresche für die Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen von Polen bis zur Ukraine.
Wer diesen Tag miterlebt hat, wird ihn nicht vergessen. Die Ostberliner, die zunächst zögerlich, dann euphorisch die Mauer nach Westen passierten, rührten auch hartgesottene Anhänger der deutschen Zweistaatlichkeit. Davon gab es gar nicht so wenige, den Autor eingeschlossen. Wir fürchteten das Wiedererwachen des deutschen Nationalismus, die Wiederkehr eines unberechenbaren großen Deutschlands. Und wir wollten die DDR lieber als Experimentierfeld eines „dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus sehen denn als Osterweiterung der Bundesrepublik. Andere rümpften die Nase über die spießig-provinziellen Ossis und fürchteten um ihre liberale Oase im Westen. Man erinnert sich an Otto Schily, der die Volkskammerwahlen von 1990 mit erhobener Banane kommentierte. Das war die Verachtung des Großbürgers gegenüber den ostdeutschen Kleinbürgern mit ihren Deutschlandfahnen, Trabbis und nachgemachten Jeans.
Die Vorbehalte gegenüber einer bloßen Auflösung der DDR in die Bundesrepublik, die auch ein Großteil der ostdeutschen Bürgerrechtler/innen teilte, wurden durch den Druck der Straße weggefegt. Die Einheit wurde nicht von oben verordnet, sondern von unten erzwungen. Die Botschaft der Demonstranten im Osten hatte sich gewandelt: vom trotzig-selbstbewussten „Wir sind das Volk“ zum patriotischen „Wir sind ein Volk“. Die demokratische Revolution mündete in eine nationale Bewegung. Es ging um Deutschland. Wer das übersieht, versteht die Popularität der AfD im Osten nicht. Das restaurative Deutschlandbild, das in Sachsen und anderswo unter der Oberfläche des DDR-Sozialismus konserviert wurde, entsprach längst nicht mehr der bundesdeutschen Realität. Im Osten ging es um eine ethnisch und kulturell verstandene nationale Identität, im Westen gehörte es zum guten Ton, post-national und multikulturell eingestellt zu sein. In der alten Bundesrepublik wurde die konservativ-autoritäre Tradition durch einen Prozess der Verwestlichung aufgebrochen. Popkultur und antiautoritäre Studentenbewegung, Bürgerinitiativen und Frauenemanzipation hatten die Republik verändert. In Ostdeutschland wurde die nationalsozialistische Diktatur durch einen sozialistischen Obrigkeitsstaat abgelöst. Nonkonformistisches Verhalten und freies Denken wurden allenfalls in Nischen toleriert.
Die mentale Ungleichzeitigkeit führte zu Reibungen und Enttäuschungen, die bis heute fortwirken. Sie wurden verschärft durch den Kollaps der DDR-Wirtschaft, der Hunderttausende ins soziale Abseits schleuderte, die Abwertung der bisherigen Funktionseliten und die Übernahme der Führungspositionen durch Westler. Was aus westlicher Perspektive als Dauersubventionierung der „neuen Bundesländer“ erschien, kam im Osten als Kolonialisierung an. In der „Generation Ost“ kursiert die Rede von den „Verwüstungen der 90er Jahre“. Die ruinösen Hinterlassenschaften der SED-Diktatur verblassen ebenso wie die großen Aufbauleistungen der Nach-Wende-Jahre. Der Stolz, das SED-Regime in einem großen Akt zivilen Aufbegehrens abgeschüttelt zu haben, wich dem Gefühl der Kränkung. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2017 bezweifeln 70 Prozent der Ostdeutschen, dass es in der Bundesrepublik „eine echte Demokratie gibt“.
Die Erinnerung an die Ausrufung der Weimarer Republik ist nicht minder zwiespältig. Sie war von Anfang an heftig umkämpft, von links wie von rechts. Es war tragisch, dass eine Lichtgestalt wie Rosa Luxemburg, die noch kurz zuvor hellsichtig vor einer Diktatur der bolschewistischen Führer in Russland gewarnt hatte, 1918 gegen die Errichtung einer „bürgerlichen Scheindemokratie“ und die Sozialdemokraten als Hilfstruppe der Reaktion wütete. Die sozialistische Revolution, für die sie trommelte, konnte unter den gegebenen Umständen nicht anders als durch einen kommunistischen Putsch und eine anschließende Diktatur realisiert werden, die sich auf die bewaffnete Gewalt einer Minderheit stützte. Das Dogma, dass es nur im Sozialismus „wahre Demokratie“ geben könne und die parlamentarische Republik nur die Fassade für die Herrschaft des Kapitals sei, vergiftete das Verhältnis der radikalen Linken zur „bürgerlichen Demokratie“ auf Jahrzehnte hinaus.
Auch große Teile der alten Eliten in Militär und Justiz, im Beamtenapparat und der Wirtschaft lehnten die Weimarer Republik ab. Sie war von Anfang an ein ungeliebtes Kind, belastet mit der Bürde des Versailler Vertrags, ohne Rückhalt in weiten Teilen der Gesellschaft, angefeindet von der kommunistischen Linken und der nationalistischen Rechten. Man muss das Stehvermögen von Protagonisten wie Friedrich Ebert und Gustav Stresemann bewundern. Stresemann hatte sich von einem Anhänger der imperialen Flotten- und Kolonialpolitik zu einem „Vernunftrepublikaner“ gewandelt, der den Ausgleich nach innen und außen suchte. Unter seinesgleichen war er eher die Ausnahme. Nicht nur die ostelbischen Junker und die Großindustrie standen überwiegend auf Kriegsfuß mit der Demokratie. Ein Großteil der ehemaligen Frontoffiziere machte die „republikanischen Umtriebe“ von 1918 für die schmachvolle Niederlage verantwortlich.
Der Geist wehte rechts, trotz Tucholsky und Remarque, Feuchtwanger und Brecht, Heinrich und Thomas Mann, der erst nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs eine demokratische Kehre vollzog. Es waren ihre Antipoden wie Arthur Moeller van den Bruck („Das dritte Reich“), Oswald Spengler („Der Untergang des Abendlands“), der elitär-nationalistische Ernst Jünger, der Staatsrechtler Carl Schmitt und der junge Martin Heidegger, die den Zeitgeist prägten. Jünger verherrlichte die schicksalhafte Gemeinschaft der Frontsoldaten gegen den „Krämergeist“ der liberalen Moderne. In den 20er Jahren war er in nationalrevolutionären Kreisen aktiv, sein Ideal war ein nationaler Sozialismus mit einem autoritären, wehrhaften Staat. Carl Schmitt zog gegen den Liberalismus und seine Kinder zu Felde, den Individualismus und Parlamentarismus. Er verfocht die Idee eines homogenen Staatsvolks bis zur letzten Konsequenz der Aussonderung alles „Kulturfremden“. Für Heidegger war der Bolschewismus nur eine Spielart des Amerikanismus, Amerika der Inbegriff der seinsvergessenen Moderne. So unterschiedlich diese geistigen Strömungen auch sein mögen, gemeinsam war ihnen die Aversion gegen den Liberalismus und die westliche Zivilisation, ihr Kulturpessimismus und die Beschwörung schicksalhafter Gemeinschaft.
Auch völkischer Antisemitismus und der Hass auf die „Weimarer Judenrepublik“ hatten lange vor Hitlers Aufstieg zur Macht Hochkonjunktur. Der 9. November 1938 war kein Blitz aus heiterem Himmel. Eines der stärksten Motive des Antijudaismus – neben dem Neid auf den kommerziellen, wissenschaftlichen, künstlerischen Erfolg von Juden – war und ist die Gleichsetzung des Judentums mit kapitalistischer Geldwirtschaft und der „Zersetzung“ nationaler Gemeinschaft. Seit der Oktoberrevolution kam das Schreckgespenst des „jüdischen Bolschewismus“ dazu. Für Antisemiten ist es kein Problem, „die Juden“ abwechselnd als Strippenzieher des Finanzkapitalismus und des Kommunismus zu verteufeln.
Man muss diese langen Linien der Opposition gegen die liberale Moderne kennen, um die heutige „antiliberale Konterrevolution“ (so der britische Historiker Timothy Garton Ash) besser verstehen und bekämpfen zu können. Es ist augenfällig, dass die Moderne von ihren frühen Anfängen an geistige und politische Gegenbewegungen hervorbringt. Sie setzen an den Brüchen und Zumutungen an, die mit ihr einhergehen. Goethe und Marx haben das je auf ihre Weise schon im Faust II und im Kommunistischen Manifest vorweggenommen. Die Überwältigung der Natur, das Verdampfen aller Tradition, die Auflösung aller hergebrachten Bindungen, die Rastlosigkeit eines sich beschleunigenden Wandels rufen immer neue Gegenbewegungen von der Romantik bis zu radikalen Gemeinschaftsideologien hervor.
Freiheit ist wunderbar und anstrengend zugleich. Wer selbstbestimmt leben will, muss auch Verantwortung für Irrtümer und Fehlentscheidungen tragen. Er kann die Verantwortung für berufliches oder privates Scheitern nicht einfach auf andere abwälzen. Das Beharren auf individueller Freiheit kann einsam machen. Gerade in Zeiten stürmischer Veränderungen, in denen alte berufliche und kulturelle Sicherheiten dahinschmelzen, wächst das Bedürfnis nach solidarischer Gemeinschaft. Das ist der Resonanzboden für „starke Männer“ (oder Frauen) und für den Rückzug in die nationale Wagenburg, die Schutz vor den Zumutungen der Globalisierung verspricht. Die liberale Demokratie wird nur dann wieder die Oberhand gewinnen, wenn sie Freiheit und Sicherheit, Vielfalt und Gemeinsamkeit unter einen Hut bringt.
Für Panik besteht keinen Anlass. Die demokratischen Institutionen sind heute stärker, die freiheitliche Demokratie tiefer in unserer Gesellschaft verankert als je zuvor in der deutschen Geschichte. Aber das ist kein Ruhekissen. Die Zukunft der offenen Gesellschaft wird sich daran entscheiden, ob wir die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen, vom Klimawandel bis zur digitalen Revolution. Nicht zuletzt geht es darum, das Versprechen auf sozialen Aufstieg und Wohlstand für alle zu erneuern. Die liberale Demokratie ist keine Domäne der Reichen und Erfolgreichen. Ihr Ziel ist das größte Glück der größten Zahl. Daran muss man heute wieder erinnern.
Ralf Fücks leitet das „Zentrum Liberale Moderne“ in Berlin, eine überparteiliche Denkwerkstatt und Diskussionsplattform. Zu ihren zentralen Vorhaben gehört die Auseinandersetzung mit den antiliberalen Vordenkern von den 20er Jahren bis heute. Das Projekt „Die liberale Demokratie und ihre Gegner“ wird am 6. Dezember mit einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin vorgestellt.
Der Text erschien in leicht veränderter Fassung unter dem Titel „Freiheit ist wunderbar – und verwundbar“ am 9. November 2018 im Tagesspiegel.
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