Schocktherapie: Frankreich vor den Neuwahlen
Mit der Auflösung der Nationalversammlung am Abend der Europawahlen hat ein ausgelaugter Präsident seiner erschöpften Republik eine Schocktherapie verordnet. Die Heilungschancen sind indes gering. Ein Kommentar von Albrecht Sonntag.
Die Ankündigung der Neuwahlen kam aus heiterem Himmel. Überraschend war sie nicht. Schon im Juli 2022, in den ersten Tagen der neugewählten Nationalversammlung, zeichnete sich ein blockiertes Parlament ab, das entweder lernen würde, ad-hoc Koalitionen zu schmieden und Kompromisse einzugehen – oder irgendwann aufgelöst werden würde.
Das Parlament: hoffnungslos blockiert
Zwei Jahre später zeigt sich, dass das „Lernziel Kompromissbereitschaft“ meilenweit verfehlt wurde. Die parlamentarische Arbeit war geprägt von einer massiven Verweigerungshaltung aller Oppositionen und einem Umgangston, insbesondere gegenüber der Regierungspartei, der mit dem Adjektiv „hasserfüllt“ durchaus zutreffend umschrieben ist.
Mehr als zwanzig Mal war Premierministerin Elisabeth Borne darauf angewiesen, mit Hilfe des umstrittenen Verfassungsartikel 49.3 einer Abstimmung aus dem Weg zu gehen. Ebenso systematisch wie theatralisch wurde ihr daraufhin ein Misstrauensvotum entgegengesetzt, das angesichts der Mehrheitsverhältnisse jedoch keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte.
Macrons „Klärung der Lage“ ist ungewiss
Wer sich nun von den Neuwahlen die von Emmanuel Macron ausgerufene „Klärung der Lage“ erhofft, wird aller Voraussicht nach enttäuscht. Aus den 31,4 Prozent der Stimmen, die der rechtsextreme Rassemblement National (RN) bei den Europawahlen erhielt und den 35 Prozent, die ihm von den jetzt hektisch durchgeführten Umfragen zugeschrieben werden, lässt sich keineswegs eine verlässliche Projektion der Sitzverteilung im kommenden Parlament ableiten. Durch das Mehrheitswahlrecht finden an den kommenden Sonntagen 577 Wahlen statt, und dabei müssen die für eine absolute Mehrheit nötigen 289 Wahlkreise erst einmal gewonnen werden. Zur Erinnerung: 2022 eroberte der RN 88 Sitze, damals ein unerwartetes Rekordergebnis.
Die kommenden Wahlergebnisse: unvorhersehbar
Weitere Ungewissheiten machen eine halbwegs verlässliche Vorhersage schlicht unmöglich. Niemand ist in der Lage, abzuschätzen, ob das rechtsextreme Bündnis aus RN und opportunistischen Last-minute-Überläufern seine maximale Mobilisierungskapazität schon ausgereizt hat. Keiner weiß genau, wie stark die Wahlbeteiligung zwischen dem 9. und dem 30. Juni zulegen wird. 51,5 Prozent waren es bei den Europawahlen, aber das Gefühl, jetzt einer Art Schicksalswahl beizuwohnen, wird wohl ein stark mobilisierender Faktor sein.
Die Wahlbeteiligung könnte stark steigen
Ein Indiz dafür: innerhalb von nur zehn Tagen wurden anderthalb Millionen Anträge auf eine „Bevollmächtigung eines Stellvertreters“ („procuration“) gestellt, eine recht umständliche Prozedur, die eine Teilnahme in physischer Abwesenheit vom Wohnort ermöglicht. Die Möglichkeit zur Briefwahl existiert nach wir vor nur für die Auslandsfranzosen in aller Welt; übrigens immerhin elf Wahlkreise mit 1,7 Millionen eingeschriebenen Wählern, die 2022 durch die Bank an Macrons Lager gingen. Sollte die Wahlbeteiligung, wie von manchen Umfragen suggeriert, 65 Prozent erreichen, würde das im Vergleich zu den Europawahlen über sieben Millionen zusätzliche Wählerstimmen bedeuten.
Bollwerk gegen den Rassemblement National?
Neben der Mobilisierung von Nichtwählern hat eine hohe Beteiligung auch einen sehr konkreten Nebeneffekt, wenn es darum geht, sich für die Stichwahl am zweiten Wahlsonntag zu qualifizieren. Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu „triangulären“ Konstellationen mit drei Kandidaten in der Stichwahl kommt. Denn jeder Kandidat, der wenigstens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten (nicht der effektiv abgegebenen Stimmen!) auf sich vereint, kann an der Stichwahl teilnehmen.
Oder aber er zieht sich zugunsten eines Konkurrenten zurück, um einem RN-Kandidaten die Stimmenmehrheit zu verwehren. Diese Option wurde in der Vergangenheit als „front républicain“ bezeichnet. Ob dieses Bollwerk allerdings heute noch hält, ist eine andere Frage. Das Verhalten der Drittplatzierten wird ganz entscheidend von den lokalen Verhältnissen und den zur Wahl stehenden Persönlichkeiten abhängen.
Im undurchsichtigen Chaos dieses Blitz-Wahlkampfs sollte man also Prognosen aller Art sehr vorsichtig gegenüberstehen. Einige Konturen der neuen Parteienlandschaft zeichnen sich allerdings schon im Vorfeld ab.
Die neue Parteienlandschaft: die Mitte bröckelt
Was sich ankündigt, ist ein Parlament, in dem sich auch in den kommenden Monaten unversöhnliche Blöcke ohne klare Mehrheit gegenüberstehen. Dem Rassemblement National, der sich im Verlauf seiner gelungenen „Normalisierung“ einen Teil der gaullistisch-konservativen Rechten einverleibt hat, steht auf der Linken ein in Rekordzeit aus dem Boden gestampftes Bündnis, die „Neue Volksfront“ (Nouveau Front Populaire) gegenüber.
Nouveau Front Populaire: neues Bündnis der linken Parteien
Die Attraktivität dieses Etiketts, gewählt in Anlehnung an die ebenso kurzlebige wie in der Erinnerung verklärte „Front Populaire“-Regierung unter Léon Blum in den 30er Jahren, und die überraschende Schnelligkeit, mit der die Koalition auf die Beine gestellt wurde, haben dem Bündnis tatsächlich eine gewisse Dynamik verliehen. Es sollte in der Lage sein, nicht nur die traditionellen Hochburgen der Linken zu verteidigen, sondern auch eine Reihe von umkämpften Wahlkreisen zu gewinnen. Welches Haltbarkeitsdatum dieses Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen und den Radikal-Linken der nach wie vor von Jean-Luc Mélenchon dominierten France Insoumise (FI) besitzt, steht allerdings in den Sternen. Zu sehr hat sich FI in weiten Kreisen der Wählerschaft durch unanständige Rhetorik im Parlament und krassen Antisemitismus diskreditiert.
Wie viel Platz bleibt zwischen den Polen für die liberale Mitte?
Wie viel Platz wird zwischen den beiden Polen für die liberale Mitte bleiben, die unter Emmanuel Macron 2017 triumphal die Mehrheit an sich riss und auch nach fünf Jahren in Regierungsverantwortung immerhin noch mehr als 40 Prozent der Sitze im Parlament verteidigte? Der für französische Verhältnisse erstaunlich langlebige Sockel der Wählerschaft Macrons bröckelt nun: von knapp dreißig Prozent der Wählerschaft ist er auf unter zwanzig Prozent zusammengeschrumpft. Auch hier gilt jedoch: die Anzahl der Sitze des „Ensemble pour la République“ genannten Bündnisses wird stark von lokalen Bedingungen und Persönlichkeiten abhängen. Die Herausforderer sollten sich nicht darauf verlassen, dass deren Abgeordnete wegen der allgemeinen Unzufriedenheit durch die Bank abgewatscht werden. Genauso wenig wie Macron mit einem massiven spontanen Aufstand „gegen die Extreme“ rechnen sollte.
Eine Regierung ohne absolute Mehrheit wird zum Scheitern verurteilt sein
Drei große Blöcke ohne deutliche Mehrheit, dazu ein paar Dutzend „Republikaner“, die sich der Radikalisierung ihrer Partei beharrlich verweigern und verzweifelt auf eine Rolle als „Zünglein an der Waage“ hoffen – keine vielversprechende Perspektive für ein Parlament, das an Koalitionen nicht gewohnt ist. Und dem Präsidenten steht eine außergewöhnlich heikle Regierungsbildung ins Haus. Die Szenarien sind vielfältig. Sicher ist nur, dass eine Regierung ohne absolute Mehrheit zum Scheitern verdammt ist – was den Spitzenkandidaten des Rassemblement National, den 28-jährigen Jordan Bardella, schon dazu bewogen hat, den Posten des Premierministers im Falle einer nur relativen Mehrheit abzulehnen.
Auf der linken Seite hält man sich bedeckt, die Benennung eines möglichen Regierungschefs ist zu explosiv für das fragile Bündnis. Womöglich bietet Emmanuel Macron den Franzosen eine Art neutrale, technokratische Experten-Regierung an, ähnlich derer, die Mario Draghi in Italien anführte. Zur Erinnerung: in Italien war der triumphale Sieger bei der Wahl danach die einzige Partei, die der Regierung konsequent die Unterstützung verweigerte: Giorgia Melonis Fratelli d’Italia.
Keine Regierung zu berufen, sondern gleich noch einmal Neuwahlen anzusetzen, ist hingegen keine Option, dies verbietet die Konstitution der Fünften Republik. Mindestens ein Jahr muss der Präsident mit den Wahlergebnissen leben, ob sie ihm gefallen oder nicht.
Der Präsident: von der Verfassung geschützt und geschwächt
Die Option einer Abdankung des Präsidenten im Falle einer gar zu schlimmen Niederlage seines Bündnisses der Mitte hat Emmanuel Macron schon offiziell ausgeschlossen. Er will auf jeden Fall bis Mitte 2027 im Amt bleiben. Im Falle einer Kohabitation mit einem ihm feindlich gesinnten Premierminister wird seine Machtfülle allerdings deutlich eingeschränkt werden.
Der präsidiale Pomp der Fünften Republik bringt auswärtige Beobachter oft dazu, die tatsächliche Macht des Staatsoberhaupts zu überschätzen. Die Beispiele der Vergangenheit zeigen, wie schnell der Präsident sich in eine „lahme Ente“ verwandelt. Denn die Verfassung verleiht die politische Gestaltungshoheit eindeutig dem Premierminister.
In den 80er Jahren bewahrte François Mitterrand gegenüber Jacques Chirac zwar eine an Arroganz grenzende intellektuelle Überlegenheit, was die rechte Regierung allerdings keineswegs daran hinderte, ihre Agenda durchzuziehen. Und die fünf Jahre mit Lionel Jospin als Premierminister (1997–2002) waren eine Qual für denselben Jacques Chirac, der ohne Not Neuwahlen ausgerufen hatte, um seine eigentlich komfortable Mehrheit noch zu erhöhen. Jospin erzwang sogar Mitspracherecht in europäischen Fragen, was zu einer irritierenden Doppelpräsenz im Europäischen Rat führte.
Eine neuerliche Kohabitation wäre mit Sicherheit einer schlüssigen Antwort auf die drängenden Fragen der europäischen Agenda abträglich, insbesondere, was die Unterstützung der Ukraine betrifft.
Macron steht vor dem Trümmerhaufen seiner „Revolution“
Emmanuel Macron steht heute vor dem Trümmerhaufen seiner „Revolution“, um den Titel seines programmatischen Buches aus dem Jahr 2016 aufzugreifen. Ausgezogen, um dem abgenutzten Rechts-Links-Antagonismus eine parteienübergreifende, die Zivilgesellschaft mobilisierende Alternative entgegenzusetzen, muss er jetzt zusehen, wie die alte Welt als Bumerang zurückkommt, radikaler, aggressiver und auf bedrückende Weise polarisierter als zuvor.
Eine Alleinschuld an diesem Abrutschen der politischen Kultur Frankreichs trägt er nicht. Auch muss man ihm zugutehalten, dass seine bisherige Amtszeit von eruptiven Krisen gebeutelt war, für die er nicht unbedingt verantwortlich war und die er eher gut gemeistert hat.
Dennoch muss man ihm eine Reihe von Fehlern ankreiden. Er hat der fünften Republik nicht die dringend nötige Erneuerung verpasst, als er die Gelegenheit dazu hatte. Er hat es nicht geschafft, seine selbstverliebte Besserwisserei, die er gar nicht nötig gehabt hätte, abzulegen. Und er hat sich entgegen den Erwartungen von dem unheilvollen Hofstaat des Elysee-Palasts vereinnahmen lassen. Liest man bei Solenn de Royer oder Ariane Chemin nach, wie es genau zur Auflösung und zu den Neuwahlen kam, bleibt der verstörende Eindruck einer sich an bonapartistischen Gesten berauschenden Männer-Clique aus dubiosen Gestalten, die tatsächlich das Ohr des Präsidenten haben.
Das Land: verunsichert und gespalten
Was darf Frankreich von den nächsten drei Jahren bis zu den Präsidentschaftswahlen erwarten? Ganz egal, ob der Rassemblement National tatsächlich eine Mehrheit erzielt und in eine Kohabitation einzieht, oder ob die republikanischen Kräfte sich einer solchen Mehrheit erfolgreich widersetzen, man darf davon ausgehen, dass die Nationalpopulisten konsequent an einem „Verhinderungsnarrativ“ arbeiten werden, demzufolge der Wille des Volkes von einer korrupten Eliten-Kaste aus Richtern, Beamten und Medienvertretern mit Füßen getreten wird.
Im Moment möchte man noch daran glauben, dass die Mehrheit der französischen Gesellschaft dieser Rhetorik noch nicht erlegen ist. Dank der von Emmanuel Macron jetzt verordneten Schocktherapie wird zumindest Klarheit darüber bestehen, ob diese Annahme im Sommer 2024 noch Bestand hat – oder als Wunschdenken zu den Akten gelegt werden kann.
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