„Notstandsregierung“: Wird Israel zur illiberalen Demokratie?
In Israel bilden unter dem Eindruck der Coronapandemie ein großer Teil der Opposition und Premier Netanyahu eine „nationale Notstandsregierung“. In seiner Analyse arbeitet Richard Schneider heraus, wie Premier Netanyahu die Krise als Vorwand nutzt, seinen gefährlichsten Kontrahenten auszuschalten und sich selbst vor Strafverfolgung zu schützen. Wird Israel nun zu illiberalen Demokratie?
Nach mehr als einem Jahr hat Israel wieder eine reguläre Regierung: eine Koalition zwischen Premier Netanyahu und dessen Likud, sowie Benny Gantz und dessen Blau-Weiß-Partei. Zusammen mit einigen anderen kleineren, rechtsgerichteten Parteien. Es gibt für den Moment keine vierte Wahl innerhalb von anderthalb Jahren, immerhin. Und Benny Gantz ist mit Sicherheit ein Mann, der eher zur Mitte neigt als die anderen Koalitionspartner Netanyahus, Also alles gut in Israel? Endlich?
Mitnichten. Was man in den letzten Wochen miterleben konnte, hat zwei faszinierende Seiten.
Die eine Seite:
Ist man ein Fan oder zumindest ein Bewunderer von Netanyahu (und das kann man sogar sein, wenn man ein Linker oder Liberaler ist), dann muss man dem Mann einfach geniale Fähigkeiten bescheinigen und anerkennen: zumindest als Taktiker, als Wahlkämpfer, als Stratege ist dieser Mann einzigartig. Eines Tages könnten in den Instituten für Politikwissenschaften Seminare mit dem Titel: „Der Machiavellismus des Benjamin Netanyahu“ angeboten werden.
Benny Gantz: dem Oppositionsführer fehlte das Format
Der bald 71jährige ist schlauer, physisch belastbarer und – ruchloser als jeder andere Politiker in Israel. Von diesem Aspekt aus muss man den Mann bewundern. Er hat etwas Geniales, keine Frage. Und wie er im letzten Wahlkampf, eigentlich aussichtslos gekämpft, wie er nie aufgegeben hat, wie er mit Lügen, Halbwahrheiten, mit Angstmacherei, aber auch mit Humor und großer Geste Wahlkampf machte, und zwar nonstop, das hatte was. Und wer zusah, wie der mehr als zehn Jahre jüngere Gantz mutlos, lustlos seinem Kontrahenten im Wahlkampf hinterherhechelte, fragte sich: Kann der eigentlich Premierminister?
Die andere Seite:
Gantz ist ein Mann, der nicht einmal im Ansatz die Brillanz seines Gegners Netanyahu besitzt. Kein Charisma, keine großen rhetorischen Fähigkeiten, nicht einmal ein ausgearbeitetes politisches Programm. Außer: „Bibi“ muß weg. Korruption muß weg. Ein in drei Fällen wegen Korruption Angeklagter darf nicht im Amt des Premiers verweilen, Demokratie und Anstand müssen bewahrt werden. Eine simple Botschaft. Aber eine gute. Denn unter dem Netanyahu der letzten Jahre hat sich Israel zunehmend in eine Richtung entwickelt, die dessen Buddy, Viktor Orbán einst „illiberale Demokratie“ nannte. Zudem entstand der Eindruck, der Premier nehme das Land in Geiselhaft, um sich vor der Justiz zu schützen. Vor allem, seit Netanyahu wusste, dass er angeklagt wird, hatte er, der seit 2009 ununterbrochen im Amt ist, nur noch ein Ziel: Zu verhindern, ins Gefängnis zu kommen. Koste es, was es wolle.
Gantz und den anderen Oppositionsparteien gelang im März mit der dritten Wahl das Unmögliche: sie hatten in der 120 Sitze zählenden Knesset die Mehrheit mit 61 Mandaten erlangt. Geplant war, sofort ein Gesetz durchzubringen, dass es einem Angeklagten verbieten würde, für das Amt des Premiers überhaupt antreten zu dürfen. Das wäre das endgültige Aus für Netanyahu gewesen. Doch Gantz scherte aus, warf sich Netanyahu an den Hals. Der oberflächliche Grund: Corona. Der naive, inzwischen muss man wohl auch sagen: dumme Novize in der israelischen Politik, dachte wohl ernsthaft, er habe nun die Verpflichtung zu einer nationalen Einheitsregierung. Netanyahu lockte ihn damit. Er rief nach einer großen Koalition, die Coronakrise könne nur gemeinsam überwunden werden, man sei doch ein Volk, es gehe jetzt um mehr als um politische Petitessen, um mehr als politische Gegnerschaft. Gantz fiel darauf herein, obwohl ihn seine beiden Bündnispartner Yaid Lapid und Moshe Yaalon gewarnt hatten. Sie kannten Netanyahu in- und auswendig. Seine Tricks, seine falschen Versprechungen, seine taktischen Manöver, seine inhaltlichen Kehrtwendungen innerhalb von Sekunden. Sie hatten beide unter ihm als Minister gedient, beide waren vom Premier rausgeworfen worden, als es ihm passte.
Warum Netanyahu die neue Regierung prägen wird
Gantz hörte nicht. Und verspielte im Koalitionsvertrag alles, was er eigentlich zunächst in Händen hatte. Ja, der Prozess gegen Netanyahu wird nun stattfinden. Doch Gantz garantiert ihm, daß er diesen Prozess als Premier beginnen darf. 18 Monate wird Netanyahu weiterhin im Prime Minister’s Office in der Balfourstraße in Jerusalem sitzen. Und danach? Wird zwar Gantz Premier, doch Netanyahu wird dann „stellvertretender Premier“ mit einer Sonderklausel für Immunität. Denn in Israel darf nur ein Premier angeklagt sein und im Amt bleiben. Jeder Minister in derselben Situation muss abdanken. Netanyahu wird nicht abdanken müssen. Und er wird mit Sicherheit auch nicht „Stellvertreter“ eines Premiers namens Benny Gantz sein. Denn in dieser Koalition wird der Likud die meisten Abgeordneten in der Koalition stellen. Und so wird der zukünftige Vize-Premier Gantz von hinten lenken. Er hat es ja schon getan: Er bleibt im Amt und Gantz garantiert ihm das. Und er will die Annexion der besetzten Gebiete so schnell wie möglich durchsetzen, zwar in Abstimmung mit den USA, aber dennoch. Und Gantz hat auch hier seine Positionen aufgegeben und zugestimmt. Und selbst bei der Bestimmung der Richter, die Netanyahu allein für sich beanspruchte, hat Gantz jetzt nur scheinbar einen Erfolg erringen können. Zwar sieht es jetzt nach einem fairen Check and Balances zwischen beiden Parteien aus, doch wer das Kleingedruckte liest, begreift schnell: an Netanyahu vorbei wird auch künftig keine einzige Berufung gehen.
Was das alles für Israel bedeutet? Zunächst einmal: Corruption wins. Politische Ethik? Werte? Moralische Ansprüche? Aus und vorbei. Schon lange in Jerusalem, das muss man sagen. Aber nun wohl endgültig. Denn die sogenannten „Gegner“ Netanyahus sitzen nun mit ihm in der Koalition. Nicht nur Blau-Weiß, sondern auch der Führer der Arbeitspartei Amir Peretz zusammen mit einem weiteren Avoda-Abtrünnigen. Der ebenfalls rückgratlose Peretz kann sich nun zumindest damit schmücken, der Totengräber der Partei zu sein, die den Staat Israel gegründet hat. Und dann sind da noch zwei Politiker, die nicht aus ideologischen Gründen, aber aus Wut über die Machenschaften Netanyahus zu Blau-Weiß gegangen sind. Und nun auch in der Koalition sitzen und mindestens ein Ministerium bekommen werden.
Opposition? Ja, die gibt es noch, so ein bisschen: da sind die einstigen Verbündeten von Benny Gantz, Yair Lapid und Moshe Yaalon mit ihren Parteien, denen Gantz das Messer in den Rücken gestoßen hat. Es gibt noch Avigdor Lieberman, der drei Wahlen lang als „Königsmacher“ alle Karten in der Hand, aber sich dann doch verzockt hatte. Es gibt die linksliberale Meretz mit lächerlichen drei Mandaten. Und es gibt die Arabische Vereinte Liste mit 15 Mandaten, die im März auch von vielen linken jüdischen Israelis gewählt wurde, weil sie die einzige Partei ist, der viele Menschen noch vertrauen. Und sie dürfte noch stärker werden. Viele Linke werden in Zukunft „Meschutefet“ wählen, wie die Partei auf Hebräisch heißt. Den „zionistischen“ Oppositionsparteien wird heute weniger denn je vertraut. Und die, die noch existieren, sind sowieso alle rechts.
Das Fazit, das man aus dem Zusammengehen von Opposition und Regierung ziehen muss, bedeutet eine fast tödliche Ohrfeige für die Demokratie, für Ethik und Moral in der Politik. Ein Angeklagter bleibt an der Macht, Versprechungen werden von Politikern im großen Stil gebrochen, das politische System wird weiter ausgehöhlt, die Rechte triumphiert. Der Weg in die illiberale Demokratie mag durch Blau-Weiß ein wenig verlangsamt werden, aufhalten werden Gantz und die Seinen das nicht. Sie sind jetzt Teil des Problems. Machtversessen, ohne Anstand, prinzipienlos. Und das alles mit dem Feigenblatt „Corona“. Denn man müsse nun gemeinsam das Volk retten. Ja, die Israelis werden wohl vor dem Virus gerettet werden, die Demokratie Israels wird aber weiter vor sich hinsiechen. Will sie überleben, muss sie wohl auf ein Wunder hoffen.
Hoffnung haben nun viele Israelis nur noch in Rivkah Fridman-Feldman. Sie wird die vorsitzende Richterin im Prozess gegen Netanyahu sein. Sie hatte schon einmal einen israelischen Premier wegen Korruption verurteilt: Ehud Olmert. Sie gilt als unbestechlich, fair und hart. Doch auch sie wird nicht verhindern können, dass Netanyahu noch lange im Amt bleibt. Der Prozess wird sich jahrelang hinziehen. Und selbst wenn der Premier verurteilt würde – er wird in die Berufung gehen. Und dann dauert es möglicherweise wiederum Jahre, bis ein endgültiges Urteil steht.
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