Corona: Wird Israel zur „Demokratur“?
Israel bezahlt einen hohen Preis für die Bildung einer Regierungsmehrheit. Netanyahu bleibt Premierminister und könnte sich in 18 Monaten zum Präsidenten wählen lassen, um einer Verurteilung wegen Korruption zu entgehen. Die Coronakrise dient als Rechtfertigung, das Parlament zeitweise zu schließen. Schlägt Israel einen autoritären Kurs ein?
Der israelische Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari nannte Premier Benjamin Netanyahu den ersten „Corona-Diktator“. Tatsächlich konnte man im jüdischen Staat in diesen Tagen der Pandemie ein Meisterstück machiavellistischer Politikkunst erleben, die es in sich hat. Was war geschehen?
Die israelische Opposition stand kurz vor ihrem Ziel. Das lautete: den seit 2009 ununterbrochen regierenden Premier Netanyahu, der inzwischen auch wegen Korruption in drei Fällen angeklagt ist, endlich von seinem „Thron“ zu stürzen. Nach dem dritten Wahlgang innerhalb eines Jahres Anfang März, hatten die Oppositionsparteien 61 Mandate in der Knesset. Die knappe Mehrheit. Das israelische Parlament verfügt über 120 Sitze.
Der Plan der größten Oppositionspartei Blau-Weiß um Spitzenkandidaten Benny Gantz war simpel. Nach Eröffnung der Knesset sollte ein neuer Parlamentspräsident gewählt werden, was rechtlich so vorgesehen ist, um Juli Edelstein abzulösen, ein Parteikollege in Netanyahus Likud. Mit dem neuen Mann hätte die Agenda der Opposition durchgezogen werden können: ein Gesetz durchzubringen, dass es einem Angeklagten verboten hätte, eine Regierung zu bilden. Das wäre das endgültige Aus Netanyahus gewesen.
Schließung der Knesset
Auf Geheiß von Netanyahu (denn nichts in seiner Partei geschieht ohne sein Einverständnis) griff Edelstein zu einem zutiefst undemokratischen Mittel: Er schloss einfach die Knesset, ließ nicht abstimmen. Das Oberste Gericht Israels intervenierte, erklärte, er müsse bis zu einem gewissen Stichtag die Wahl zulassen. Hätte Edelstein dem nicht zugestimmt, wäre Israel in eine tiefe konstitutionelle Krise geraten, die Demokratie, oder zumindest der Rest davon, wäre erledigt gewesen. Edelstein, der in der Sowjetunion lange in Haft saß, weil er ein sogenannter „Refusenik“ war, ein „Prisoner of Zion“, der in seiner gesamten Amtszeit ohne Fehl und Tadel blieb, ein Mann von Ehre, Anstand, Ausgleich und Objektivität, entzog sich der Problematik, in dem er einfach zurücktrat. Im Klartext bedeutete das: dem Beschluss des Obersten Gerichts wurde nicht Folge geleistet. Nun war klar, dass ein neuer Parlamentspräsident kommen würde, einer von der Opposition. Und damit: das neue Gesetz gegen Netanyahu.
Man war nur noch einen einzigen, winzigen Schritt davon entfernt. Ein Jahr lang haben Blau-Weiß und die anderen Oppositionsparteien in drei Wahlgängen gekämpft, um Bibi endlich loszuwerden. Es war Benny Gantz‘ Wahlversprechen gewesen, weswegen ihn viele – Rechte wie Linke – mit Bauchschmerzen gewählt hatten. Mit Bauchschmerzen, weil niemand davon überzeugt war, dass der ehemalige Generalstabschef ein guter Politiker oder gar ein guter Premier wäre. Aber egal, erst einmal sollte Netanyahu weg, der Rest käme dann schon.
Doch was geschah? Gantz knickte kurz vor dem Ziel ein. Er entschied sich für eine große Koalition mit Netanyahu. Kaum hatte er die bekannt gegeben, brach das Blau-Weiß Bündnis auseinander. Denn Blau-Weiß bestand aus drei Parteien, die jeweils von Benny Gantz, Yair Lapid und Moshe Yaalon geführt werden. Letztere gingen sofort in die Opposition, weigerten sich in eine Koalition mit Netanyahu einzutreten. So konnte Gantz nur noch seine Leute mitnehmen. Doch für Netanyahu reicht das. Er wird jetzt über eine Mehrheit von mindestens 78 Mandaten in der Knesset verfügen.
Will Netanyahu Präsident werden?
Und was bekommt Gantz dafür? Die Zusicherung, dass Netanyahu in 18 Monaten abtritt und er das Amt des Premiers übernimmt. Die Zusicherung, das Außen‑, Verteidigungs- und das Justizministerium zu erhalten. Letzteres ist wichtig, damit der Prozess gegen Netanyahu im Mai beginnen kann. Der Lakai des Premiers, Justizminister Ohana, hat mit Ausbruch der Coronakrise sofort den Prozessbeginn vom 17. März auf den Mai verschieben lassen. Es wird wohl zum Prozess kommen. Aber Netanyahu wird mit Sicherheit nicht verurteilt werden, geschweige denn ins Gefängnis kommen. Warum? Weil in 18 Monaten, genau dann, wenn er sein Amt an Benny Gantz abgeben will, Staatspräsident Reuven Rivlin nach seiner regulären Amtszeit von sieben Jahren abtreten wird. Und so wäre der Weg frei für Netanyahu, Staatspräsident zu werden. Denn dem Staatspräsidenten in Israel ist absolute Immunität zugesichert. Bibi hätte sich nicht nur gerettet, sondern könnte wahrscheinlich auch, nach dem Vorbild Putins, die israelische Politik grundsätzlich verändern. Denn wer möchte schon glauben, dass ein Staatspräsident Netanyahu lediglich repräsentative Pflichten übernimmt? Gantz könnte dann als Premier lediglich Netanyahus „CEO“ sein, wie ein israelischer Journalist schrieb. Nicht mehr, nicht weniger.
Auf dem Weg zur möglichen Präsidentschaft hat Netanyahu gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Denn Edelstein hatte mit seiner aufrichtigen, anständigen, staatsmännischen Haltung das Zeug und die Sympathie vieler, um 2021 Nachfolger Rivlins zu werden. Das ist nun vorbei. Als Handlanger Netanyahus, hat er sich von seinem Boss in die Sackgasse manövrieren lassen. Ein Comeback, noch dazu als Präsident, dürfte ausgeschlossen sein.
Corona als Rechtfertigung für große Koalition
Viele in Israel, die nun schon seit über zwei Wochen wegen Corona in Isolation daheim sitzten, fragen sich entsetzt, was in Benny Gantz gefahren ist. Viele sehen ihn als Verräter an seinen Wählern. Er hat sein Versprechen nicht nur nicht eingehalten, er sorgt jetzt obendrein auch noch dafür, dass Netanyahu unantastbar wird. Warum nur, warum?
Ausgerechnet der schärfste Kritiker Netanyahus, der Journalist Gideon Levy der linksliberalen Tageszeitung „Haaretz“, verteidigt Gantz. Der habe gar keine andere Wahl gehabt. Parteipolitische Überlegungen, der Vorwurf des „Verrats“, all das sei in Zeiten von Corona Schnee von gestern, Unsinn. Die Verkennung der neuen Realität, in der wir alle leben müssen. Wir würden nicht an Netanyahu sterben, sondern an Corona, argumentiert Levy. Insofern müsse jetzt erst einmal dafür gesorgt werden, dass Israel endlich wieder eine legitime Regierung habe, damit man mit vereinten Kräften gegen das Virus kämpfen könne. Gantz, der anständige Soldat, habe sich in den Dienst des Staates, des Volkes, gestellt, um Israel zu retten. Er habe ja auch gewusst, dass er keine Minderheitsregierung zustande bekäme. Was hätte es also genutzt, wenn er weiter gemacht hätte wie geplant? Israels Politik wäre weiter im Patt gewesen, Netanyahu sowieso an der Macht, und anstatt sich auf die Bekämpfung der Pandemie zu konzentrieren, hätten Netanyahu und all die anderen einen großen Teil ihrer Energie für Machtkämpfe verbraucht. All die politischen Fragen könne man nach dem Ende der Pandemie angehen. Jetzt, so Levy, gäbe es andere Prioritäten.
Wahrscheinlich hat Levy sogar recht. Aber was sich in Israel politisch abspielt, ist dennoch ein Lehrbeispiel und eine Warnung für den Rest der Welt in diesen Zeiten von Corona. Denn nun hat sich – während dieser Artikel geschrieben wird – offenbar auch der Führer der Arbeitspartei, Amir Peretz, entschieden, der neuen Koalition beitreten zu wollen. Die Opposition wird kleiner, schwächer, die Regierung stärker, unkontrollierbarer, absoluter.
Ja, Corona ist möglicherweise keine gute Zeit für die Demokratie und den Liberalismus. Sollte die Lage sich weiter verschärfen, könnten Prinzipien, für die wir jahrzehntelang gekämpft haben, schnell über Bord geworfen werden: Datenschutz, Persönlichkeits- und Freiheitsrechte und noch vieles mehr. Und je nachdem, wie die Demokratien in den einzelnen Ländern aufgestellt sind, könnte es bald zu vielen „Demokraturen“ kommen. Und was dann?
Man muss Netanyahu eines lassen: Viel früher als die europäischen Politiker, hat er begriffen, welche Gefahr von dem Virus ausgeht. Er war der erste, der den Luftraum über seinem Land schloss. Menschen, die nach Israel kamen, mussten schön frühzeitig in die 14tägige Quarantäne. So hat Israel einen kleinen Vorsprung vor den europäischen Staaten, auch vor Deutschland möglicherweise gewonnen. Hat Netanyahu Fehler gemacht? Ja, keine Frage. Aus Rücksicht auf seine orthodoxen Koalitionspartner hat er lange gezögert, die Religionsschulen, die Synagogen, die rituellen Tauchbäder zu schließen. Das Ergebnis: in ultraorthodoxen Vierteln und Städten ist die Ansteckungsrate achtmal höher als in säkularen Gebieten, die Krankenhäuser, schon jetzt beinahe am Rande des Zusammenbruchs, werden bald voll sein mit orthodoxen Patienten, die sich um die Anweisungen des Staates nicht kümmerten. Und diejenigen, die seit Wochen in Isolation sitzen und möglicherweise dennoch erkranken, müssen dann sehen, wo sie bleiben.
Das Corona-Virus bedroht unser Leben, es bedroht unsere Wirtschaft, aber es bedroht auch unsere rechtstaatliche Ordnung, die Werte von Demokratie und Liberalismus, von Freiheit und Menschenwürde. Man kann darüber streiten, ob Netanyahu, wie Harari meint, tatsächlich ein Diktator ist. Aber was sich in Israel derzeit politisch abspielt, ist auf alle Fälle ein wichtiger Hinweis darauf, dass unser westliches System wackelt. Schon lange. Und dass das Virus es zu Fall bringen könnte.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.