Corona: Wird Israel zur „Demo­kratur“?

Roman Yanus­hevsky /​ Shut­ter­stock

Israel bezahlt einen hohen Preis für die Bildung einer Regie­rungs­mehr­heit. Netanyahu bleibt Premier­mi­nister und könnte sich in 18 Monaten zum Präsi­denten wählen lassen, um einer Verur­tei­lung wegen Korrup­tion zu entgehen. Die Coro­na­krise dient als Recht­fer­ti­gung, das Parlament zeitweise zu schließen. Schlägt Israel einen auto­ri­tären Kurs ein?

Der israe­li­sche Histo­riker und Best­seller-Autor Yuval Noah Harari nannte Premier Benjamin Netanyahu den ersten „Corona-Diktator“. Tatsäch­lich konnte man im jüdischen Staat in diesen Tagen der Pandemie ein Meis­ter­stück machia­vel­lis­ti­scher Poli­tik­kunst erleben, die es in sich hat. Was war geschehen? 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Doku­men­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spon­dent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Die israe­li­sche Oppo­si­tion stand kurz vor ihrem Ziel. Das lautete: den seit 2009 unun­ter­bro­chen regie­renden Premier Netanyahu, der inzwi­schen auch wegen Korrup­tion in drei Fällen angeklagt ist, endlich von seinem „Thron“ zu stürzen. Nach dem dritten Wahlgang innerhalb eines Jahres Anfang März, hatten die Oppo­si­ti­ons­par­teien 61 Mandate in der Knesset. Die knappe Mehrheit. Das israe­li­sche Parlament verfügt über 120 Sitze.

Der Plan der größten Oppo­si­ti­ons­partei Blau-Weiß um Spit­zen­kan­di­daten Benny Gantz war simpel. Nach Eröffnung der Knesset sollte ein neuer Parla­ments­prä­si­dent gewählt werden, was rechtlich so vorge­sehen ist, um Juli Edelstein abzulösen, ein Partei­kol­lege in Netan­yahus Likud. Mit dem neuen Mann hätte die Agenda der Oppo­si­tion durch­ge­zogen werden können: ein Gesetz durch­zu­bringen, dass es einem Ange­klagten verboten hätte, eine Regierung zu bilden. Das wäre das endgül­tige Aus Netan­yahus gewesen.

Schlie­ßung der Knesset

Auf Geheiß von Netanyahu (denn nichts in seiner Partei geschieht ohne sein Einver­ständnis) griff Edelstein zu einem zutiefst unde­mo­kra­ti­schen Mittel: Er schloss einfach die Knesset, ließ nicht abstimmen. Das Oberste Gericht Israels inter­ve­nierte, erklärte, er müsse bis zu einem gewissen Stichtag die Wahl zulassen. Hätte Edelstein dem nicht zuge­stimmt, wäre Israel in eine tiefe konsti­tu­tio­nelle Krise geraten, die Demo­kratie, oder zumindest der Rest davon, wäre erledigt gewesen. Edelstein, der in der Sowjet­union lange in Haft saß, weil er ein soge­nannter „Refusenik“ war, ein „Prisoner of Zion“,  der in seiner gesamten Amtszeit ohne Fehl und Tadel blieb, ein Mann von Ehre, Anstand, Ausgleich und Objek­ti­vität, entzog sich der Proble­matik, in dem er einfach zurück­trat. Im Klartext bedeutete das: dem Beschluss des Obersten Gerichts wurde nicht Folge geleistet. Nun war klar, dass ein neuer Parla­ments­prä­si­dent kommen würde, einer von der Oppo­si­tion. Und damit: das neue Gesetz gegen Netanyahu.

Man war nur noch einen einzigen, winzigen Schritt davon entfernt. Ein Jahr lang haben Blau-Weiß und die anderen Oppo­si­ti­ons­par­teien in drei Wahl­gängen gekämpft, um Bibi endlich loszu­werden. Es war Benny Gantz‘ Wahl­ver­spre­chen gewesen, weswegen ihn viele – Rechte wie Linke –  mit Bauch­schmerzen gewählt hatten. Mit Bauch­schmerzen, weil niemand davon überzeugt war, dass der ehemalige Gene­ral­stabs­chef ein guter Politiker oder gar ein guter Premier wäre. Aber egal, erst einmal sollte Netanyahu weg, der Rest käme dann schon.

Doch was geschah? Gantz knickte kurz vor dem Ziel ein. Er entschied sich für eine große Koalition mit Netanyahu. Kaum hatte er die bekannt gegeben, brach das Blau-Weiß Bündnis ausein­ander. Denn Blau-Weiß bestand aus drei Parteien, die jeweils von Benny Gantz, Yair Lapid und Moshe Yaalon geführt werden. Letztere gingen sofort in die Oppo­si­tion, weigerten sich in eine Koalition mit Netanyahu einzu­treten. So konnte Gantz nur noch seine Leute mitnehmen. Doch für Netanyahu reicht das. Er wird jetzt über eine Mehrheit von mindes­tens 78 Mandaten in der Knesset verfügen.

Will Netanyahu Präsident werden?

Und was bekommt Gantz dafür? Die Zusi­che­rung, dass Netanyahu in 18 Monaten abtritt und er das Amt des Premiers übernimmt. Die Zusi­che­rung, das Außen‑, Vertei­di­gungs- und das Justiz­mi­nis­te­rium zu erhalten. Letzteres ist wichtig, damit der Prozess gegen Netanyahu im Mai beginnen kann. Der Lakai des Premiers, Justiz­mi­nister Ohana, hat mit Ausbruch der Coro­na­krise sofort den Prozess­be­ginn vom 17. März auf den Mai verschieben lassen. Es wird wohl zum Prozess kommen. Aber Netanyahu wird mit Sicher­heit nicht verur­teilt werden, geschweige denn ins Gefängnis kommen. Warum? Weil in 18 Monaten, genau dann, wenn er sein Amt an Benny Gantz abgeben will, Staats­prä­si­dent Reuven Rivlin nach seiner regulären Amtszeit von sieben Jahren abtreten wird. Und so wäre der Weg frei für Netanyahu, Staats­prä­si­dent zu werden. Denn dem Staats­prä­si­denten in Israel ist absolute Immunität zuge­si­chert. Bibi hätte sich nicht nur gerettet, sondern könnte wahr­schein­lich auch, nach dem Vorbild Putins, die israe­li­sche Politik grund­sätz­lich verändern. Denn wer möchte schon glauben, dass ein Staats­prä­si­dent Netanyahu lediglich reprä­sen­ta­tive Pflichten übernimmt? Gantz könnte dann als Premier lediglich Netan­yahus „CEO“ sein, wie ein israe­li­scher Jour­na­list schrieb. Nicht mehr, nicht weniger.

Auf dem Weg zur möglichen Präsi­dent­schaft hat Netanyahu gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Denn Edelstein hatte mit seiner aufrich­tigen, anstän­digen, staats­män­ni­schen Haltung das Zeug und die Sympathie vieler, um 2021 Nach­folger Rivlins zu werden. Das ist nun vorbei. Als Hand­langer Netan­yahus, hat er sich von seinem Boss in die Sackgasse manö­vrieren lassen. Ein Comeback, noch dazu als Präsident, dürfte ausge­schlossen sein.

Corona als Recht­fer­ti­gung für große Koalition

Viele in Israel, die nun schon seit über zwei Wochen wegen Corona in Isolation daheim sitzten, fragen sich entsetzt, was in Benny Gantz gefahren ist. Viele sehen ihn als Verräter an seinen Wählern. Er hat sein Verspre­chen nicht nur nicht einge­halten, er sorgt jetzt obendrein auch noch dafür, dass Netanyahu unan­tastbar wird. Warum nur, warum?

Ausge­rechnet der schärfste Kritiker Netan­yahus, der Jour­na­list Gideon Levy der links­li­be­ralen Tages­zei­tung „Haaretz“, vertei­digt Gantz. Der habe gar keine andere Wahl gehabt. Partei­po­li­ti­sche Über­le­gungen, der Vorwurf des „Verrats“, all das sei in Zeiten von Corona Schnee von gestern, Unsinn. Die Verken­nung der neuen Realität, in der wir alle leben müssen. Wir würden nicht an Netanyahu sterben, sondern an Corona, argu­men­tiert Levy. Insofern müsse jetzt erst einmal dafür gesorgt werden, dass Israel endlich wieder eine legitime Regierung habe, damit man mit vereinten Kräften gegen das Virus kämpfen könne. Gantz, der anstän­dige Soldat, habe sich in den Dienst des Staates, des Volkes, gestellt, um Israel zu retten. Er habe ja auch gewusst, dass er keine Minder­heits­re­gie­rung zustande bekäme. Was hätte es also genutzt, wenn er weiter gemacht hätte wie geplant? Israels Politik wäre weiter im Patt gewesen, Netanyahu sowieso an der Macht, und anstatt sich auf die Bekämp­fung der Pandemie zu konzen­trieren, hätten Netanyahu und all die anderen einen großen Teil ihrer Energie für Macht­kämpfe verbraucht. All die poli­ti­schen Fragen könne man nach dem Ende der Pandemie angehen. Jetzt, so Levy, gäbe es andere Prioritäten.

Wahr­schein­lich hat Levy sogar recht. Aber was sich in Israel politisch abspielt, ist dennoch ein Lehr­bei­spiel und eine Warnung für den Rest der Welt in diesen Zeiten von Corona. Denn nun hat sich – während dieser Artikel geschrieben wird – offenbar auch der Führer der Arbeits­partei, Amir Peretz, entschieden, der neuen Koalition beitreten zu wollen. Die Oppo­si­tion wird kleiner, schwächer, die Regierung stärker, unkon­trol­lier­barer, absoluter.

Ja, Corona ist mögli­cher­weise keine gute Zeit für die Demo­kratie und den Libe­ra­lismus. Sollte die Lage sich weiter verschärfen, könnten Prin­zi­pien, für die wir jahr­zehn­te­lang gekämpft haben, schnell über Bord geworfen werden: Daten­schutz, Persön­lich­keits- und Frei­heits­rechte und noch vieles mehr. Und je nachdem, wie die Demo­kra­tien in den einzelnen Ländern aufge­stellt sind, könnte es bald zu vielen „Demo­kra­turen“ kommen. Und was dann?

Man muss Netanyahu eines lassen: Viel früher als die euro­päi­schen Politiker, hat er begriffen, welche Gefahr von dem Virus ausgeht. Er war der erste, der den Luftraum über seinem Land schloss. Menschen, die nach Israel kamen, mussten schön früh­zeitig in die 14tägige Quaran­täne. So hat Israel einen kleinen Vorsprung vor den euro­päi­schen Staaten, auch vor Deutsch­land mögli­cher­weise gewonnen. Hat Netanyahu Fehler gemacht? Ja, keine Frage. Aus Rücksicht auf seine ortho­doxen Koali­ti­ons­partner hat er lange gezögert, die Reli­gi­ons­schulen, die Synagogen, die rituellen Tauch­bäder zu schließen. Das Ergebnis: in ultra­or­tho­doxen Vierteln und Städten ist die Anste­ckungs­rate achtmal höher als in säkularen Gebieten, die Kran­ken­häuser, schon jetzt beinahe am Rande des Zusam­men­bruchs, werden bald voll sein mit ortho­doxen Patienten, die sich um die Anwei­sungen des Staates nicht kümmerten. Und dieje­nigen, die seit Wochen in Isolation sitzen und mögli­cher­weise dennoch erkranken, müssen dann sehen, wo sie bleiben.

Das Corona-Virus bedroht unser Leben, es bedroht unsere Wirt­schaft, aber es bedroht auch unsere recht­staat­liche Ordnung, die Werte von Demo­kratie und Libe­ra­lismus, von Freiheit und Menschen­würde. Man kann darüber streiten, ob Netanyahu, wie Harari meint, tatsäch­lich ein Diktator ist. Aber was sich in Israel derzeit politisch abspielt, ist auf alle Fälle ein wichtiger Hinweis darauf, dass unser west­li­ches System wackelt. Schon lange. Und dass das Virus es zu Fall bringen könnte.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steu­er­lich absetzbar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

News­letter bestellen

Mit dem LibMod-News­letter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.