Ein Jahr nach den Protesten – was hat Russland mit Belarus vor?

Foto: Shutter­stock, Mikel Dabbah

Vor einem Jahr begannen die Proteste gegen die Wahlfäl­schungen in Belarus. Dikator Lukaschenka antwortete mit einer Welle harter staat­licher Gewalt, was dazu führte, dass das Land inter­na­tional weiter isoliert und sanktio­niert wurde. Es hängt nun völlig von Russland ab – doch ist fraglich, ob der Kreml abgesehen von symbol­po­li­ti­schen Aktionen eine echte Integration anstrebt, analy­siert Artyom Shraibman.

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Die politische Krise in Belarus war zwar zunächst ein innen­po­li­ti­sches Phänomen, hatte jedoch tiefgrei­fende außen­po­li­tische Folgen für Minsk. Nach den brutalen Repres­sionen Aljaksandr Lukaschenkas innerhalb des Landes und einer Reihe von konfron­ta­tiven außen­po­li­ti­schen Maßnahmen, die in der erzwun­genen Landung des Ryannair-Fluges zur Verhaftung eines opposi­tio­nellen Bloggers gipfelten, schlug der Westen mit vielschich­tigen Sanktionen zurück.

Erwar­tungs­gemäß wandte sich Lukaschenka an Russland und bat um Unter­stützung, die er bis zu einem gewissen Grad auch bekam. Nur wenige Wochen nach dem Ausbruch der Proteste in Belarus unter­stützte Wladimir Putin Lukaschenka und erklärte sich bereit, „falls erfor­derlich“ russische Wachpo­li­zisten in Belarus zu statio­nieren und Minsk ein neues Darlehen in Höhe von 1,5 Mrd. USD zu gewähren. Nachdem die EU im Juni 2021 sektorale Sanktionen gegen Minsk verhängt hatte, versprach Moskau Belarus zusätz­liche Unterstützung.

Kommt die Einglie­derung in die Russische Föderation?

Beobachter, die bereits 2019, als beide Seiten über eine tiefere Integration disku­tierten, eine Einglie­derung von Belarus in die Russische Föderation vorher­sagten, sind sich nun noch sicherer, dass diese Fusion unver­meidlich ist. Doch trotz des objektiv wachsenden wirtschaft­lichen und politi­schen Einflusses auf Belarus scheint Moskau weder viele echte Zugeständ­nisse von Lukaschenka zu erhalten, noch ihm große zusätz­liche Unter­stützung zu gewähren.

Die Tarife für Öl und Gas aus der Zeit vor 2020 bleiben unver­ändert, obwohl Minsk beide als ungerecht empfindet. Der Gaspreis von etwa 130 $ pro 1000 m3 ist relativ niedrig, aber Lukaschenka bestand darauf, dass er genauso wenig wie die benach­barten russi­schen Regionen zahlen sollte. Russland hingegen weigert sich nach wie vor, weitere Rabatte zu gewähren. Was das Öl betrifft, so werden durch das russische „Steuer­ma­növer“, das Mitte der 2010er Jahre begann, die belarus­si­schen Gewinne aus den zollfreien Liefe­rungen von russi­schem Rohöl jedes Jahr weiter gekürzt. Minsk fordert seit mehreren Jahren eine Entschä­digung, doch Moskau weigert sich und knüpft diese Frage an eine tiefere wirtschaft­liche Integration. Die politische Krise in Belarus hat sich also nicht auf den wichtigsten und sensi­belsten Bereich der Bezie­hungen zwischen Minsk und Moskau ausge­wirkt – die Energiepolitik.

Etappenziel Unter­zeich­nungs­ze­re­monie

Auch im Bereich der Sicherheit wurden keine ernst­haften Zugeständ­nisse gemacht. Lukaschenka stimmte zwar einem gemein­samen belarus­sisch-russi­schen Militär­aus­bil­dungs­zentrum im Westen Belarus‘ zu, hat aber keine neue dauer­hafte Statio­nierung russi­scher Truppen im Lande zugelassen. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass Moskau derzeit derartige Zugeständ­nisse von Minsk fordert.

Die Integration im so genannten „Unions­staat“ bleibt das zentrale Thema des Dialogs zwischen den beiden Regie­rungen. Nach Angaben von Beamten beider Seiten haben sie das Paket von 28 Integra­ti­ons­fahr­plänen fast fertig­ge­stellt. Berichten zufolge sollen die Dokumente im Herbst unter­zeichnet werden, wenn Lukaschenka und Putin einen weiteren bilate­ralen Gipfel abhalten wollen. Unklar ist, auf welche Kompro­misse sie sich in den heikelsten Bereichen wie Steuern, Zölle und Energie­märkte zu einigen bereit sind. Vor zwei Jahren war der Prozess genau wegen dieser Unstim­mig­keiten ins Stocken geraten.

Dennoch scheint die Unter­zeich­nungs­ze­re­monie jetzt wahrschein­licher als noch 2019, als Lukaschenka die Gespräche torpe­dierte, indem er die russi­schen Forde­rungen einfach ablehnte. Im Jahr 2021 kann er es sich nicht mehr leisten, die Tür zuzuschlagen.

Papier ist geduldig

Da wir jedoch die bürokra­tische Tradition der belarus­sisch-russi­schen Integration kennen, bedeutet die Unter­zeichnung der Dokumente an sich noch nicht, dass sie auch umgesetzt werden – weder sofort noch überhaupt. Der Vertrag über den Unions­staat beispiels­weise wurde 1999 unter­zeichnet und ist nach wie vor weitgehend ein symbo­li­sches Papier.

Mit den derzeit disku­tierten Fahrplänen wird Moskau nach der Unter­zeichnung der Dokumente auch formal keine neuen Befug­nisse gegenüber Belarus erhalten. Die wichtigsten Fahrpläne des Integra­ti­ons­pakets (einheit­liches Steuer­recht und Energie) sollen innerhalb von 1–2 Jahren nach ihrer Annahme in Kraft treten. Der Abschluss der Verhand­lungen über diese Fahrpläne ist nicht das Ende der Verhand­lungen, sondern lediglich der Beginn einer neuen Phase.

Priorität Nord Stream 2

Die Rhetorik der Kreml-Vertreter in dieser Frage seit Anfang des Jahres deutet ebenfalls darauf hin, dass es Moskau nicht eilig hat. Wahrscheinlich ist sich die russische Führung darüber im Klaren, dass Lukaschenka seine innen­po­li­tische Krise noch nicht überwunden hat, während seine inter­na­tionale Toxizität weiterhin zunimmt. Ihn zur Unter­zeichnung und sofor­tigen Umsetzung ehrgei­ziger Integra­ti­ons­ver­ein­ba­rungen zu zwingen, kann zu einem inter­na­tio­nalen Aufschrei und zu Sanktionen gegen Russland sowie zu einer innen­po­li­ti­schen Desta­bi­li­sierung in Belarus führen, da die Mehrheit der Belarussen allen verfüg­baren Umfragen zufolge die Idee einer tieferen politi­schen Union mit Russland ablehnt.

Diese Probleme künstlich anzuheizen, kann der Kreml jetzt nicht gebrauchen. Innen­po­li­tisch sind alle Augen darauf gerichtet, politische Risiken im Vorfeld der Dumawahlen auszu­schalten. Auf inter­na­tio­naler Ebene könnte eine weitere Eskalation des Konflikts mit dem Westen über Belarus die Aussichten auf einen Dialog mit den USA nach Genf zunichte machen und mögli­cher­weise Probleme für den Start von Nord Stream 2 schaffen.

Außerdem ist nicht klar, welchen innen­po­li­ti­schen Nutzen Putin daraus ziehen kann, Minsk die russische Vision von Integration (d.h. Einglie­derung) aufzu­zwingen. Die belarus­sische Frage ist bei weitem nicht die wichtigste für die russische Öffent­lichkeit. Alle in den letzten Jahren in Russland durch­ge­führten Umfragen zeigen, dass die Russen ebenso wie die Belarussen mit dem Status quo der Integration zufrieden sind. Nur weniger als 20 % von ihnen wünschen sich eine Verschmelzung der beiden Länder, und etwa die gleiche Anzahl der Befragten wünscht sich eine Vertiefung der Integration.  [1][2]

Lukaschenka alter­na­tivlos für Putin

Wenn Russland Belarus zu seiner Provinz machen wollte, müsste es einen Plan für den Fall haben, dass Lukaschenka sich weigert, Zugeständ­nisse zu machen. Moskau hat viele wirtschaft­liche, politische und militä­rische Hebel in der Hand, aber es zögert, sie einzu­setzen. Russland verfügt nicht über die wichtigste Zutat für eine solche Zwangs­maß­nahme – es hat keine Alter­native zu Lukaschenka. Es gibt in Belarus keine offen­sicht­liche Kraft, auf die Moskau setzen könnte, und geheime Gespräche mit hochran­gigen belarus­si­schen Beamten sind ein sehr riskantes Unterfangen.

Außerdem ist niemand besser als Lukaschenka in der Lage, Belarus vom Westen zu entfremden. In dieser Hinsicht ist es in den Augen Putins riskant, extremen Druck auf ihn auszuüben. Er kann es sich nicht leisten, Belarus eigen­händig zu desta­bi­li­sieren, weil er befürchtet, dass jede Revolte antirus­sische Kräfte an die Spitze bringen könnte, während Lukaschenka ein mehr oder weniger berechen­barer Partner ist. Es gibt nicht einmal offen­sicht­liche russische Bemühungen, eine parallele politische Infra­struktur in Belarus aufzubauen.

Aufgrund all dieser Sachzwänge verfügt Russland derzeit über keine proaktive Strategie gegenüber Belarus. Moskau unter­nimmt weder allzu große Anstren­gungen, um die Integration zu beschleu­nigen, noch ist es bereit, Lukaschenka üppige Subven­tionen zu gewähren. Die russische Politik gegenüber Belarus ist reaktiv – bis aus Minsk neues Kopfzer­brechen kommt, schwimmt Moskau mit dem Strom und gibt Lukaschenka gerade genug Kredite, um ihn nicht bankrott gehen zu lassen.

Das Einzige, was Moskau offenbar hinter den Kulissen tut, ist, Lukaschenka zu einer kontrol­lierten politi­schen Reform zu drängen. Da sich Minsk so schnell vom Westen isoliert, glaubt die russische Führung, dass sie am besten in der Lage sein wird, den Ausgang des Macht­wechsels zu kontrol­lieren, wenn Lukaschenka endlich bereit ist zu gehen. Was aber, wenn er sich entscheidet zu bleiben? Es gibt keine Hinweise darauf, dass Moskau dafür einen Plan hat.

[1] https://www.levada.ru/2020/09/17/pochti-chetvert-grazhdan-podderzhivayut-ideyu-obedineniya-s-belorussiej/

[2] https://wciom.ru/analytical-reviews/analiticheskii-obzor/belorussiya-rossiya-coyuznoe-gosudarstvo

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